BGH,
Beschl. v. 9.11.2005 - 4 StR 483/05
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StGB § 66 b Abs. 1 und 2
1. Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte
aufklären müssen, um entscheiden zu können,
ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66 a
StGB anzuordnen ist, waren erkennbar und sind daher nicht
„neu“ im Sinne des § 66 b StGB.
2. Die Frage der Erheblichkeit der „neuen Tatsache“
für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage,
die vom Gericht in eigener Verantwortung und ohne Bindung an die
Auffassung der gehörten Sachverständigen zu
beantworten ist.
3. Aus der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung
als eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
gehörende Maßnahme folgt, dass sich die
Erheblichkeit der berücksichtigungsfähigen
„neuen Tatsache“ vor dem Hintergrund der bei der
Anlassverurteilung bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit
beurteilt. Sie setzt daher voraus, dass die „nova“
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in einem prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der
Anlassverurteilung stehen.
BGH, Beschluss vom 9.11.2005 - 4 StR 483/05 - Landgericht
Münster
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 483/05
vom
9.11.2005
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung mit Todesfolge hier:
nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs-
verwahrung
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des
Generalbundesanwalts und nach Anhörung des
Beschwerdeführers am 9.11.2005 gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO einstimmig beschlossen:
Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil des Landgerichts
Münster vom 8.07.2005 wird als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des
Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß
§ 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Hiergegen wendet sich die
Revision des Verurteilten, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts
beanstandet. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Der Verurteilte war vom Landgericht mit Urteil vom 10. Oktober 1996
wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe
von neun Jahren verurteilt worden. Ferner wurde seine Unterbringung in
einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Voraussetzungen der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung hatte das Landgericht mit der
Begründung verneint, dass ein Hang des Verurteilten zu
erheblichen Straftaten nicht festgestellt werden könne.
Gegenstand der Verurteilung war ein Tatgeschehen, in dessen Verlauf der
infolge vorausgegangenen Drogen- und Alkoholgenusses in seiner
Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte
Verurteilte dem Tatopfer unter anderem mit großer Wucht
mindestens 13 in den Kopf- und Halsbereich geführte
Fußtritte versetzte, an deren Folgen es kurze Zeit
später verstarb. Der Verurteilte befand sich zu-
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nächst im Maßregelvollzug. Am 2. Februar 1998
ordnete die zuständige Strafvollstreckungskammer an, dass die
Unterbringung in der Entziehungsanstalt nicht weiter zu vollziehen sei.
Nachdem die hiergegen gerichtete Beschwerde des Verurteilten erfolglos
geblieben war, wurde er am 27. März 1998 in den Strafvollzug
verlegt. Als Entlassungstermin war zuletzt der 10.03.2005 vorgesehen.
Unter dem 1.03.2005 hat die Staatsanwaltschaft beantragt, die
nachträgliche Sicherungsverwahrung des Verurteilten nach
§ 66 b StGB anzuordnen. Am 9.03.2005 erging gegen den
Verurteilten Unterbringungsbefehl gemäß §
275 a Abs. 6 StPO.
2. Das Landgericht hat die Voraussetzungen des § 66 b Abs. 2
StGB bejaht. Als „neue Tatsachen“ im Sinne dieser
Bestimmung hat es folgende Umstände gewertet: die
„zwischenzeitlich verfestigte dissoziale
Persönlichkeitsstörung“ des Verurteilten,
ein bei ihm festgestellter „frontal betonter
Hirnsubstanzdefekt“, seine wiederholten verbal-aggressiven
Angriffe und Drohungen auf Bedienstete im Vollzug sowie seine
Therapieunfähigkeit bzw. -unwilligkeit. Im Rahmen einer
anschließenden Gesamtwürdigung ist es
sachverständig beraten durch die Psychiater Dr. K. und W. zu
der Einschätzung gelangt, dass der Verurteilte in Freiheit mit
hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch
welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer
geschädigt werden.
3. Diese Beurteilung hält, wenn auch nicht in allen Punkten
ihrer Begründung, so doch im Ergebnis rechtlicher
Nachprüfung stand.
a) Das Landgericht hat die Eingangsvoraussetzung des § 66 b
Abs. 2 StGB zutreffend bejaht. Der Verurteilte ist durch das Urteil vom
10. Oktober
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1996 wegen Körperverletzung mit Todesfolge, d.h. wegen eines
Verbrechens gegen die körperliche Unversehrtheit, zu einer
Freiheitsstrafe verurteilt worden, die die erforderliche
Mindesthöhe von fünf Jahren übersteigt.
b) Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung setzt
des Weiteren gemäß § 66 b Abs. 2 i.V.m Abs.
1 StGB voraus, dass nach der Verurteilung wegen einer der genannten
Straftaten Tatsachen erkennbar werden, die auf eine erhebliche
Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit
hinweisen. An diese Voraussetzung, deren positive Feststellung erst das
Tor zur anschließenden umfassenden Gesamtwürdigung
öffnet (vgl. Kinzig JZ 2005, 1066, 1067; Ullenbruch NStZ 2005,
563, 564 [„Türöffner“]), sind
strenge Anforderungen zu stellen. Bei der Anordnung der zeitlich nicht
befristeten Maßregel der nachträglichen
Sicherungsverwahrung handelt es sich um eine den Verurteilten
außerordentlich beschwerende Maßnahme. Sie soll
nach dem Willen des Gesetzgebers auf seltene Einzelfälle
beschränkt sein (BTDrucks. 15/2887 S. 10, 12 und 13; vgl. auch
BVerfGE 109, 190, 236; BGH NStZ 2005, 561, 562). Dem Erfordernis der
„neuen Tatsache“ kommt dabei eine
maßgebliche Filterfunktion
aa) „Neue Tatsachen“ im Sinne des § 66 b
StGB sind zunächst nur solche, die nach der letzten
Verhandlung in der Tatsacheninstanz und vor Ende des Vollzugs der
verhängten Freiheitsstrafe bekannt oder erkennbar geworden
sind (vgl. BGH NJW 2005, 3078, 3080; NStZ 2005, 561, 562).
Umstände, die dem ersten Tatrichter bekannt waren, scheiden
daher in jedem Fall aus. Aber auch Tatsachen, die ein
sorgfältiger Tatrichter mit Blick auf § 244 Abs. 2
StPO hätte aufklären müssen, um entscheiden
zu können, ob eine Maßregel nach
§§ 63, 64, 66, 66 a StGB anzuordnen ist, waren
erkennbar und sind daher nicht „neu“ im Sinne des
§ 66 b StGB. Rechtsfehler, die durch deren
Nichtberück-
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sichtigung entstanden sind, können nicht durch die Anordnung
einer nachträglichen Sicherungsverwahrung korrigiert werden
(BGH aaO). Die bloße neue (abweichende) Bewertung bereits bei
der Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt
daher keine „neue“ Tatsache dar.
bb) Darüber hinaus müssen die nachträglich
erkennbar gewordenen Tatsachen eine „gewisse
Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten (BTDrucks. aaO
S.12; Lackner/Kühl StGB 25. Aufl. § 66 b Rdn. 4). Die
Frage der Erheblichkeit der „neuen Tatsache“
für die Gefährlichkeitsprognose ist eine Rechtsfrage,
die vom Gericht in eigener Verantwortung ohne Bindung an die Auffassung
der gehörten Sachverständigen zu beantworten ist. Aus
der Rechtsnatur der nachträglichen Sicherungsverwahrung als
eine zum Strafrecht im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
gehörende Maßnahme, die an eine Straftat
anknüpft und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der
Anlasstat bezieht (vgl. BVerfGE 109, 190, Leitsatz Ziff.1 Buchst. a)
folgt, dass sich die Erheblichkeit der
berücksichtigungsfähigen „neuen
Tatsache“ vor dem Hintergrund der bei der Anlassverurteilung
bereits hervorgetretenen Gefährlichkeit beurteilt und deshalb
voraussetzt, dass die „nova“ in einem
prognoserelevanten symptomatischen Zusammenhang mit der
Anlassverurteilung stehen.
c) Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist das
Landgericht ohne durchgreifenden Rechtsfehler von dem Vorliegen
prognoserelevanter „neuer“ Tatsachen ausgegangen.
aa) Allerdings begegnet die Auffassung des Landgerichts, die
„zwischenzeitlich verfestigte dissoziale
Persönlichkeitsstörung“ des Angeklagten
stelle eine „neue Tatsache“ dar, rechtlichen
Bedenken. Das Landgericht hat hierzu zur Begründung
ausgeführt, zwar habe schon der vom früheren
Tatrichter gehörte Sachverständige in seinem
Gutachten Gesichtspunkte angeführt, welche
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zum Befund einer dissozialen Persönlichkeitsstörung
gehören. Eindeutig sei aber eine solche damals nicht
festgestellt worden. Auch habe die damals erkennende
Schwurgerichtskammer offenbar die Aussagen des
Sachverständigen nicht im Sinne des Vorliegens einer
dissozialen Persönlichkeitsstörung verstanden. Diese
Feststellungen belegen nicht das Vorliegen einer „neuen
Tatsache“. Eine neue Bewertung bereits bei der
Anlassverurteilung bekannter oder erkennbarer Tatsachen stellt - wie
bereits ausgeführt - keine „neue“ Tatsache
dar. Soweit das Landgericht weiterhin darauf abstellt, die
Persönlichkeitsstörung des Verurteilten sei
„jedenfalls in ihrer nunmehrigen Qualifizierung und auch in
ihrem Ausmaß“ zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung
nicht bekannt gewesen, lassen die Urteilsgründe nicht
erkennen, auf welche konkrete „neue“
(Anknüpfungs-) Tatsache sich diese Aussage gründet.
bb) Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Landgericht in dem nunmehr
aufgrund einer Computertomographie bei dem Verurteilten festgestellten
„frontal betonten Hirnsubstanzdefekt“ eine
„neue Tatsache“ gesehen.
Zwar lag dieser Defekt nach Einschätzung der gehörten
Sachverständigen, denen das Landgericht gefolgt ist, bereits
zum Zeitpunkt der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden Tat vor und
war mitursächlich für die „massive und
impulshaft ausagierende Aggressionshandlung“ des Verurteilten
zum Nachteil des damals betroffenen Tatopfers. Er war jedoch nach den
getroffenen Feststellungen für den damaligen Tatrichter nicht
erkennbar, da der in jenem Verfahren gehörte
Sachverständige einen Hirnschaden als Ursache seelischer
Störungen ausdrücklich ausgeschlossen hatte. In
Anbetracht dessen war der frühere Tatrichter auch nicht unter
Aufklärungsgesichtspunkten gehalten, von sich aus auf die
Fertigung einer Computertomographie hinzuwirken, mittels derer der
Hirnsubstanzdefekt hätte festgestellt werden können.
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Der nachträglich erkennbar gewordene Hirnsubstanzdefekt stellt
auch vor dem Hintergrund der Anlassverurteilung eine für die
Gefährlichkeitsprognose erhebliche Tatsache dar. Er bewirkt
nach den Ausführungen der gehörten
Sachverständigen, die sich das Landgericht zu Eigen gemacht
hat, eine zusätzliche Verringerung der schon durch die
Persönlichkeitsstörung reduzierten
Impulskontrollfunktionen und erhöht damit die bereits bei der
Anlasstat hervorgetretene Gefahr impulshafter Aggressionshandlungen
durch den Verurteilten.
cc) Nicht zu beanstanden ist auch die Bewertung der
Therapieunwilligkeit des Verurteilten als „neue
Tatsache“ im Sinne des § 66 b StGB (vgl. BGH NStZ
2005, 561, 563).
Nach den Feststellungen hat sich der Verurteilte bereits zu Beginn des
Maßregelvollzugs in Schloß H. als therapieunwillig
gezeigt. Schon im Erstgespräch mit der für ihn
zuständigen Sozialtherapeutin hat er die Auffassung vertreten,
nicht in den Maßregelvollzug nach § 64 StGB zu
gehören. Die Teilnahme an der vorgesehenen
Beschäftigungstherapiemaßnahme lehnte er ab. Bereits
in der ersten Woche seines Aufenthalts kam es zu einem
Suchtmittelrückfall. Wenig später wurde bei ihm ein
positiver Cannabisbefund festgestellt. Anfang August 1997
flüchtete er gemeinsam mit einem Mitpatienten aus dem
Maßregelvollzug. Während der Flucht konsumierte er
erneut Alkohol und Drogen. Nach seiner anschließenden
Festnahme hat er gegenüber einer behandelnden Ärztin
erklärt, „dass er nur nach H. gekommen sei, weil er
nicht in die Sicherungsverwahrung gewollt habe“. Auch nach
Überstellung in den Strafvollzug zeigte sich der Verurteilte
Therapiemaßnahmen gegenüber stets ablehnend.
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Die Therapieunwilligkeit des Angeklagten stellt damit ebenfalls eine
„neue“ Tatsache dar. Der Verurteilte hat im
Ausgangsverfahren ausdrücklich seine Therapiebereitschaft
bekundet. Der damalige Tatrichter hat daraufhin von der
Möglichkeit der Anordnung der Unterbringung in einer
Entziehungsanstalt nach § 64 StGB Gebrauch gemacht. Dass die
Therapiebereitschaft des Verurteilten nur vorgetäuscht war,
hat er dabei ersichtlich nicht erkannt. Hinreichende Anhaltspunkte
dafür, dass er die Täuschung bei gebotener Sorgfalt
hätte erkennen müssen, bestehen nicht.
Die Therapieunwilligkeit stellt schließlich auch vor dem
Hintergrund der Anlassverurteilung eine
„erhebliche“ Tatsache dar, da die
Suchtmittelabhängigkeit des Verurteilten
mitursächlich für die Begehung der Anlasstat war.
dd) Einer Entscheidung, ob die vom Landgericht weiterhin herangezogenen
verbal aggressiven Angriffe und Drohungen gegenüber
Vollzugsbediensteten als „neue Tatsachen“ im Sinne
des § 66 b StGB zu werten sind, bedarf es daher nicht.
d) Schließlich ist das Landgericht in einer
sorgfältigen und umfassenden Gesamtwürdigung der
Person des Verurteilten, der Anlasstat sowie früherer Taten
und - ergänzend - seiner Entwicklung im Strafvollzug im
Anschluss an die angehörten Sachverständigen zu dem
Ergebnis gelangt, dass der Verurteilte in Freiheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten der in § 66 b Abs. 2
StGB genannten Art begehen wird. Hierbei hat es namentlich auf die bei
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ihm diagnostizierte Persönlichkeitsstörung, seine
fortbestehende Benzodiazepan-, Opiat- und Alkoholabhängigkeit
sowie auf die hirnorganisch bedingte zusätzliche Reduktion
seines Hemmungsvermögens abgestellt. Dies lässt
Rechtsfehler nicht erkennen.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible
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