BGH,
Beschl. v. 9.2.2000 - 5 StR 645/99
5 StR 645/99
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 9. Februar 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Februar 2000
beschlossen:
1. Der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 1. Oktober 1999
wird auf Antrag des Angeklagten nach § 346 Abs. 2 StPO
aufgehoben.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Berlin vom 8. Juli 1999 nach § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben
a) im Schuldspruch in den Fällen II 1, 2 und 4 bis 11 des
Urteils; insoweit wird das Verfahren eingestellt; die hierdurch
entstandenen Kosten des Verfahrens und notwendigen Auslagen des
Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last;
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen.
3. Die weitergehende Revision wird nach § 349 Abs. 2 StPO als
unbegründet verworfen; der Angeklagte ist des sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in vier Fällen
(Fälle II 3 und 12 bis 14 des Urteils) schuldig.
4. Zu neuer Verhandlung und Entscheidung über den
Strafausspruch, ferner über die verbleibenden Kosten der
Revision, wird die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in 14 Fällen (§ 148
Abs. 1 StGB-DDR) zu drei Jahren Freiheitsstrafe (Hauptstrafe nach
§ 64 StGB-DDR) verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat
einen Teilerfolg. Sie führt zur Verfahrenseinstellung wegen
Verfahrenshindernissen in zehn Fällen sowie im
Anschluß daran zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs.
1. Mit dem Generalbundesanwalt geht der Senat von einer fristgerechten
Revisionsbegründung aus, so daß der
Beschluß nach § 346 Abs. 1 StPO auf Antrag des
Angeklagten aufzuheben und über das Wiedereinsetzungsgesuch,
das andernfalls Erfolg gehabt hätte, nicht zu befinden ist.
2. Die ersten beiden abgeurteilten, vor Herbst 1983 begangenen
Fälle (II 1 und 2 des Urteils) sind verjährt. Zwar
war die achtjährige Verjährungsfrist des §
82 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR am 3. Oktober 1990 noch nicht abgelaufen.
Jedoch ist vor Inkrafttreten des 2. Verjährungsgesetzes am 30.
September 1993 auf der Grundlage der nun maßgeblichen
fünfjährigen Verjährungsfrist nach
§ 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB i.V.m. § 148 Abs. 1 StGB-DDR
absolute Verjährung (§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB)
eingetreten (vgl. BGH NStZ 1998, 36; BGH, Beschluß vom 18.
März 1998 - 5 StR 65/98 -). Auch das Inkrafttreten des
§ 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB n.F. am 30. Juni 1994 vermochte dies
schon deshalb nicht zu hindern, da insoweit bereits zuvor absolute
Verjährung eingetreten war (vgl. Tröndle/Fischer StGB
49. Aufl. § 78b Rdn. 3). Die Voraussetzungen der Qualifikation
des § 148 Abs. 2 StGB-DDR sind im angefochtenen Urteil nicht
hinreichend festgestellt; der Senat schließt auch aus,
daß dies in einer neuen Verhandlung nachzuholen wäre.
Die übrigen Fälle sind hingegen nicht
verjährt. Entgegen der Auffassung der Revision wird auch der
Eintritt der absoluten Verjährung bei den verbleibenden, bei
Inkrafttreten des 2. Verjährungsgesetzes noch nicht
verjährten Fällen nach Art. 315a Abs. 2 EGStGB
gehindert (vgl. Jähnke in LK 11. Aufl. § 78 c Rdn.
44; Letzgus NStZ 1994, 57, 63).
3. Die Revision macht zutreffend geltend, daß die
während eines Urlaubes im Harz im Oktober 1985
täglich begangenen acht Mißbrauchsfälle (II
4 bis 11 des Urteils) von der zugelassenen Anklage, welche neben den
drei letzten Fällen (II 12 bis 14) eine über
dreijährige Serie mindestens einmal wöchentlich in
der Berliner Wohnung des Angeklagten begangener
Mißbrauchsfälle betraf, nicht erfaßt
werden. Der tägliche Mißbrauch während des
Harz-Urlaubs war der Staatsanwaltschaft durch die Angaben der
Nebenklägerin im Schreiben vom 13. November 1997 (Bl. 49/Bd. I
der Strafakten) - freilich mit zeitlich abweichender Einordnung - bei
Anklageerhebung bekannt; wegen über die
Anklagevorwürfe hinausgehender weiterer
Mißbrauchshandlungen hat sie das Verfahren nach §
154 Abs. 1 StPO im Blick auf die angeklagten Taten vorläufig
eingestellt (vgl. S. 9 f. der Anklageschrift). Bei dieser Sachlage
hätte es zur Aburteilung dieser weiteren Taten einer
Nachtragsanklage bedurft, die nicht erhoben worden ist. Allein aufgrund
eines rechtlichen Hinweises, der die Verfahrensvoraussetzung einer
zugelassenen Anklage nicht ersetzt, konnten diese Taten nicht mit
abgeurteilt werden. Daß die Zahl der abgeurteilten
Mißbrauchsfälle insgesamt nach weitgehender
Anwendung des § 154 Abs. 2 StPO erheblich hinter der Zahl der
angeklagten Fälle zurückgeblieben ist,
ändert hieran nichts.
4. Hingegen sieht der Senat den an einem Wochenende im Jahre 1984 oder
1985 anläßlich eines Badeausfluges in Berlin
begangenen Mißbrauchsfall II 3 des Urteils als von der
Anklage erfaßt an. Das Landgericht konnte - zudem nach
rechtlichem Hinweis über den genaueren Begehungsort - diese
Tat mit aburteilen, die innerhalb des angeklagten Gesamttatzeitraumes
und ohne Abweichung von der in der Anklage zugrunde gelegten
Tatfrequenz verübt wurde.
Auch wegen der weiteren Fälle besteht kein
Verfahrenshindernis. Soweit sich die Revision gegen den Schuldspruch in
den vier verbleibenden Fällen richtet, ist sie
unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
5. Wenngleich verjährte oder nicht angeklagte Straftaten, wenn
sie rechtsfehlerfrei festgestellt sind, straferschwerend
berücksichtigt werden können, läßt
sich nicht ausschließen, daß die Strafe, bezogen
auf den wesentlich geringeren Schuldumfang der rechtsfehlerfrei
abgeurteilten Taten, milder ausgefallen wäre. Der Senat hebt
daher den Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen
auf.
Er weist darauf hin, daß für die nicht angeklagten
wie für die weiteren bislang nicht abgeurteilten - weitgehend
nach § 154 Abs. 2 StPO vom Landgericht eingestellten -
Anklagevorwürfe, soweit sie nicht absolut verjährt
sind, kein dauerndes Verfahrenshindernis besteht, so daß der
neue Tatrich-
ter nicht gehindert wäre, sie im Falle der Anklageerhebung
bzw. Wiederaufnahme nach Verfahrensverbindung - soweit bislang nicht
angeklagt, erneut - festzustellen und gegebenenfalls mit abzuurteilen.
Harms Häger Basdorf
Nack Gerhardt |