BGH,
Beschl. v. 5.3.2008 - 1 StR 648/07
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 648/07
vom
5.3.2008
BGHSt: nein
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
__________________________
StPO §§ 244, 246a, 261
Ein Rechtssatz des Inhalts, dass der Tatrichter in Kapitalstrafsachen
aus Gründen der Aufklärungspflicht stets gehalten
ist, einen Sachverständigen mit der Erstattung eines
Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen, existiert nicht.
Das Revisionsgericht kann vielmehr regelmäßig davon
ausgehen, dass der Tatrichter über die notwendige Sachkunde
verfügt, um zu beurteilen, ob mit Blick auf das Tatbild und
die Person des Angeklagten die Hinzuziehung eines
Schuldfähigkeitsgutachters geboten ist.
BGH, Beschl. vom 5.3.2008 - 1 StR 648/07 - LG Ulm
in der Strafsache
gegen
- 2 -
1.
2.
3.
wegen versuchten Mordes u.a.
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 5.3.2008 beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ulm
vom 12. September 2007 werden als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen
versuchten Mordes in sieben Fällen in Tateinheit mit
versuchter schwerer Brandstiftung zu Jugendstrafen von vier Jahren und
drei Monaten beziehungsweise fünf Jahren verurteilt. Die auf
die Verletzung förmlichen und sachlichen Rechts
gestützten Revisionen der Angeklagten bleiben ohne Erfolg.
1
I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
2
Die drei Angeklagten im Alter von 19 Jahren und zehn Monaten, 20 Jahren
und zwei Monaten sowie 20 Jahren und zehn Monaten bauten unter
Anleitung des Mitangeklagten D. sechs Molotowcocktails und warfen diese
in der Nacht auf den 21. März 2007 auf ein frei stehendes
Gebäude in Göppingen.
3
- 4 -
Die Angeklagten wollten als türkische Staatsbürger
kurdischer Herkunft mit dem Anschlag auf das Gebäude, welches
vom „türkischen Idealistenverein“ genutzt
wird, ein politisches Signal setzen. In dem Gebäude wird unter
anderem ein Gebetsraum unterhalten, es dient aber auch dem Ehepaar U.
mit drei Kindern im Alter von 16 bis 20 Jahren sowie dem Vorstand des
Vereins T. als Wohnung. Zum Zeitpunkt des Anschlags waren alle sechs
Bewohner sowie ein Gast in dem Gebäude. Die Angeklagten warfen
die Brandsätze auf die Fenster des Gebäudes, wobei
jedoch nur ein Molotowcocktail ein Fenster durchschlug und ins Innere
gelangte. Er zerbarst mit einer Stichflamme in dem Raum. Die
Angeklagten liefen daraufhin weg. Einer der Bewohner wachte durch das
Klirren der Scheibe auf, weckte die anderen Bewohner, und gemeinsam
gelang es ihnen, das entstandene Feuer zu löschen.
Das Landgericht hat festgestellt, dass die Angeklagten wussten, dass
Personen in dem Haus schliefen, welche nicht mit einem Brandanschlag
rechneten, was ihnen aber gleichgültig war. Es hat die Tat als
heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen
begangenen versuchten Mord in sieben tateinheitlich begangenen
Fällen sowie als ebenfalls tateinheitlich begangene versuchte
schwere Brandstiftung bewertet.
4
II.
Die Revisionen bleiben aus den in den Antragsschriften des
Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen ohne Erfolg
(§ 349 Abs. 2 StPO).
5
Einzugehen ist vorliegend allein auf die Revisionsrüge,
hinsichtlich der Frage der Schuldfähigkeit habe das Gericht
sich nicht auf eigene Sachkunde berufen dürfen, vielmehr sei
die Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens
erforderlich gewesen. Auch diese Rüge dringt nicht durch.
6
- 5 -
Das Landgericht war aus Gründen der
Aufklärungspflicht nicht gehalten, einen
Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit der
Angeklagten - "bei Begehung der Tat" (vgl.
Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß NStZ 2005, 57, 58) - zu
hören. Ein Rechtssatz des Inhalts, dass der Tatrichter in
Kapitalstrafsachen, zumal im Bereich der Anwendbarkeit von
Jugendstrafrecht, aus Gründen der Aufklärungspflicht
stets gehalten ist, einen Sachverständigen mit der Erstattung
eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen, existiert
nicht (BGH NJW 2007, 2501, 2503 f.). Unabhängig von den
Umständen des Einzelfalles ist nach gesetzlicher Wertung
(§ 246a StPO) ein Sachverständiger nur dann stets
heranzuziehen, wenn bestimmte Maßregeln der Besserung und
Sicherung im Raum stehen, nicht schon bei bestimmten
Anklagevorwürfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den
Beschlüssen des BGH vom 30. August 2007 (5 StR 193/07, 5 StR
197/07). Maßgeblich sind auch bei Kapitalstrafsachen vielmehr
stets die Umstände des Einzelfalles. Namentlich dann, wenn dem
Tatentschluss - und sei er auch spontan gefasst - rationale
Abwägungen zugrunde liegen und wenn dieser Entschluss auch die
nahe liegenden Tatfolgen mit umfasst, ist der Tatrichter nicht
gedrängt, die Voraussetzungen der §§ 20, 21
StGB durch Beauftragung eines Sachverständigen zu
überprüfen. Das Revisionsgericht kann vielmehr
regelmäßig davon ausgehen, dass der Tatrichter
über die notwendige Sachkunde verfügt, um zu
beurteilen, ob mit Blick auf das Tatbild und die Person eines
Angeklagten die Hinzuziehung eines psychiatrischen oder psychologischen
Sachverständigen zur Frage der Schuldfähigkeit
geboten ist.
7
- 6 -
Nach diesen Maßstäben sind die auf die Hinzuziehung
eines Sachverständigen abzielenden Beanstandungen der
Revisionen unbegründet.
8
Nack Wahl Boetticher
Graf Sander |