BGH,
Beschl. v. 6.2.2002 - 5 StR 476/01
5 StR 476/01
StGB §§ 2, 78b Abs. 1 Nr. 1; EStGB Art. 315; StGB-DDR
§ 148 Abs. 1
Die Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB findet auch auf
Straftaten im Sinne der §§ 176 bis 179 StGB
Anwendung, die in der ehemaligen DDR begangen wurden.
BGH, Beschl. vom 6. Februar 2002 - 5 StR 476/01 - LG Berlin -
5 StR 476/01
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 6. Februar 2002
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 6. Februar 2002
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 6. März 2001 im Schuldspruch zu Fall II 1 der
Urteilsgründe nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben;
insoweit wird das Verfahren eingestellt; die hierdurch entstandenen
Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen
der Staatskasse zur Last.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen.
3. Der Angeklagte trägt die verbleibenden Kosten des
Rechtsmittels.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in fünf Fällen,
Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines
Kindes und wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier
Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat
einen Teilerfolg. Sie führt in einem Fall zur
Verfahrenseinstellung wegen eines Verfahrenshindernisses.
Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hat der Angeklagte
von September 1983 bis März 1991 in Berlin-Ost seine im Mai
1977 geborene Stieftochter mehrmals sexuell mißbraucht.
Zwischen September 1983 und Mai 1984 kam es zur ersten Tat, als die
Geschädigte am Glied des Angeklagten bis zum
Samenerguß manipulieren mußte. Zwischen Mai 1989
und dem 3. Oktober 1990 kam es zu drei weiteren Taten, bei denen der
Angeklagte das Kind an der Scheide streichelte, das Kind
veranlaßte, an seinem Glied bis zum Samenerguß zu
manipulieren und den Oralverkehr bis zum Samenerguß
auszuführen.
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes nach § 148 Abs. 1 StGB-DDR
im ersten Fall (II 1 der Urteilsgründe) kann keinen Bestand
haben, weil insoweit Strafverfolgungsverjährung eingetreten
ist.
Zwar war die achtjährige Verjährungsfrist des
§ 82 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR am 3. Oktober 1990, dem
Wirksamwerden des Beitritts, noch nicht abgelaufen. Jedoch ist vor
Inkrafttreten des 2. Verjährungsgesetzes vom 27. September
1993 (BGBl. I 1657) am 30. September 1993 absolute Verjährung
(§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB) eingetreten. Die Beurteilung der
Verfolgungsverjährung von DDR-Alttaten richtet sich nach Art.
315a EGStGB i.d.F. des Einigungsvertrages (BGHSt 40, 48, 56). Soweit
die Strafverfolgungsverjährung nach dem Recht der DDR bis zum
Wirksamwerden des Beitritts - also bis zum 3. Oktober 1990 - nicht
eingetreten war, bleibt es danach dabei (Art. 315a Abs. 1 Satz 1
EGStGB). An diesem Tag wurde gemäß Art. 315a Abs. 1
Satz 3 erster Halbsatz EGStGB der Lauf der Verjährung kraft
Gesetzes unterbrochen; ab diesem Zeitpunkt gelten die
§§ 78 ff. StGB (vgl. BGH NStZ 1998, 36; BGH NJ 2001,
493; BGH, Beschl. vom 18. März 1998 - 5 StR 65/98). Auf der
Grundlage des nun maßgeblichen § 78 Abs. 3 Nr. 4
StGB i.V.m. § 148 Abs. 1 StGB-DDR beträgt die
Verjährungsfrist fünf Jahre. Danach bestimmt sich der
Zeitpunkt des Eintritts der absoluten Verjährung (Art. 315a
Abs. 1 Satz 3 letzter Halbsatz EGStGB i.V.m. § 78c Abs. 3 Satz
2 StGB), der gemäß § 78a StGB von der
Beendigung der Tat an zu berechnen ist (Jähnke in LK 11. Aufl.
§ 78c Rdn. 43 m.w.N.). Wie der Generalbundesanwalt in seiner
Antragsschrift zu Recht hervorhebt, hat der Angeklagte die
festgestellte Tat an einem Tag in der Zeit zwischen September 1983 und
Mai 1984 begangen, so daß nach dem Grundsatz "in dubio pro
reo" als Tatende der 1. September 1983 anzunehmen ist.
Die Neufassung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB durch das am 30.
Juni 1994 in Kraft getretene 30. Strafrechtsänderungsgesetz
vom 23. Juni 1994 - 30. StrÄndG - (BGBl. I 1310) vermochte den
Eintritt der Verjährung nicht zu hindern, weil insoweit
bereits zuvor absolute Verjährung eingetreten war (vgl. BGHR
EGStGB Art. 315a Verjährungsfrist 2; Tröndle/Fischer
StGB 50. Aufl. § 78b Rdn. 3). Die Voraussetzungen der
Qualifikation des § 148 Abs. 2 StGB-DDR sind im angefochtenen
Urteil nicht hinreichend festgestellt; der Senat schließt
auch aus, daß dies in einer neuen Verhandlung nachzuholen
wäre.
2. Die übrigen Fälle (II 2 bis 4) des sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes nach § 148 Abs. 1 StGB-DDR
mit Tatzeiten zwischen Mai 1989 und Oktober 1990 sind hingegen nicht
verjährt.
Die Taten sind erst im Jahre 2001 abgeurteilt worden. Deshalb folgt
dieses Ergebnis nicht bereits aus Art. 315a Abs. 2 EGStGB in der
Fassung des 3. Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997
(BGBl. I 3223), wonach die Verfolgung von Taten, die in dem in Art. 3
des Einigungsvertrages genannten Gebiet begangen worden sind und die -
wie der sexuelle Mißbrauch eines Kindes nach § 148
Abs. 1 StGB-DDR - im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe
von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind,
frühestens mit Ablauf des 2. Oktober 2000 verjährt.
Jedoch hat das 30. StrÄndG in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB
angeordnet, daß die Verjährung bis zur Vollendung
des 18. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den
§§ 176 bis 179 StGB ruht. Nach Art. 2 des 30.
StrÄndG gilt "die Änderung des § 78b Abs. 1
StGB auch für vor Inkrafttreten dieses Gesetzes begangene
Taten, es sei denn, daß deren Verfolgung zu diesem Zeitpunkt
bereits verjährt war". Damit schiebt § 78b Abs. 1 Nr.
1 StGB den Beginn der Verjährungsfrist bis zur Vollendung des
18. Lebensjahres des Opfers auch für die Taten hinaus, die vor
dem Inkrafttreten des Gesetzes am 30. Juni 1994 begangen worden sind,
sofern sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht verjährt waren (vgl.
BGHR StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 3 und 7; BGH, Beschl. vom 4.
Februar 1997 - 5 StR 606/96, insoweit nicht abgedruckt in NStZ 1997,
296). Auf dieser Grundlage war keine
Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Die
Verjährung ruhte bis zum 18. Lebensjahr der
Geschädigten, also bis zum 25. Mai 1995. Erst ab diesem
Zeitpunkt begann, wie sich aus § 78c Abs. 3 Satz 3 StGB ergibt
(vgl. dazu Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 78c Rdn.
2a), die Verjährungsfrist zu laufen. Die Verjährung
wurde durch die erste Vernehmung des Angeklagten als Beschuldigter am
4. Dezember 1998 nach § 78c Abs. 1 Nr. 1 StGB unterbrochen.
Es rechtfertigt kein anderes Ergebnis, daß sich hier aufgrund
Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 StGB die Strafbarkeit nach dem
StGB-DDR richtet (so auch OLG Naumburg NStZ 1998, 411, 412). Die
Vorschrift des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB findet auch auf
Straftaten im Sinne der §§ 176 bis 179 StGB
Anwendung, die in der ehemaligen DDR begangen wurden. Dies ergibt die
Auslegung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Mit der Bezeichnung
"bei Straftaten nach den §§ 176 bis 179" in
§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB werden nämlich nicht etwa nur
diejenigen Fälle gesetzlich erfaßt, in denen die
genannten Vorschriften unmittelbar zur Anwendung kommen. Vielmehr ist
damit der Kreis derjenigen Taten umschrieben, die die
Tatbestandsmerkmale dieser Normen erfüllen. Deshalb sind auch
solche Taten einbezogen, deren Beurteilung sich im konkreten Fall zwar
nach dem StGB-DDR richtet, die aber den Voraussetzungen der
§§ 176 bis 179 StGB entsprechen.
Da das 30. StrÄndG keine besondere Vorschrift hinsichtlich
seiner Anwendung auf in der ehemaligen DDR begangenen Straftaten
enthält, ist die allgemeine Regelung des Art. 315 Abs. 1
EGStGB in Verbindung mit den Grundsätzen des § 2 StGB
anzuwenden (vgl. BGHSt 39, 54, 66). Hiernach müssen die
einander entsprechenden Normen der beiden Strafrechtsordnungen
insgesamt oder in dem zur Anwendung kommenden Teilbereich dasselbe
Rechtsgut schützen; sie müssen art- und wertgleiches
Unrecht beschreiben (BGHSt aaO S. 68). Dies ist bei den hier in Frage
stehenden §§ 176 StGB und 146 Abs. 1 StGB-DDR der
Fall, so daß § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB mit der
Bezugnahme auf § 176 StGB auch die dieser Norm entsprechende
Vorschrift des § 148 Abs. 1 StGB-DDR erfaßt.
Nichts spricht dafür, daß der Gesetzgeber bei der
Änderung des § 78b StGB die Verfolgbarkeit vor dem
Beitritt begangener Sexualstraftaten im räumlichen
Geltungsbereich der ehemaligen DDR abweichend ausgestalten und den
Anwendungsbereich des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB insoweit
einschränken wollte. Vielmehr wird im Bericht des
Rechtsausschusses (BT-Drs. 12/6980, S. 5) die Begründung eines
Antrags, der zunächst die Zustimmung der Mehrheit gefunden
hatte, unter anderem wie folgt wiedergegeben: "Die Regelung
müsse auch im Zusammenhang mit der Verjährung der
Straftaten in der ehemaligen DDR gesehen werden. Hier dürfe es
zu keinem Wertungswiderspruch kommen. Eine Verlängerung der
strafrechtlichen Verjährungsfristen sei in diesem Bereich
beschlossen worden, weil eine Verfolgung von Straftaten aus
tatsächlichen Gründen zeitweise nicht habe
stattfinden können." Damit wird aus den Materialien der Wille
des Gesetzgebers hinreichend deutlich, daß die entsprechenden
Tatbestände nach dem StGB-DDR im Hinblick auf § 78b
Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht abweichend zu behandeln sind. Das Problem einer
analogen Anwendung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB, wie sie von
Puls befürwortet (DtZ 1995, 392) und vom LG Frankfurt/Oder
(NJW 2001, 3064) abgelehnt wird, stellt sich danach nicht.
3. Einer Aufhebung der wegen der ersten vier Fälle
verhängten Hauptstrafe und mithin der Gesamtfreiheitsstrafe
bedarf es nicht. Der Senat schließt aus, daß der
Tatrichter bei zutreffender rechtlicher Würdigung der
Verjährung im Fall 1 eine geringere Hauptstrafe
verhängt hätte.
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