BGH,
Beschl. v. 7.8.2001 - 5 StR 259/01
StGB §§ 27, 212
Vergatterung von Soldaten an der innerdeutschen Grenze vor
befehlsgemäßem tödlichen
Schußwaffengebrauch gegen einen unbewaffneten
Flüchtling ist als Beihilfe zum Totschlag strafbar.
BGH, Beschluß v. 7. August 2001 - 5 StR 259/01
LG Berlin -
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
5 StR 259/01
vom
7. August 2001
in der Strafsache gegen
wegen Beihilfe zum Totschlag
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 7. August 2001
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten B wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 12. Oktober 2000 nach § 349 Abs. 4 StPO dahin
geändert, daß dieser Angeklagte wegen Beihilfe zum
Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wird,
deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
2. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen.
3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen, jedoch wird die Gebühr um ein Zehntel
ermäßigt; die Staatskasse trägt ein Zehntel
der gerichtlichen Auslagen und notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers im Revisionsverfahren.
Gründe
I.
Das Landgericht hat den Beschwerdeführer, den Angeklagten B ,
wegen Anstiftung zum Totschlag zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten
verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung
ausgesetzt.
1. Folgendes Tatgeschehen liegt dem angefochtenen Urteil zugrunde:
Am 10. Mai 1974 wurde der 68jährige S an der innerdeutschen
Grenze zwischen Alt-Glienicke und Berlin-Rudow von Soldaten der
Grenztruppen der DDR erschossen. Die beiden im Wachdienst an der Grenze
eingesetzten Soldaten vermuteten, daß der schwerkranke,
möglicherweise suizidale Rentner, der den
Hinterlandsicherungszaun überstiegen hatte und sich ihrem
Postenturm näherte, nach Berlin (West) flüchten
wollte. Nachdem der Mann einen Zuruf, er solle stehenbleiben,
unbeachtet gelassen hatte und weitergelaufen war, gab einer der
Soldaten auf Befehl des als Postenführer eingesetzten anderen
mit seiner Maschinenpistole "Kalaschnikow", die auf Dauerfeuer
eingestellt war, fünf Schüsse in Richtung des als
"Grenzverletzer" angesehenen Rentners ab, um dessen Flucht unbedingt zu
verhindern. Ein Schuß traf S tödlich. Dies hatten
die Soldaten bei dem befehlsgemäß
ausgeübten Schußwaffengebrauch zwar nicht gewollt,
jedoch für möglich erachtet und gebilligt.
Der Beschwerdeführer war als Oberleutnant stellvertretender
Kompaniechef und als "Kommandeur Grenzsicherung" eingesetzt. Von dem
Geschehen benachrichtigt, traf er alsbald am Ort ein. Der von ihm
herbeigerufene Regimentsarzt stellte den Tod des Opfers fest. Die
Grenzsoldaten wurden für ihr Verhalten belobigt; auch der
Beschwerdeführer erhielt eine Geldprämie von 200 Mark
als Auszeichnung. Auf die Vermißtenanzeige der
Angehörigen des Getöteten wurde diesen auf
Veranlassung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
vorgespiegelt, er sei zehn Tage später erhängt im
Wald aufgefunden worden. Die Angehörigen erklärten
sich daraufhin mit der sofortigen Feuerbestattung ohne Obduktion
einverstanden.
Der Beschwerdeführer war für die "Vergatterung" der
Soldaten verantwortlich gewesen. Er hatte sie entweder - wie
regelmäßig üblich - selbst vorgenommen oder
sie - im nicht sicher ausschließbaren Fall, daß er
mit vorrangigen Organisationsaufgaben befaßt gewesen war -
einem anderen übertragen. Den Soldaten war bei der
Vergatterung, wie üblich, vor ihrem Einsatz befohlen worden,
in ihrer Schicht "Grenzverletzer" an der Flucht - erforderlichenfalls
durch Einsatz der Schußwaffe - zu hindern, sie festzunehmen,
äußerstenfalls "zu vernichten", da der Tod eines
"Grenzverletzers" eher hingenommen werden sollte als ein gelungener
Grenzdurchbruch.
2. Die Mitangeklagten - die beiden zum Grenzdienst eingesetzten,
unmittelbar für den Schußwaffengebrauch
verantwortlichen, zur Tatzeit erst 20jährigen Soldaten -, die
das Urteil nicht angefochten haben, wurden jeweils wegen
(gemeinschaftlichen) Totschlags zu neun Monaten Freiheitsstrafe mit
Bewährung verurteilt. Das Landgericht hat die Tat weder als
durch die Grenzvorschriften der DDR gerechtfertigt noch trotz Handelns
auf Befehl als entschuldigt angesehen. Es hat den Angeklagten einen
vermeidbaren Verbotsirrtum zugebilligt und die Strafen nach dem
Strafrahmen des § 213 StGB a. F. als dem mildesten Recht
(§ 2 Abs. 3 StGB i. V. m. Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB)
gebildet.
Die gegen den Beschwerdeführer verhängte elfmonatige
Freiheitsstrafe hat das Landgericht demselben Strafrahmen entnommen. Es
hat ihn aufgrund der selbst vorgenommenen oder angeordneten
Vergatterung als Anstifter (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR,
§ 26 StGB) angesehen.
II.
Die Revision des Beschwerdeführers führt mit der
Sachrüge zur Änderung des Schuldspruchs und zur
Reduzierung der Strafe. Im übrigen ist das Rechtsmittel, wie
vom Generalbundesanwalt zutreffend beurteilt, offensichtlich
unbegründet.
1. Mit der Ausführung der konkret rechtsfehlerfrei
festgestellten, mit bedingtem Tötungsvorsatz
ausgeführten Tat haben die Grenzsoldaten der mittlerweile
offenkundigen Befehlslage an der innerdeutschen Grenze (vgl. BGHSt 40,
218, 222 ff.; 45, 270, 274 ff.) Folge geleistet. Entgegen den
Einwendungen der Revision hat der Tatrichter die Haupttat entsprechend
der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. nur
BGHSt 39, 1 und 168; 40, 241), die vom Bundesverfassungericht (BVerfGE
95, 96) und vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte (Urteile vom 22. März 2001, EuGRZ 2001, 210 und
219) gebilligt geworden ist, zutreffend bewertet. Für die
Beurteilung der allgemeinen Befehlslage und des ihr folgenden, vom
Tatrichter rechtsfehlerfrei konkret festgestellten Inhalts der
Vergatterung wäre es bedeutungslos, wenn - wie die Revision
geltend macht - die zur Tatzeit maßgeblichen
Grenzvorschriften den Begriff "Vernichtung" ausdrücklich nur
auf in die DDR eindringende bzw. bewaffnete "Grenzverletzer" bezogen
hätten. Dies hat der Senat - für eine andere Tatzeit,
aber mit hier unverändert geltenden Erwägungen -
bereits festgestellt (BGH, Urteil vom 24. April 1996 - 5 StR 322/95 -,
insoweit in BGHR WStG § 5 Abs. 1 - Schuld 3 und NStZ-RR 1996,
323 nicht abgedruckt).
Die Verurteilung des Beschwerdeführers auf wahldeutiger
Tatsachengrundlage und seine strafrechtliche Verantwortlichkeit wegen
der Vergatterung sowohl für den Fall, daß er sie
selbst erteilt, oder auch für den Fall, daß er sie
delegiert hatte, ist - auch auf der Basis des Strafrechts der DDR -
rechtsfehlerfrei (vgl. zum einen BGHSt 42, 65, 67; zum anderen BGH,
Urteil vom 24. April 1996 - 5 StR 322/95 -, auch insoweit in BGHR WStG
§ 5 Abs. 1 - Schuld 3 und NStZ-RR 1996, 323 nicht abgedruckt;
BGH NStZ 2001, 364).
2. Die Beurteilung der Vergatterung (vgl. dazu tatsächlich
BGHSt 39, 1, 3 und 11) als Anstiftung erweist sich hingegen letztlich
nicht als zutreffend. Der Beschwerdeführer ist lediglich der
Beihilfe (§ 27 Abs. 1, § 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR)
zum Totschlag schuldig.
Wer an der Durchsetzung des Grenzregimes der DDR mit der darin
enthaltenen offensichtlich menschenrechtswidrigen Anweisung zu notfalls
tödlichem Schußwaffengebrauch durch verantwortliche
Gestaltung der maßgeblichen Befehle mitgewirkt hat, ist
für den tödlichen Schußwaffengebrauch nach
dem regelmäßig milderen Recht der Bundesrepublik
Deutschland als mittelbarer Täter, nach dem Recht der DDR als
Anstifter verantwortlich (BGHSt 40, 218; 45, 270). Der Vorgesetzte in
der Grenzkompanie, der die einzelnen Soldaten zum Wachdienst an der
Grenze eingeteilt und dabei vergattert hat (vgl. zu diesem
militärischen Begriff Schölz/Lingens, WStG 4. Aufl.
§ 44 Rdn. 5; Dau, WDO 2. Aufl. § 17 Rdn. 20), hat
seinerseits entsprechend befehlsgebunden nach strikten inhaltlichen
Vorgaben gehandelt. Zwar hat er mit seinem Verhalten für den
Fall eines anschließenden tödlichen
Schußwaffengebrauchs den konkreten Einsatz des dabei
unmittelbar tätig gewordenen Soldaten verursacht; er hat ihn
regelmäßig - so auch hier - bewußt zu
bedingt vorsätzlichem Töten für den Fall
einer als möglich angesehenen nicht anders verhinderbaren
Flucht eingesetzt. Indes war die Befehlslage den Soldaten - auch dem
hier möglicherweise erstmals im Grenzdienst eingesetzten
Schützen - im Rahmen ihrer Ausbildung vorgegeben und
erläutert. Sie wurde durch die Vergatterung lediglich
aktualisiert. Der Vergatterer hatte keinen inhaltlichen Spielraum. War
Schußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge ausnahmsweise
aus besonderem Anlaß ausgesetzt (vgl. BGHSt 39, 168, 190; 45,
270, 303) - hierauf weist der Tatrichter im Rahmen der rechtlichen
Bewertung als Anstiftung besonders hin -, war dem Vergatterer auch dies
selbstverständlich vorgegeben.
Der Bundesgerichtshof hat über die rechtliche Einordnung des
Tatbeitrages der Vergatterung noch nicht verbindlich entschieden. Als
im Rahmen der Befehlskette mitverantwortlichen mittelbaren
Täter hat er den Vergatterer bislang nicht angesehen, vielmehr
in einem Sonderfall, in welchem Vergatterer wie Schützen ein
Tötungsvorsatz nicht nachzuweisen war, die bei anderer
Beweislage anzunehmende Verantwortlichkeit des Vergatterers als
Anstifter oder Gehilfe offengelassen (BGHR StGB § 25 Abs. 1 -
Mittelbare Täterschaft 6; vgl. auch Willnow JR 1997, 221,
226). Im vorliegenden Fall, in dem der mit dem bedingten
Tötungsvorsatz der für die Schußabgabe
unmittelbar verantwortlichen Grenzsoldaten korrespondierende bedingte
Tötungsvorsatz des Beschwerdeführers als Vergatterer
nicht in Frage steht, ist nunmehr über die Bewertung des in
der Vergatterung liegenden Tatbeitrages zu entscheiden.
Infolge der vorgesetzten Stellung des Beschwerdeführers und
seiner konkreten Einsatzorganisation steht sein Tatbeitrag zwar an der
Grenze zur mittelbaren Täterschaft bzw. Anstiftung. Dagegen
stehen die eigene Befehls-einbindung des Beschwerdeführers mit
strikten inhaltlichen Vorgaben und die zuvor erfolgte generelle
Befehlserteilung an die eingesetzten Soldaten, deren
Tatentschluß für den Fall der später
tatsächlich eingetretenen (hier wohl nur vermeintlichen)
Fluchtsituation damit nicht erst durch die Vergatterung geweckt wurde,
sondern für den Fall der Bereitschaft der Soldaten zu
unbedingter Befehlserfüllung bereits latent vorhanden und
zuvor festgelegt war.
Danach bewertet der Senat den in der Vergatterung liegenden Tatbeitrag
des Beschwerdeführers lediglich als Beihilfe zum Totschlag.
Sondernormen des Militärstrafrechts, auf die
Schuldsprüche wegen täterschaftlicher
Verantwortlichkeit auch in Fällen der vorliegenden Art mit
klaren Befehlsstrukturen bislang nicht gestützt worden sind
(vgl. lediglich den Vorbehalt in BGHSt 40, 218, 237), zwingen bei der
hier gegebenen Befehlseinbindung nicht zu anderer Entscheidung. Mit der
Vergatterung oder ihrer Veranlassung hat der Beschwerdeführer
- in Befolgung und Förderung der allgemeinen Befehlslage - die
unmittelbaren Täter in ihrem zuvor bereits anderweits
geweckten Tatentschluß letztlich lediglich
maßgeblich bestärkt (vgl. auch BGHR StGB §
26 - Bestimmen 3; DDR-Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrbuch 1976 S. 377
f.).
Einen über die bloße Vergatterung hinausgehenden
konkreten Befehl in der aktuellen Situation des unmittelbar
bevorstehenden Schußwaffengebrauchs, der zu abweichender
Beurteilung veranlassen würde (vgl. BGHSt 42, 65, 68 ff.),
hatte der Beschwerdeführer nicht erteilt. Die Entscheidung des
Senats hat die Konsequenz, daß Fälle der
Vergatterung ohne anschließenden tödlichen
Schußwaffengebrauch nicht etwa nach Vorschriften
über versuchte Anstiftung oder nach wehrstrafrechtlichen
Spezialnormen (vgl. BGHR StGB § 25 Abs. 1 - Mittelbare
Täterschaft 6) strafbar sind.
3. Der Senat kann den Schuldspruch selbst ändern. Der
Beschwerdeführer hätte sich gegen den
geänderten Schuldvorwurf nicht anders wirksamer verteidigen
können.
Trotz einer weiteren Herabsetzung des nach § 2 Abs. 3 StGB,
Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB maßgeblichen Strafrahmens des
§ 213 StGB a. F. gemäß § 27 Abs. 2
Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB kann der Senat jedenfalls
ausschließen, daß die Strafe noch milder
hätte ausfallen können als bei den unmittelbar
tätig gewordenen Soldaten, die einen erheblich niedrigeren
Dienstgrad hatten und deren durch Befehlsbindung und vermeidbaren
Verbotsirrtum sowie affektive Anspannung geprägte aktuelle
Tatsituation einer Entschuldigung erheblich näher stand (vgl.
zu dieser Problematik nur BGHR WStG § 5 Abs. 1 - Schuld 4 und
6 m.w.N.; BVerfGE 95, 96, 142; EGMR EuGRZ 2001, 219, 220 f. und
Sondervoten S. 222 ff.), als dies beim Beschwerdeführer der
Fall war.
Um den angesichts eines mehr als 25 Jahre zurückliegenden
Tatgeschehens gebotenen endgültigen Abschluß des
Verfahrens herbeizuführen, setzt der Senat hier entsprechend
§ 354 Abs. 1 StPO die Strafe auf diese konkret denkbare
Mindesthöhe fest.
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