BGH,
Urt. v. 1.12.2000 - 2 StR 329/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 329/00
vom
1. Dezember 2000
in der Strafsache gegen
wegen Körperverletzung mit Todesfolge
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung
vom 29. November 2000 in der Sitzung vom 1. Dezember 2000, an denen
teilgenommen haben: Vizepräsident des Bundesgerichtshofes Dr.
Jähnke als Vorsitzender, die Richter am Bundesgerichtshof
Detter, Dr. Bode, Rothfuß, Prof. Dr. Fischer als beisitzende
Richter, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin in der Verhandlung, Justizangestellte
bei der Verkündung als Urkundsbeamtinnen der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Mühlhausen vom 26. April 2000 aufgehoben.
Der Angeklagte wird freigesprochen.
Die Kosten des Verfahrens und die dem Angeklagten entstandenen
notwendigen Auslagen hat die Staatskasse zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung mit
Todesfolge zu der Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren
Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Mit seiner Revision
rügt der Angeklagte die Verletzung des formellen und
materiellen Rechts. Die Revision hat mit der Sachrüge Erfolg
und führt zum Freispruch des Angeklagten, weil die
Feststellungen des Landgerichts die Verurteilung des Angeklagten nicht
tragen und nicht zu erwarten ist, daß in einer neuen
Hauptverhandlung weitere zum Schuldnachweis erforderliche
Feststellungen getroffen werden können.
Das Landgericht hat im wesentlichen festgestellt:
1. Der 21-jährige Angeklagte war 1950 bei der Grenzpolizei der
DDR im Bereich Jützenbach (Kreis Eichsfeld) an der Grenze zur
Bundesrepublik Deutschland als Grenzposten tätig. Es gab dort
weder Grenzzäune noch Sicherungsanlagen. Die Grenzposten
hatten den Auftrag, den damals herrschenden regen Grenzverkehr zu
unterbinden und Grenzverletzer festzunehmen. Als Grenzverletzer galten
Personen, die die Grenze überschritten - gleich in welcher
Richtung - und solche, die sich ohne Erlaubnis in der 5 km tiefen
Sperrzone hinter der Grenze aufhielten.
Am 3. September 1950 hatte das spätere Tatopfer V., der in der
Bundesrepublik Deutschland wohnte, ohne Erlaubnis die Grenze passiert,
um mit dem Fahrrad seine Mutter in der DDR zu besuchen. Innerhalb der
Sperrzone traf er auf den Angeklagten und seinen Postenführer
H., die durch ihre Uniform als Grenzpolizisten erkennbar waren. H.
forderte V. auf stehenzubleiben. Nach diesem Zuruf beschleunigte V.
seine Fahrt mit dem Fahrrad. Der Angeklagte und H., die beide mit einem
Karabiner K 98 bewaffnet waren, gaben Warnschüsse ab. Da V.
seine Fahrt nochmals beschleunigte, zielte der Angeklagte auf den
unteren Bereich des inzwischen ca. 150 m entfernten Fahrrads und gab
einen Schuß ab. V. wurde von der Kugel in Höhe der
Leber-Lungengrenze getroffen und war sofort tot. Der Angeklagte hatte
bei dem Schuß die Absicht, V. anzuhalten und festzunehmen. Er
nahm eine Körperverletzung des V. durch Treffen der Beine
billigend in Kauf, nicht aber dessen Tod, der jedoch für ihn
voraussehbar war. Der Angeklagte hielt V. für einen
Grenzverletzer, der aber keine darüber hinausgehende Gefahr
darstellte.
2. Der Angeklagte war unterrichtet worden, wann und wie er nach den
geltenden Dienstvorschriften von der Schußwaffe Gebrauch
machen durfte. Er hielt sein Vorgehen nach den damals geltenden
Dienstanweisungen und Instruktionen für
rechtmäßig. Für die Grenzposten galten
insoweit insbesondere folgende Bestimmungen:
a) Nach § 19 Buchst. a und b der "Dienstanweisung für
die Grenzpolizei zur Bewachung der Demarkationslinie in der
Sowjetokkupationszone Deutschlands vom 23. August 1947 (Anlage zum
Befehl 0155)" war ein Polizist, welcher als Posten zur
Überwachung der Demarkationslinie eingesetzt war,
verpflichtet, das Überschreiten und Überfahren der
Demarkationslinie in die Seite der Sowjetokkupationszone und
zurück nicht zuzulassen und Personen, die die
Demarkationslinie an beliebigen Stellen zu überschreiten oder
überfahren versuchten festzunehmen und dem Polizeikommando
oder der Polizeikommandatur zu übergeben.
Gemäß § 20 Buchst. b der Dienstanweisung
durfte die Waffe von der Polizei u.a. angewendet werden beim
Flüchten der Verletzer der Demarkationslinie, wenn es kein
anderes Mittel für ihre Festnahme gab (wie Haltruf,
Schuß in die Luft).
b) In der "Instruktion für die Grenzpolizeiorgane zum Schutze
der Grenze und der Demarkationslinie der SBZ Deutschlands (Befehl
0116)" heißt es in § 27 Buchst. b, der Posten der
Grenzpolizei könne von der Waffe Gebrauch machen bei Flucht
des Grenzverletzers, wenn alle anderen Möglichkeiten der
Festnahme (Haltrufe, Warnschuß) erschöpft sind.
c) Nach Nr. 221 Abs. 5 der "Instruktion der Deutschen Verwaltung des
Innern" vom 20. Juli 1949 hatten die Grenzposten und Grenzstreifen beim
Versuch einer Person, die Grenze ohne Berechtigung zu
überschreiten, alle Maßnahmen zu ergreifen, diese
ohne Waffengebrauch festzunehmen. Dies konnte durch einen Halt- und
Warnruf geschehen oder, falls die Person nicht stehenblieb, durch einen
Warnschuß in die Luft. Blieb auch dies erfolglos, so war,
falls nicht noch andere Möglichkeiten der Festnahme gegeben
waren, der direkte Waffengebrauch nach den Vorschriften der SMAD
(Sowjetische Militäradministration in Deutschland)
über den Waffengebrauch der Grenzschutzpolizei gestattet.
d) Gemäß B V. der Sonderanweisung Nr. 1
über Waffengebrauch des Thüringer Ministeriums des
Innern vom 23. Februar 1948 hatte der Polizeiangestellte bei der Abgabe
von Zielschüssen möglichst auf die Beine zu zielen,
damit der Täter zur Aburteilung dem Richter zugeführt
werden konnte. Flüchtete der Täter mit einem
Fahrzeug, war die Waffenwirkung in erster Linie auf die
Unbrauchbarmachung des Verkehrsmittels zu richten.
3. Der Angeklagte meldete den Vorfall bei seiner Dienststelle und holte
Hilfe. Er wurde eingehend polizeilich zu den Geschehnissen vernommen.
Mit der Untersuchung sollte überprüft werden, ob der
Angeklagte und sein Postenführer H. die Dienstanweisungen
beachtet hatten, insbesondere, ob sie V. zum Anhalten aufgefordert und
sodann Warnschüsse abgegeben hatten. Dies wurde als Ergebnis
der Untersuchung bejaht. Von der Einleitung/Einstellung eines
strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens konnte sich das Landgericht
nicht überzeugen, obwohl ein Schreiben der Hauptverwaltung
Deutsche Volkspolizei vom 9. Mai 1951 hierauf hindeutet. Der Angeklagte
wurde nach dem Vorfall zu einer anderen Einheit der Grenzpolizei
versetzt und schließlich am 30.11.1950 auf seinen Antrag
entlassen.
4. Das Landgericht meint, der Angeklagte habe rechtswidrig und
schuldhaft gehandelt. Er hätte erkennen können,
daß der Schuß auf V. nicht
rechtmäßig gewesen sei. Soweit ihm die
Unrechtseinsicht gefehlt habe, liege ein vermeidbarer Verbotsirrtum
vor. Auch nach § 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1 StGB-DDR
sei der Angeklagte nicht entschuldigt, da er habe erkennen
können, daß seine Handlung rechtswidrig gewesen sei.
II.
Die Verurteilung des Angeklagten hält der sachlich-rechtlichen
Prüfung nicht stand.
1. Nach dem festgestellten Sachverhalt hat der Angeklagte den
Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge
erfüllt. Einen bedingten Tötungsvorsatz hat das
Landgericht im Ergebnis ohne Rechtsfehler verneint. Hierdurch ist der
Angeklagte nicht beschwert. Auch in einer neuen Hauptverhandlung
wären weitergehende Feststellungen zu dem vom Landgericht
vermißten Willenselement eines bedingten
Tötungsvorsatzes 50 Jahre nach der Tat nicht mehr zu erwarten.
Unter diesen Umständen muß auch die vom Landgericht
vorgenommene Abgrenzung zwischen bedingtem Tötungsvorsatz und
bewußter Fahrlässigkeit im Ergebnis nicht
beanstandet werden.
2. Entgegen der Annahme des Landgerichts ist aber bereits zweifelhaft,
ob die Tat des Angeklagten rechtswidrig war. Es besteht die nicht
geringe Wahrscheinlichkeit, daß sie durch die damalige
Befehlslage und die dem Angeklagten erteilten Dienstanweisungen gedeckt
und damit gerechtfertigt war. Die rechtfertigende Wirkung der damaligen
Befehlslage ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil erst durch
das Grenzgesetz von 1982 eine gesetzliche Grundlage für den
Schußwaffengebrauch an der Grenze geschaffen wurde. Es ist
vielmehr davon auszugehen, daß - jedenfalls zur Tatzeit und
vor Inkrafttreten des Volkspolizei-Gesetzes von 1968 und des
Grenzgesetzes von 1982 - die vom Tatrichter genannten noch aus der Zeit
vor der Gründung der DDR stammenden, aber fortgeltenden
Befehle, Dienstanweisungen und Instruktionen als eine ausreichende
formelle Rechtsgrundlage angesehen wurden (vgl. BGHSt 40, 241, 242 f.;
41, 101, 103 f.). Die Überprüfung des Verhaltens des
Angeklagten hatte zum Ergebnis, daß er nicht gegen die
Dienstanweisungen verstoßen hatte. Eine Bestrafung des
Angeklagten ist damals nicht erfolgt. Unter diesen Umständen
ist zu seinen Gunsten davon auszugehen, daß die bestehende
Befehlslage des Jahres 1950 nach der damaligen Staatspraxis der DDR
ausreichte, sein Verhalten und den Schußwaffengebrauch
gegenüber V. zu rechtfertigen.
Von der Frage, ob das Verhalten des Angeklagten nach dem Recht der DDR,
wie es in der Befehlslage und der Staatspraxis angewandt wurde,
gerechtfertigt war, ist die weitere Frage zu unterscheiden, ob der so
verstandene Rechtfertigungsgrund wegen Verletzung vorgeordneter, auch
von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines
extremen Verstoßes gegen das
Verhältnismäßigkeitsprinzip außer
Betracht bleiben muß. Allerdings müssen
Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener
Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen wird, auf extreme
Ausnahmen beschränkt bleiben. Dementsprechend hat der
Bundesgerichtshof die Geltung eines zur Tatzeit angenommenen
Rechtfertigungsgrunds beim Schußwaffengebrauch
gegenüber Grenzverletzern an der innerdeutschen Grenze dann
verneint, wenn er das (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche
Töten von Personen deckte, die nichts weiter wollten, als
unbewaffnet und ohne Gefährdung anerkannter
Rechtsgüter die Grenze zu überschreiten (BGHSt 39, 1,
14 f.; 41, 101, 103 ff.). Nur das Anlegen von Minensperren an der
innerdeutschen Grenze wurde auch bei Körperverletzungsvorsatz
als offensichtlich rechtswidrig erachtet (BGHSt 44, 204, 208). Ob der
Schußwaffengebrauch zum Zweck der Festnahme des
Grenzverletzers auf dem Gebiet der DDR auch dann als rechtswidrig
anzusehen ist, wenn er nicht mit Tötungs-, sondern mit
Körperverletzungsvorsatz erfolgte, hat der Bundesgerichtshof
bisher regelmäßig offengelassen, weil die
Angeklagten in den zu entscheidenden Fällen entschuldigt waren
und zwar wegen Handelns auf Befehl (§ 258 Abs. 1 i.V.m.
§ 81 Abs. 3 StGB-DDR; § 5 Abs. 1 WStG [analog] i.V.m
§ 2 Abs. 3 StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB; BGH NStZ 1993, 488;
BGHSt 41, 10, 15, vgl. auch 42, 65, 71; 42, 356, 364) oder zumindest
wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (BGHSt 39, 168, 194 f.).
3. Auch im vorliegenden Fall bedarf es keiner abschließenden
Erörterung und Entscheidung, ob das Verhalten des Angeklagten
rechtswidrig war. Denn sein Verhalten war jedenfalls auf Grund einer
entsprechenden Anwendung von § 258 Abs. 1 StGB-DDR, §
5 Abs. 1 WStG, § 7 Abs. 2 Satz 2 UZwG, § 2 Abs. 3
StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB wegen Handelns auf Befehl entschuldigt.
Zur Tatzeit bestand in der DDR zwar keine gesetzliche Regelung, aus der
zu folgern war, unter welchen Voraussetzungen eine auf Befehl begangene
rechtswidrige Handlung entschuldigt war. § 5 Abs. 1 WStG und
§ 7 Abs. 2 Satz 2 UZwG haben für Grenzpolizisten der
DDR nicht gegolten; zudem waren diese Vorschriften zur Tatzeit ebenso
wenig erlassen wie § 258 Abs. 1 StGB-DDR. Gleichwohl sind
diese Vorschriften mit ihrem Regelungsgehalt für die
Beurteilung des Schußwaffengebrauchs an der innerdeutschen
Grenze unter dem Gesichtspunkt des milderen Rechts (§ 2 Abs. 3
StGB, Art. 315 Abs. 1 EGStGB) entsprechend heranzuziehen. Für
§ 5 Abs. 1 WStG, § 258 Abs. 1 StGB-DDR hat der
Bundesgerichtshof dies bereits entschieden (BGHR WStG § 5 Abs.
1 Schuld 3 = NStZ-RR 1996, 323 ff.). Für § 7 Abs. 2
Satz 2 UZwG, der für den hier betroffenen Bereich der
Grenzpolizei sachnäher wäre, gilt nichts anderes.
Auch nach dieser Vorschrift trifft den auf Anordnung handelnden
Vollzugsbeamten eine Schuld nur, wenn er erkennt oder wenn es nach den
ihm bekannten Umständen offensichtlich ist, daß er
durch das Befolgen einer dienstlichen Anordnung eine Straftat begeht.
Da sich der Regelungsgehalt dieser Vorschriften inhaltlich entspricht,
kann dahingestellt bleiben, welche von ihnen für den Fall des
Angeklagten entsprechend anzuwenden ist. Der
Schuldausschließungsgrund entfällt daher nicht - wie
das Landgericht meint (UA S. 17) - bereits dann, wenn der Grenzpolizist
erkennen konnte, daß sein Handeln rechtswidrig war.
Der Angeklagte handelte im Sinne dieser Vorschriften auf
Befehl/Anordnung. Er hatte als Grenzposten den Auftrag,
Grenzübertritte zu verhindern und Grenzverletzer festzunehmen,
falls erforderlich auch unter Anwendung seiner Dienstwaffe. Teilweise
waren die Dienstanweisungen für die Grenzpolizei
ausdrücklich als Befehl bezeichnet. Militärische oder
polizeiliche Dienstvorschriften enthalten in der Regel Dauerbefehle,
die an alle Untergebenen gerichtet sind, die mit den dort bestimmten
Tätigkeiten und Aufgaben befaßt sind. Der Befehl/die
Anordnung muß nicht persönlich oder für
einen konkreten Einzelfall erteilt sein. Auch das Einräumen
eines Ermessenspielraums ändert nichts an dem Charakter eines
Befehls (vgl. § 2 Nr. 2 WStG; Schölz/Lingens,
Wehrstrafgesetz 4. Aufl. § 2 WStG Rdn. 7-11; Riegel in
Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze § 2 WStG Rdn. 4
jew. m.w.N.). Es ist daher unschädlich, daß der
Postenführer H. dem Angeklagten den
Schußwaffengebrauch gegen V. nicht befohlen hatte.
Der Angeklagte hat nach den Feststellungen des Landgerichts nicht
erkannt, daß er durch den Schußwaffengebrauch
gegenüber V. eine - möglicherweise - rechtswidrige
Tat beging. Dies war nach den ihm bekannten Umständen auch
nicht offensichtlich. Der Strafrechtsverstoß ist nur
offensichtlich, wenn er jenseits allen Zweifels auf der Hand liegt;
eine Prüfungspflicht obliegt dem Soldaten oder
Vollzugsbediensteten nicht (BGHSt 39, 1, 33; 39, 168, 189; 40, 241, 250
f.; 41, 10, 15; NStZ 1993, 488; 1995, 286; NStZ-RR 1996, 323 ff.).
Die Anwendung unmittelbaren Zwangs im Grenzbereich
einschließlich des Gebrauchs von Schußwaffen ist
grundsätzlich rechtlich nicht zu beanstanden, wenn dies auf
der Grundlage von Regelungen, die mit rechtsstaatlichen
Grundsätzen vereinbar sind, erfolgt, um die Flucht
möglicher Rechtsbrecher zu verhindern. Der Einsatz der
Schußwaffe gegen eine Person, die unerlaubt die Grenze
überschritten hat und sich - wie V. - der Festnahme durch die
Flucht entziehen will, ist nicht offensichtlich rechtsstaatswidrig
(vgl. BGH NStZ 1995, 286 = BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 1
m.w.N.). Die für den Angeklagten zur Tatzeit geltende
Befehlslage war - für sich genommen - nicht offensichtlich
rechtsstaatswidrig, da sie hinreichende Anhaltspunkte für eine
am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
orientierte Auslegung der Vorschriften für den
Schußwaffengebrauch bot. Bei der Beurteilung der Frage, ob
das Verhalten des Angeklagten aus seiner Sicht offensichtlich
rechtswidrig war, fällt entscheidend zu seinen Gunsten ins
Gewicht, daß er bei seinem Vorgehen gegen V. lediglich dessen
Verletzung, nicht aber dessen Tötung billigend in Kauf nahm.
Zudem hielt er sich für einen guten Schützen, und die
Sichtverhältnisse waren günstig. Da es für
die Beurteilung der offensichtlichen Rechtswidrigkeit auf die dem
Angeklagten zur Tatzeit bekannten Umstände ankommt, kann
ferner nicht außer Betracht bleiben, daß die
Lebenserfahrung des 1950 noch jungen Angeklagten nach Rückkehr
aus der Kriegsgefangenschaft von den Einflüssen in der
Sowjetischen Besatzungszone und der DDR geprägt war. Der
Sicherung der innerdeutschen Grenze wurde - auch auf Grund der noch von
der SMAD bestimmten Befehlslage - von Seiten der DDR schon zu dieser
Zeit große Bedeutung beigemessen, da sie nicht nur die
Staatsgrenze, sondern zugleich die Demarkationslinie für den
Ostblock bildete. Dies wirkte sich auch auf die persönlichen
Erfahrungen des Angeklagten aus, der kurze Zeit vor dem Zusammentreffen
mit V. mit Arrest bestraft worden war, weil er aus Nachsicht einen aus
der Kriegsgefangenschaft kommenden Grenzverletzer aus Mitleid wieder
freigelassen hatte. Daß gerade dieser Vorgang - wie das
Landgericht meint - die Erkenntnis des Angeklagten befördert
haben könnte, daß der Schußwaffengebrauch
auch gegenüber V. nicht rechtmäßig war, ist
nicht nachvollziehbar. Die Gesamtwürdigung der
Umstände des Tatgeschehens belegt, daß der
Schußwaffengebrauch des Angeklagten gegenüber V.
jedenfalls nicht
o f f e n s i c h t l i c h eine rechtswidrige Tat war. Im Ergebnis
entspricht diese Wertung der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs: Auf Schußwaffengebrauch, auch
gegenüber unbewaffneten Grenzverletzern, der nicht mit
Tötungsvorsatz einherging, wurde bisher noch in keinem Fall
die Verurteilung eines Grenzsoldaten gestützt (vgl. u.a. BGHSt
42, 65, 71; 42, 356, 364). Das Verhalten des Angeklagten bietet keine
Besonderheiten, die eine hiervon abweichende Beurteilung rechtfertigen
könnten.
Der Senat hat den Angeklagten entsprechend § 354 Abs. 1 StPO
freigesprochen, weil es im Hinblick auf die seit der Tat im Jahre 1950
verstrichene Zeit ausgeschlossen erscheint, daß in einer
neuen Hauptverhandlung weitere für einen Schuldspruch
erforderliche Feststellungen getroffen werden können.
Jähnke Detter Bode
Rothfuß Fischer |