BGH,
Beschl. v. 6.8.2004 - 2 StR 523/03
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 523/03
vom
6. August 2004
in dem Bußgeldverfahren
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
OWiG § 77 b Abs. 1 Satz 3; GVG § 121 Abs. 2
Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beginnt für den
bei der Urteils-
verkündung abwesenden Betroffenen auch dann mit der Zustellung
des Urteils,
wenn dieses nicht mit Gründen versehen ist und die
Voraussetzungen des
§ 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG nicht vorlagen.
BGH, Beschluß vom 6. August 2004 - 2 StR 523/03 - OLG Koblenz
- 2 -
wegen Verkehrsor dnungswidrigkeit
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs als Senat für
Bußgeldsachen hat auf
Vorlagebeschluß des Oberlandesgerichts Koblenz vom 2.
Dezember 2003
- 2 Ss 245/03 - am 6. August 2004 beschlossen:
Die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde beginnt für den
bei
der Ur teilsverkündung abwesenden Betroffenen auch dann mit
der Zustellung des Urteils, wenn das Urteil nicht mit Gründen
ver-
sehen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3
OWiG nicht vorlagen.
Gründe:
I.
1. Der Betroffene wurde durch das Amtsgericht Linz am Rhein am
27. Mai 2003 wegen Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit
außeror ts um 65 km/h zu einer Geldbuße von 400
€
verurte ilt. Daneben wurde
ein Fahrverbot von zwei Monaten angeordnet. An der Hauptverhandlung
hatten
weder der von der Anwesenheitspflicht gemäß
§ 73 Abs. 2 OWiG entbundene
Betroffene noch ein Verteidiger teilgenommen. Das Urteil, das keine
Gründe
enthielt, wur de dem Betroffenen am 31. Mai 2003 zugestellt. Hiergegen
legte er
dur ch seinen Verteidiger am 1. Juli 2003 Rechtsbeschwerde ein, die er
mit am
21. Juli 2003 bei dem Amtsgericht eingegangenem Schriftsatz
begründet hat.
Das Amtsgericht Linz ver warf die Rechtsbeschwerde am 28. Juli 2003 als
un-
zulässig, weil sie verspätet eingelegt worden sei.
Die Frist zur Einlegung des
Rechtsmittels habe mit der Zustellung des Ur teils am 31. Mai 2003
begonnen.
Von einer schriftlichen Begründung des Urteils habe nach
§ 77 b Abs. 1 Satz 1
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OWiG abgesehen werden können, weil innerhalb der Fr ist keine
Rechtsbe-
schwerde eingelegt worden sei. Hiergegen beantragte die Verteidigung
mit am
8. August 2003 eingegangenem Schriftsatz gemäß
§ 346 Abs. 2 StPO i.V.m.
§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Entscheidung des
Rechtsbeschwerdeger ichts.
2. Das zur Entscheidung berufene Oberlandesgericht Koblenz
hält die
Rechtsbeschwerde für zulässig und beabsichtigt, den
Beschluß des Amtsge-
richts Linz am Rhein vom 28. Juli 2003 auf den Antrag des Betroffenen
aufzu-
heben, weil die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels durch die
Zustellung des
fehler haft nicht mit Gründen versehenen Urteils am 31. Mai
2003 nicht in Gang
gesetzt worden sei. Die Voraussetzungen, bei denen nach § 77 b
Abs. 1 OWiG
von der schriftlichen Begründung eines im Ordnungswidr
igkeitenverfahren er-
gangenen Urteils abgesehen werden könne, hätten nicht
vorgelegen. Da - wie
im Strafverfahren allgemein anerkannt sei - bei einem in Abwesenheit
des An-
fechtungsberechtigten verkündeten Urteil nur die Zustellung
eines vollständi-
gen, d.h. eines auch mit Gründen versehenen Urteils die
Einlegungsfrist in
Lauf setze, liege eine wirksame Zustellung bisher nicht vor. Das
Amtsgericht
könne allerdings das Urteil nachträglich
begründen und das begründete Urteil
zustellen und damit die Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist in Lauf setzen.
Aller-
dings könnten die nachgeschobenen Urteilsgründe im
Rechtsbeschwerdever-
fahren im übr igen - also bei der
Überprüfung des Urteils auf die
Begründetheit
der Rechtsbeschwerde - keine Berücksichtigung finden.
An der beabsichtigten Entscheidung sieht sich das Oberlandesgericht
dur ch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Jena vom 30. Juni 2003
(1 Ws 30/03, NStZ-RR 2003, 273) gehindert. Dieses ist bei einer
Entscheidung
über die Wieder einsetzung in den vorigen Stand nach
Versäumung der
Rechtsbeschwerdebegr ündungsfrist davon ausgegangen,
daß auch die Zustel-
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lung eines unzulässig abgekürzten Urteils
für den Betroffenen die Frist zur Ein-
legung der Rechtsbeschwerde und dadurch mittelbar auch die sich an die
Ein-
legungsfrist anschließende Monatsfrist zur
Begründung der Rechtsbeschwerde
(§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 345 Abs. 1 Satz 1
StPO) in Lauf setze.
Das Oberlandesgericht Koblenz hat deshalb die Sache
gemäß §§ 79
Abs. 3 Satz 1 OWiG, 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof zur Entschei-
dung und Beantwortung der Rechtsfrage vorgelegt:
"Beginnt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde für den
Betroffe-
nen mit der Zustellung eines nicht mit Gründen versehenen
Urteils, wenn das
Urteil gemäß § 74 Abs. 1 StPO (gemeint:
OWiG) in seiner Abwesenheit ergan-
gen ist und die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG
nicht vorlie-
gen?"
3. Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu
beschließen:
"Ist das Urteil gemäß § 74 Abs. 1 OWiG in
Abwesenheit des Betroffenen
ergangen und liegen die Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 Satz
3 OWiG
nicht vor, läuft die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwer de
er st mit Zustel-
lung eines mit Gründen versehenen Urteils."
Zur Begründung hat er im wesentlichen ausgeführt,
daß nach allgemei-
ner Ansicht die Rechtsmittelfrist gegen ein im Strafverfahren
ergangenes Ab-
wesenheitsurteil erst mit der Zustellung eines mit Gründen
versehenen Urteils
beginnt. Dies gelte nach § 79 Abs. 3 OWiG
grundsätzlich auch für die Zustel-
lung von Entscheidungen im Ordnungswidrigkeitenverfahren, die
gemäß § 74
OWiG in Abwesenheit des Betroffenen ergangen seien. Zwar lasse die
Spezi-
alregelung des § 77 b Abs. 1 OWiG in bestimmten
Ausnahmefällen das Abse-
hen von Ur teilsgründen und damit die Zustellung allein der
Urteilsformel zu, ein
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solcher Fall sei hier jedoch nicht gegeben. Einer erweiternden
Auslegung oder
analogen Anwendung stünden der Regelungszweck der Nor m, den
abwesen-
den Betroffenen über die Entscheidungsgründe zu
unterrichten, und verfas-
sungsrechtliche Bedenken entgegen.
II.
Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 79
Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m.
§ 121 Abs. 2 GVG liegen vor.
Das Oberlandesgericht Koblenz kann in dem von ihm beabsichtigten
Sinne nicht entscheiden, ohne in einer Rechtsfrage von dem
Beschluß des
Oberlandesgerichts Jena abzuweichen. Das Oberlandesgericht Jena hatte
zwar unmittelbar nur über die Zulässigkeit der
Rechtsbeschwerde in einem Fall
zu befinden, bei dem diese innerhalb einer Woche nach Zustellung eines
Ur-
teils ohne Urteilsbegründung eingelegt worden war . Die
Rechtsbeschwerde
war jedoch nicht innerhalb der an die Einlegungsfrist
anschließenden Begrün-
dungsfrist begründet wor den, sonder n erst nach Zustellung
des nachträglich
mit Gründen versehenen Urteils. Über die Rechtsfrage,
ob die Rechtsbe-
schwerdeeinlegungsfrist durch die Zustellung des unzulässig
nicht begründe-
ten Urteils in Gang gesetzt worden war, hat es jedoch inzidenter
entschieden,
weil es für den Beginn der Frist zur Begründung der
Rechtsbeschwerde nach
§§ 341 Abs. 2, 345 Abs. 1 Satz 1 StPO auf den Ablauf
der mit der Zustellung
des abgekürzten Urteils in Gang gesetzten
Rechtsbeschwerdeeinlegungsfrist
ankam.
III.
In der Sache folgt der Senat der Rechtsansicht des vorlegenden Ober-
landesgerichts nicht:
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1. Ist der Betroffene - wie hier - bei der Urteilsverkündung
nicht anwe-
send, beginnt nach § 79 Abs. 4 OWiG die
Rechtsbeschwerdeeinlegungsfr ist für
ihn mit der Zustellung des Urteils (entsprechend der Regelung im Str
afverfah-
ren nach § 341 StPO). Da die Zustellung von Schr
iftstücken als Mittel der Ge-
währung rechtlichen Gehörs dazu dienen soll, dem
Adressaten Gelegenheit zu
geben, von dem Schriftstück Kenntnis zu nehmen ( BGH NJW 1978,
1858;
Wendisch in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 35 Rdn.
17; Meyer-Goßner,
StPO 47. Aufl. § 35 Rdn. 10; Rosenberg/Schwab/Gottwald,
Zivilpr ozeßr echt
16. Aufl. § 72 I 1), setzt eine wir ksame Zustellung voraus,
daß ihm das Schrift-
stück auch vollständig zugänglich gemacht
wird. Weil im Strafverfahren Urteile
mit Gründen zu versehen sind, erfor dert dies
grundsätzlich, daß das Ur teil mit
(ggfs. abgekürzten) Gründen und nicht nur die
Urteilsformel zugestellt wird.
2. Für das Ordnungswidrigkeitenver fahren gilt im Grundsatz
nichts ande-
res. Es besteht allerdings die Möglichkeit, unter bestimmten
Voraussetzungen
von einer schriftlichen Urteilsbegründung ganz abzusehen. Dies
ist u.a. dann
der Fall, wenn das Urteil mit der Rechtsbeschwerde nicht angefochten
oder auf
Rechtsmittel verzichtet wird (§ 77 b Abs. 1 OWiG). Findet die
Hauptverhand-
lung in Abwesenheit des Betroffenen statt und war dieser von der
Verpflichtung
zum Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, ist seine
Rechtsmittel-
verzichtserklärung unter bestimmten Vor aussetzungen
entbehrlich.
a) Daß bei einem zulässigen Absehen von einer
schriftlichen Urteilsbe-
gründung die Zustellung des nicht mit Gründen
versehenen Urteils die Frist zur
Einlegung der Rechtsbeschwerde in Gang setzt, er fordern Sinn und Zweck
der
Vorschr ift, mit der eine Vereinfachung des Or
dnungswidrigkeitenverfahrens
erreicht werden soll, und ist unstreitig (vgl. BGHSt 44, 190, 193;
BayObLG JR
1996, 433 = NStZ-RR 1997, 48 zu § 77 b a.F.; OLG Celle Nds.
Rpfl. 1990, 257;
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Senge in KK- OWiG 2. Aufl. § 77 b Rdn. 16). Dem steht nicht
entgegen, daß in
diesen Fällen die Frist zur Begründung der
Rechtsbeschwerde erst beginnt,
wenn das Urteil mit den zulässiger weise nachgeschobenen
Gründen zugestellt
worden ist (BGHSt 44, 190, 193).
b) Ein Fall, bei dem von der Urteilsbegründung abgesehen
werden
konnte, war hier jedoch nicht gegeben. Die Voraussetzungen des
§ 77 b Abs. 1
Satz 1 2. Alt. OWiG - von denen das Amtsgericht ausgegangen ist - lagen
nicht
vor, da die Sonderregelung des § 77 b Abs. 1 OWiG nicht auf
das Abwesen-
heitsver fahren nach § 74 OWiG anwendbar ist, es sei denn,
§ 77 b Abs. 1
Satz 3 OWiG greift ein (Senge aaO 4; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG
§ 77 b
Rdn. 3). Ein Absehen von der Begründung
gemäß § 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG
kam nicht in Betracht, weil eine Verzichtserklärung des
Betroffenen hier weder
vorlag noch entbehr lich war. Der Betroffene war bei der in seiner
Abwesenheit
stattfindenden Hauptverhandlung nicht anwaltlich ver treten, die gegen
ihn ver-
hängten Sanktionen überschritten die Grenzen des
§ 77 b Abs. 1 Satz 3 OWiG.
3. Das unzulässige Absehen von den Urteilsgründen
führt jedoch nicht
zur Unwirksamkeit der Zustellung des nur aus der Urteilsformel
bestehenden
Urteils an den Betroffenen. Denn der Zweck des Zustellungsverfahrens,
den
Adressaten der Urteilsurkunde in die Lage zu versetzen, das
vollständige
Schriftstück zur Kenntnis zu nehmen, ist auch in diesem Fall
erfüllt, weil das im
konkr eten Verfahren vorliegende Urteil vom Richter in dieser For m
abgefaßt,
als verfahrensabschließend gewollt und aus dem inneren
Dienstbetrieb he-
rausgegeben worden ist (vgl. auch KG NZV 1992, 332; OLG Celle Nds.
Rpfl.
1990, 257). Für das Ordnungswidrigkeitenverfahren ist in der
Rechtsprechung
der Oberlandesger ichte die Zustellung eines unzulässigerweise
nicht mit Grün-
den versehenen Urteils denn auch überwiegend als wirksam
angesehen wor-
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den (u. a. BayObLG NStZ 1992, 136; wohl auch OLG Stuttgart ZfS 1996,
434,
das für die Unwirksamkeit der Zustellung lediglich auf die
fehlende Verteidiger-
vollmacht und die unwirksame Anordnung der Zustellung, nicht aber auf
das
Fehlen der Urteilsgründe abstellt).
Daß nach Rechtsprechung und h. M. (BGHSt 25, 234;
Meyer-Goßner
aaO § 341 Rdn. 11, Hanack in Löwe/Rosenberg aaO
§ 341 Rdn. 21, § 345
Rdn. 6; Mutzbauer in KMR, StPO § 341 Rdn. 72; Lintz JR 1977,
127) eine wirk-
same Urteilszustellung im Strafverfahren gr undsätzlich nur
dann vorliegt, wenn
das mit Gründen versehene Urteil zugestellt wird, steht dem
nicht entgegen. Da
ein Strafurteil - anders als ein Urteil im
Ordnungswidrigkeitenverfahren - nach
§ 267 StPO zwingend mit - sei es auch abgekürzten -
Gründen zu versehen ist,
ist ein Fall, bei dem das Gericht rechtsirr ig davon ausgegangen sein
könnte,
von einer Begründung des Urteils gänzlich absehen zu
können, kaum denkbar
und, soweit er sichtlich, bisher nicht entschieden. Die von der
Rechtsprechung
entschiedenen Fälle betreffen andere Sachverhalte.
So ist der Bundesgerichtshof bei einem unzulässig nach
§ 267 Abs. 4
StPO abgekür zten Urteil auch nicht davon ausgegangen,
daß die Zustellung
unwirksam sei, weil die Urteilsgr ünde unvollständig
seien, sondern hat den auf
Verfristung gestützten Ver werfungsbeschluß des
Landgerichts nach § 346
Abs. 2 StPO aus anderen Gründen aufgehoben (BGH MDR 1990,
490). Auch
im übrigen hat der Bundesgerichtshof bei Urteilen, die bereits
in ihr er Urschrift
Auslassungen aufwiesen, in diesem Sinne "unvollständig" waren,
nicht generell
einen die Wirksamkeit der Zustellung hindernden Ver stoß
gesehen (vgl. etwa
BGH NStZ 1989, 584 und 1994, 47 f. [Rubrum lückenhaft]; NJW
1999, 800
[Tenor unvollständig]; BGHSt 46, 204 [Fehlen einer
Unterschrift]). Denn in der-
artigen Fällen handelt es sich gerade nicht um einen Mangel
der Zustellung,
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sondern um einen Fehler des Ur teils selbst (BGHSt 46, 204, 205). In
diesem
Sinne besagt der Grundsatz, daß ein Urteil
vollständig, d. h. mit Gründen zu-
gestellt werden muß, daher nicht mehr, als das die
zugestellte Ur teilsausferti-
gung die abgesetzten, d. h. vorhandenen Urteilsgründe
enthalten muß.
4. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts
verstößt dieses
Ergebnis auch nicht gegen gesetzessystematische oder
verfassungsrechtliche
Grundsätze.
a) Der Fall eines unzulässigerweise nicht mit Gründen
versehenen Ur-
teils ist im Gesetz nicht geregelt. Auch aus der Ratio des §
77 b OWiG folgt
nicht, daß die Zustellung eines solchen Urteils unwirksam und
nicht geeignet
ist, Rechtsmittelfristen in Lauf zu setzen. Daß diese
Bestimmung, die das zu-
lässige Absehen von Urteilsgründen und vor allem das
zulässige Nachschie-
ben von Urteilsgründen regelt, nicht einer am Sinn, Zweck und
Regelungsge-
halt des § 77 b OWiG orientierten Auslegung und Anwendung auch
auf andere
Fälle entgegensteht, hat der Bundesgerichtshof bereits
für den Fall einer
Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft entschieden. Danach ist bei
einem
irrtümlichen Absehen von schriftlichen Urteilsgründen
nicht nur die Zustellung
dieses Urteils an die Staatsanwaltschaft als wirksam erachtet worden,
obwohl
diese die Begründung des Urteils beantragt hatte, sondern auch
das Nach-
schieben von Gründen für zulässig angesehen
worden (BGHSt 43, 22, 28).
b) Ob diese Rechtsprechung zum Nachschieben von Urteilsgründen
auf
den Fall einer Rechtsbeschwerde des Betroffenen übertragbar
ist, dem ein Ur-
teil ohne Urteilsgründe zugestellt worden ist, obwohl die
Voraussetzungen des
§ 77 b Abs. 1 Satz 1, Satz 3 OWiG nicht vorlagen, ist in jener
Entscheidung
offen geblieben und muß auch hier nicht
abschließend entschieden werden
(zustimmend Gollwitzer Anmerkung zu BGHSt 43, 22 f. JR 1998, 77 f).
Gegen
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eine Gleichbehandlung könnte allerdings sprechen,
daß mit § 77 b OWiG zwar
insgesamt der Zweck verfolgt wird, die Justiz zu entlasten (BGHSt 43,
22, 29),
mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, bei denen für die
Staatsanwalt-
schaft und für den Betroffenen eine Erklärung des
Rechtsmittelverzichts ent-
behrlich ist, aber auch den Belangen des Betroffenen Rechnung getr agen
wer-
den sollte.
c) Da die Urteilsgründe den Betroffenen über die vom
Gericht getroffe-
nen Feststellungen und die Rechtsauffassung des Gerichts informier en
sollen,
wird allerdings die Entscheidungsgrundlage des Betroffenen für
die Frage, ob
ein Rechtsmittel über haupt eingelegt werden soll, ver
kürzt, wenn Urteilsgründe
fehlen. Nach Auffassung des Senats sind dadurch gravierendere Nachteile
für
den Betroffenen als die nachteiligen Folgen, die sich aus der vom
vorlegenden
Gericht vorgeschlagenen Lösung ergäben, nicht zu
besorgen.
aa) Bei den Ordnungswidrigkeitenverfahren handelt es sich um Massen-
verfahren, die auf eine einfache, schnelle und summarische Erledigung
ausge-
richtet sind (BGHSt 39, 291, 299; 41, 376, 381; 43, 22, 26) und denen
in der
Regel über schaubare Sachverhalte des täglichen
Lebens zugrunde liegen. Der
Betroffene, der zuvor einen Bußgeldbescheid erhalten hat, zu
dem er angehört
worden ist, weiß, was ihm vorgeworfen wird und welche
Sanktion ihm droht.
Wird er verurteilt, so mag er zwar auch dann von der Einlegung eines
Rechts-
mittels absehen, wenn er mit der Ver urteilung nicht einverstanden ist,
etwa weil
er weiteren Aufwand an Zeit und Kosten scheut. Daß er allein
deshalb von ei-
ner Urteilsanfechtung absieht, weil ihm die Urteilsgründe
nicht mitgeteilt wor-
den sind, erscheint nicht naheliegend. Im Gegenteil wird zu er warten
sein, daß
der Betroffene gerade in diesem Fall an einer Entscheidung des Rechtsbe-
schwerdegerichts interessiert ist.
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bb) Soweit der Betroffene eine zulässige Rechtsbeschwerde
einlegt, von
der er bei ordnungsgemäßer Begründung des
Urteils abgesehen hätte, entste-
hen ihm in der Sache dadurch keine Nachteile. Die Rechtsbeschwerde
hätte
schon mit der Erhebung der allgemeinen Sachrüge ohne weiteres
Erfolg, weil
ein Urteil ohne Urteilsgründe an einem sachlich-rechtlichen
Mangel leidet. Die
danach erforderliche erneute Verhandlung und der damit ver bundene
Zeitge-
winn werden dem rechtsmitteleinlegenden Betroffenen
regelmäßig erwünscht
sein.
cc) Zu Recht weist der Generalbundesanwalt allerdings
daraufhin, daß
jedenfalls dann, wenn ein Nachschieben der Gründe nicht
für zulässig erachtet
wird, dem Betr offenen zusätzliche Kosten und Auslagen
entstehen können,
wenn die Rechtsbeschwerde durchgeführt und er nach
Zurückverweisung ver-
urteilt wird. Ein solcher Nachteil entsteht aber auch bei ander en
Fehlern des
Gerichts, die nur zu einem vorläufigen Erfolg in der
Rechtsmittelinstanz führen
und kann hier dur ch die Nichterhebung von Ver fahrenskosten, die bei
richtiger
Sachbehandlung nicht entstanden wären (§ 8 Abs. 1 GKG
a.F. = § 21 Abs. 1
Satz 1 GKG n.F.), jedenfalls teilweise ausgeglichen werden.
d) Demgegenüber ist zu beachten, daß die vom vor
legenden Gericht
vorgeschlagene Lösung sich nicht nur als wenig pr aktikabel
erweist, sondern
ihrer seits rechtsstaatlichen Bedenken begegnet:
aa) Das Nachholen der Urteilsbegründung allein zum Zwecke der
Infor-
mation des Betroffenen und zum Ingangsetzen der
Rechtsmitteleinlegungsfrist,
ohne daß sie im Rechtsbeschwerdeverfahren
Berücksichtigung finden dür fte,
ist mit den Zwecken des auf Vereinfachung und Beschleunigung angelegten
Ordnungswidrigkeitenverfahrens nur schwer zu vereinbaren, zumal
möglicher-
weise erst nach Monaten gefertigte Urteilsgründe auch ihrer
Informationsfunk-
tion nicht uneingeschränkt ger echt werden können.
Angesichts der Vielzahl der
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on nicht uneingeschränkt gerecht werden können.
Angesichts der Vielzahl der
Verfahren wird der Richter sich kaum an die jeweilige Hauptverhandlung
erin-
ner n können und sich deshalb möglicher weise mit
einer Bezugnahme auf den
Bußgeldbescheid begnügen. Zudem führt auch
diese Lösung - da das Urteil
wegen des Fehlens der Urteilsgründe an einem
sachlich-rechtlichen Mangel
leidet und auf die Rechtsbeschwerde aufzuheben ist - insoweit zu den
gleichen
dem Betroffenen nachteiligen kosten- und auslagenrechtlichen
Konsequenzen.
Zu einem anderen Ergebnis käme man nur, wenn man - wie es der
General-
bundesanwalt offenbar erwägt - eine analoge Anwendung des
§ 77 b OWiG im
Hinblick auf das Nachschieben der Urteilsgründe für
zulässig erachtete. Diesen
Fall hat der Senat jedoch nicht zu entscheiden.
bb) Die vom vorlegenden Gericht vorgeschlagene
Lösung führ t insbe-
sondere zu einem schwer erträglichen Zustand der
Rechtsunsicherheit. Hinge
die Wirksamkeit der Zustellung eines unzulässig nicht mit
Gründen versehenen
Urteils nämlich davon ab, daß es durch
nachgeschobene Gründe ergänzt wird,
könnte die Entscheidung erst nach der Zustellung des
ergänzten Urteils rechts-
kräftig werden. War der Tatrichter irrtümlich davon
ausgegangen, die Voraus-
setzungen für ein Absehen von den schriftlichen
Gründen hätten vorgelegen,
wird er sich regelmäßig erst durch die Einlegung der
Rechtsbeschwerde veran-
laßt sehen, die Urteilsgründe nachzuholen. Wird eine
Rechtsbeschwer de aber
nicht eingelegt, bleibt das Verfahren - worauf das Oberlandesgericht
Jena zu
Recht hingewiesen hat - dauerhaft in der Schwebe, weil die
Verjährung gemäß
§ 32 Abs. 2 OWiG bis zur Rechtskraft des Urteils des ersten
Rechtszugs ge-
hemmt ist. Abgesehen davon, daß in diesem Fall die Gefahr der
Vollstreckung
nichtrechtskräftiger Urteile besteht, weil es jeweils
zunächst der Prüfung be-
dür fte, ob die Voraussetzungen des § 77 b OWiG
vorgelegen haben oder nicht,
widerspräche ein solcher Schwebezustand dem Erfordernis der
Rechtssicher-
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heit. Die Rechtssicherheit ist ein wesentliches Element des in Art. 20
Abs. 3
GG verankerten Rechtsstaatsgebots (BVerfGE 60, 253, 267 m.w.N.; Herzog
in
Maunz/Dürig, GG Art. 20 VII Rdn. 60 f.; Schnapp in von
Münch, Gr undgesetz-
kommentar 5. Aufl. Bd. II Art. 20 Rdn. 30) und ist, auch wo sie durch
ger ichtli-
che Verfahren herbeigeführt werden soll, binnen angemessener
Frist zu ver-
wirklichen (BVerfGE 60, 253, 269).
Bei Abwägung aller Umstände er scheint die
Lösung, nach der auch die
Zustellung der Urteilsformel die Rechtsmittelfrist in Gang setzt,
vorzugswürdig.
Sie entspricht - wie ausgeführt - auch den allgemeinen
Grundsätzen zur Wirk-
samkeit der Zustellung von fehlerhaften Urteilen.
Rissing-van Saan
Bode Otten
Fischer Roggenbuck
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