BGH,
Beschl. v. 9.4.2002 - 5 StR 100/02
5 StR 100/02
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 9. April 2002
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat am 9. April 2002
beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 1. November 2001 nach § 349 Abs. 4 StPO mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in drei
Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit
gefährlicher Körperverletzung, zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Die Revision des
Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Annahme des
Landgerichts, der Angeklagte sei bei Begehung der Taten - zumal
uneingeschränkt - schuldfähig gewesen, hält
sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Der - zudem stark sehbehinderte - Angeklagte leidet nach dem
Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen unter einer
"paranoid-halluzinatorischen Psychose mit episodischem Verlauf und
residualer Wahnsymptomatik". Eine erste Manifestation der psychischen
Erkrankung des zur Tatzeit 37jährigen Angeklagten, der seit
1986 bindungslos in Deutschland lebt, früher
Betäubungsmittelmißbrauch betrieben hat, zuletzt
nichtseßhaft war und weder Sozialhilfe noch sonstige bekannte
Einkünfte bezog, ist für die Zeit seiner letzten
Strafverbüßung im Jahre 1999 gesichert.
Das Schwurgericht hat konkrete Wahnvorstellungen des Angeklagten
festgestellt. So hätten Ärzte mit Mitteln auf ihn
eingewirkt; dies habe zur Verdunkelung seiner Haut, zu seiner massiven
Sehschwäche und zu Erkrankungen in der Jugendzeit
geführt. Er habe zwölf Kinder, die von Leuten "in
einen Sumpf gebracht" worden seien. Während der letzten Haft
hatte der Angeklagte akustische Halluzinationen; er litt unter
Vergiftungsangst und Waschzwang.
Zur Tat hat das Schwurgericht folgendes festgestellt: Am
frühen Morgen des 9. April 2001 wärmte sich der
Angeklagte, der keine Schuhe und Strümpfe besaß und
die Nacht, wie häufig, im Freien verbracht hatte, in einer
fahrenden U-Bahn auf. Als ein uniformierter Schaffner im Kontrolldienst
ihn aufforderte, die Füße von der
gegenüberliegenden Sitzbank zu nehmen, reagierte der
Angeklagte, der indes "das Geschehen realitätsverkennend als
bedrohlich" auffaßte, zunächst nicht. Als der
Kontrolleur nach der zweiten vergeblichen Aufforderung
ankündigte, mit seinem Mobiltelefon den Ordnungsdienst oder
die Polizei zu alarmieren, sprang der Angeklagte auf, stieß
einen Schrei aus und versetzte dem Kontrolleur mit einem
mitgeführten Messer einen wuchtigen Stich in den
Rücken. Das Opfer sackte verletzt zu Boden. Der Angeklagte
wandte sich in dem fahrenden Zug einem weiteren Schaffner zu, er zielte
mit seinem Messer auf dessen linke Brust. Der Stich wurde durch eine
Flasche, die der Mann in der Innentasche seiner Uniformjacke trug,
aufgefangen. Nunmehr griff der Angeklagte eine uniformierte Schaffnerin
an. Er zielte mit dem Messer auf ihren Unterkörper; sie konnte
den Stich mit einer Tasche abfangen. Unmittelbar darauf brachte der
Angeklagte ihr eine längere, sofort blutende Schnittverletzung
an der linken Halsseite bei. Das Schwurgericht ist überzeugt,
daß der Angeklagte bei sämtlichen Messerattacken mit
direktem Tötungsvorsatz handelte.
Weitere U-Bahn-Insassen griff der Angeklagte nicht an. Er verhielt sich
in dem U-Bahn-Waggon während der weiteren Fahrt hektisch,
entfernte sich am nächsten Bahnhof jedoch ruhigen Schrittes,
warf das Messer, das später nicht gefunden wurde, weg, fiel
aber durch sein verwirrt wirkendes Erscheinungsbild einem Passanten
auf, der ihn verfolgte und seine Festnahme veranlassen konnte. Der
Angeklagte ließ sich widerstandslos festnehmen, "brabbelte"
jedoch vor sich hin, wirkte weiterhin "irgendwie verwirrt" und wurde
von Polizeibeamten - die indes seine Sehschwäche nicht
registrierten - und dem Blutentnahmearzt zu Unrecht für stark
alkoholisiert gehalten. Bei Vernehmungen verhielt er sich unwillig; er
wirkte gestört. Die Psychiaterin W , die ihn explorierte,
dabei freilich keine Hinweise für eine gravierende psychische
Erkrankung diagnostizierte, beschimpfte er "mit sexuellem Hintergrund",
zudem berichtete er ihr von "seinen Kindern im Puff" und beklagte,
daß Ärzte ihn nach seiner Festnahme mit
Flüssigkeit überschüttet hätten. In
der Hauptverhandlung bezeichnete sich der Angeklagte, der
während der Untersuchungshaft in einer psychiatrischen
Abteilung der Justizvollzugsanstalt untergebracht ist und dort
medikamentös behandelt wird, als zur Tatzeit stark berauscht,
was objektiv widerlegt ist. Er gab an, daß er sich mit dem
harmlosen Messer gegen Schläge gewehrt habe und auch von der
Polizei geschlagen worden sei; auch seine Schuhe seien ihm weggenommen
worden; jeden Tag passiere solch ein Vorfall.
2. Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen zur Person des Angeklagten
und zu seinem Tat- und Nachtatverhalten ist der Befund des
Schwurgerichts, der Angeklagte habe die Taten mit Unrechtseinsicht und
ungetrübtem Steuerungsvermögen begangen, nicht
nachvollziehbar, obgleich er in Übereinstimmung mit der
Beurteilung durch den psychiatrischen Sachverständigen P steht.
Allein die Feststellungen zu den beim Angeklagten vorhandenen
krankheitsbedingten Wahnvorstellungen machen die Annahme eines
Ausschlusses, mindestens aber einer erheblichen Verminderung seiner
Schuldfähigkeit wahrscheinlich (vgl. BGHR StGB § 20
Psychose 1 und 2). Es kommt hinzu, daß das Schwurgericht ein
wahnhaftes Erleben des Angeklagten in der den Taten vorangegangenen
Phase selbst für wahrscheinlich erachtet (UA S. 27). Die Taten
stellten sich - zumal wenn sie, wie das Schwurgericht meint, mit
direktem Tötungsvorsatz begangen wurden - als objektiv
gänzlich unverständliche Überreaktion auf
ein als belästigend oder kränkend empfundenes - oder
eben wahnhaft als gefährdend angesehenes - Verhalten des
ersten Opfers dar; noch weniger objektiv nachvollziehbar sind die
Attacken gegen die weiteren Opfer. Der psychiatrische
Sachverständige hat ausgeführt, daß
erfahrungsgemäß nach dem ersten etwa zwei Jahre vor
der Tatbegehung festgestellten Aufflammen der Wahnerkrankung
typischerweise eine längere beschwerdearme Phase folgt; ferner
sei der Umstand bedeutsam, daß der Angeklagte seit der
letzten Haftentlassung im Oktober 1999 nicht mehr drastisch aufgefallen
sei. Dies läßt nach Meinung des
Sachverständigen auf einen "autistischen Rückzug" des
Angeklagten in seine "wahnhaft gefärbte Gedankenwelt"
schließen. All das bietet schon tatsächlich kaum
eine hinreichende Grundlage, die geeignet wäre, um ein bei
Tatbegehung erneut zum Durchbruch gelangtes massives Wahngeschehen
auszuschließen. Dies gilt umso mehr angesichts wenig
präziser Feststellungen zu den aktuellen Lebensbedingungen des
Angeklagten unmittelbar vor Tatbegehung. Vielmehr begründen
insbesondere die Tat- und Begleitumstände als solche ein
gewichtiges Indiz für ein mit der Tat
zusammenhängendes Wahngeschehen, das vom Schwurgericht,
welches das Handeln des Angeklagten schwer verständlich als
"vernünftig und situationsbezogen" bezeichnet (UA S. 26),
ersichtlich unterbewertet wird. Unauffälliges Verhalten vor
der Konfrontation mit den Kontrolleuren, in mancher Beziehung noch
differenzierte Reaktionen und Verhaltensweisen und eine zur Tatzeit
vorhandene Erkenntnis des Angeklagten, daß seine Taten von
der Allgemeinheit als Unrecht angesehen wurden (s. UA S. 25 f.), sind
ebensowenig wie zweifelhafte ärztliche Diagnosen nach seiner
Festnahme tragfähige Beweisanzeichen für eine -
zumal, wie das Schwurgericht meint, umfassend - intakte Einsichts- und
Steuerungsfähigkeit (vgl. auch Tröndle/Fischer, StGB
50. Aufl. § 20 Rdn. 17; Lenckner/Perron in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 20 Rdn.
26; jeweils m. w. N.).
3. Der neue Tatrichter wird die Frage der Schuldfähigkeit des
Angeklagten erneut zu prüfen haben, naheliegend nach einem
Bemühen um nähere Aufklärung seiner letzten
Lebensumstände und nach Konsultation eines anderen
psychiatrischen Sachverständigen, der gegebenenfalls auch die
Anwendung weitergehender Untersuchungsmethoden als bislang (s. UA S.
27) zu erwägen haben wird. Dabei ist der neue Tatrichter
gemäß § 358 Abs. 2 Satz 2 StPO durch das
Verschlechterungsverbot nicht gehindert, die Unterbringung des
Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63
StGB anzuordnen. Der dafür erforderliche dauerhafte psychische
Defekt ist schon bislang festgestellt worden, eine abweichende
Beurteilung seiner Kausalität für die Taten liegt,
wie dargetan, außerordentlich nahe.
Eine Aufrechterhaltung von Feststellungen zum Tatgeschehen erschien
schon im Blick darauf nicht zweckmäßig,
daß insoweit wegen der Rückschlüsse auf den
Zustand des Angeklagten eine sorgfältige umfassende
Aufklärung unerläßlich sein wird, welche
die erneute kritische Überprüfung der Frage des
Tötungsvorsatzes einzuschließen haben wird. Zudem
wird der neue Tatrichter einen - für die Frage der
Unterbringung nach § 63 StGB freilich kaum relevanten -
Rücktritt vom unbeendeten Versuch in sämtlichen
Fällen - insbesondere aber im zweiten Fall - über die
bislang nicht zureichenden Erwägungen (UA S. 23 f.) hinaus
auch unter Berücksichtigung von BGHSt 35, 184, 186 f.; 39,
221, 230 f. (vgl. dazu auch Tröndle/Fischer aaO § 24
Rdn. 9, 15, 19 m. w. N.) neu zu überprüfen haben.
Harms Basdorf Gerhardt
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