BGH,
Urt. v. 10.8.2005 - 2 StR 209/05
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 209/05
vom
10.08.2005
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10.
August
2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts
Aachen vom 16. November 2004 mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben, soweit die Anordnung der Unterbringung
des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt
wurde.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung
zu der Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die
Staatsanwaltschaft
rügt mit ihrem wirksam beschränkten Rechtsmittel, das
vom Generalbundesanwalt
vertreten wird, die Verletzung materiellen Rechts und erstrebt die
Anordnung
der vom Landgericht abgelehnten Unterbringung des Angeklagten in
einem psychiatrischen Krankenhaus.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
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1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:
Der Angeklagte zog nach Abbruch eines Studiums 1998 in das Elternhaus
zurück und geriet in eine "Lebenskrise". Er war psychisch und
materiell
von seinem Vater abhängig.
Im Juli 2003 traf der Angeklagte das spätere Tatopfer, die
Zeugin J. Er
suchte Kontakt zu ihr, und es kam zu einer näheren
Bekanntschaft.
Anfang November 2003 starb der Vater des Angeklagten. In dieser
Situation
suchte er verstärkt Halt bei der Zeugin J., den diese
zunächst bei mehreren
Treffen auch gewährte. Am 27. Dezember 2003 teilte sie dem
Angeklagten
jedoch telefonisch mit, dass sie an einer Fortsetzung der Beziehung
nicht interessiert
sei und künftig keinen Kontakt mehr mit ihm wünsche.
Dies nahm der
Angeklagte zum Anlass, der Zeugin in der Folgezeit massiv nachzustellen.
Am Tattag, dem 18. März 2004, suchte er zunächst
einen Nervenarzt
und eine sozialpsychiatrische Einrichtung auf. Die Beratungen verliefen
aber
nicht zu seiner Zufriedenheit. Gegen 16.30 Uhr fuhr er auf den
Parkplatz, auf
dem die Zeugin J. während ihrer Arbeit in einer Kurklinik ihr
Fahrzeug abstellte,
steckte sich ein Fahrtenmesser in die Jackentasche und wartete auf die
Zeugin.
Diese wollte ihn ignorieren. Der Angeklagte verstellte jedoch die
Tür ihres
Fahrzeugs und bat, ihm zwei Minuten zuzuhören. Da die Zeugin
dies ablehnte,
entwickelte sich eine verbale Auseinandersetzung. Als die Zeugin
einsteigen
wollte, drückte sie der Angeklagte schmerzhaft gegen ein
daneben stehendes
Fahrzeug. Sie warf dem Angeklagten Brutalität vor und dass
dies u.a. ein
Grund sei, weshalb sie nichts mit ihm zu tun haben wolle. Da die Zeugin
erkannte,
dass sie der Angeklagte nicht einsteigen lassen würde, wollte
sie in
raschem Gang in die Kurklinik zurückkehren.
Spätestens jetzt fasste der Ange-
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klagte den Entschluss, die Zeugin J. zu töten. Er trat von
hinten an sie heran,
hielt sie mit der linken Hand an der Schulter fest. Als die Zeugin den
Angeklagten
aufforderte, sie loszulassen, stach er ihr das Messer mit erheblicher
Wucht
in den Rücken. Die Zeugin erlitt eine Stich-/Schnittverletzung
zwischen den
Schulterblättern unmittelbar neben der Wirbelsäule.
Der Stich drang durch die
Rückenmuskulatur bis in die Lunge. Die Zeugin ging
kontrolliert in die Knie,
legte sich auf den Boden und sagte: "Jetzt bist du völlig
übergeschnappt!". Der
Angeklagte sagte: "Entschuldigung" und fuhr davon. Der Zeugin J. wurde
im
Universitätsklinikum eine Thoraxdrainage gelegt, weitere
chirurgische Eingriffe
waren nicht erforderlich. Konkrete Lebensgefahr bestand zu keiner Zeit.
Die
Verletzung ist folgenlos ausgeheilt.
Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war bei der Tat auf
Grund einer
schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung in
Verbindung mit seiner
destabilisierten materiellen und emotionalen Lage erheblich vermindert.
Nach der Flucht wurde der Angeklagte von der Polizei als
Fußgänger
auf der Autobahn aufgegriffen und schließlich von seiner
Schwester in die psychiatrische
Abteilung des Universitätsklinikums gebracht.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung
verurteilt (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB). Eine Strafbarkeit
wegen versuchten
Totschlags hat das Landgericht verneint, weil der Angeklagte vom
versuchten
Tötungsdelikt strafbefreiend zurückgetreten sei.
Die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen
Krankenhaus hat das Landgericht abgelehnt.
2. Die Ablehnung der Maßregelanordnung nach § 63
StGB hält der
sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. Die
Beschwerdeführerin macht zu
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Recht geltend, dass die vom Landgericht gegebene Begründung
rechtsfehlerhaft
ist.
Das sachverständig beratene Landgericht hat rechtsfehlerfrei
festgestellt,
dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der am 18.
März 2004
begangenen Tat in Folge einer schweren narzisstischen
Persönlichkeitsstörung
in Verbindung mit der destabilisierten materiellen und psychischen Lage
erheblich vermindert war.
Bei der Prüfung der Maßregelanordnung führt
das Landgericht jedoch
aus, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Unterbringung in
einem psychiatrischen
Krankenhaus lägen zwar an sich vor. Gleichwohl lehnt es die
Maßregelanordnung
ab, weil die Tat (gemeint ist möglicherweise die Inhaftierung)
gleichsam ein "heilsamer Schock" für den Angeklagten gewesen
sei. Damit
verkennt die Strafkammer, dass sie dann, wenn die
Anordnungsvoraussetzungen
des § 63 StGB vorliegen, kein Ermessen hat, ob sie die
Maßregel anordnen
will oder nicht. Liegen die Voraussetzungen des § 63 StGB vor,
ist die Anordnung
der Unterbringung zwingend vorgeschrieben, steht also nicht im Ermessen
des Gerichts (vgl. BGH NStZ 1990, 122; Hanack in LK 11. Aufl.
§ 63
Rdn. 94; Tröndle/Fischer, StGB 52. Aufl. § 63 Rdn.
21; Lackner/Kühl, StGB
25. Aufl. § 63 Rdn. 11; Stree in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 63
Rdn. 20; jeweils m.w.N.).
Wollte die Strafkammer dagegen zum Ausdruck bringen, dass auf Grund
des vermeintlich "heilsamen Schocks" eine Gefährdung der
Allgemeinheit
durch erhebliche rechtswidrige Taten des Angeklagten nunmehr entfallen
sei,
sind die Erwägungen des Landgerichts lückenhaft und
widersprüchlich. Es hat
keine näheren Feststellungen dazu getroffen, wie sich der
angenommene
Schock auf das künftige forensisch relevante Verhalten des
Angeklagten kon-
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kret auswirkt. Deshalb kann der Senat diese Beurteilung im
Revisionsverfahren
nicht nachvollziehen und damit auch nicht rechtlich prüfen.
Hinzu kommt, dass das Landgericht für den Fall einer bedingten
Entlassung
des Angeklagten eine besonders sorgfältige Prüfung
der Entlassungsvoraussetzungen
für geboten erachtet hat. Dies lässt besorgen, dass
der angenommene
"Schock" allein auch nach Auffassung der Strafkammer nicht geeignet
ist, der von dem Angeklagten ausgehenden Gefahr erheblicher
rechtswidriger
Taten hinreichend zuverlässig entgegenzuwirken. Dies gilt umso
mehr, als
die Strafkammer darüber hinaus meint, eine vorzeitige bedingte
Entlassung
könne nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn der
Angeklagte zuvor im
Vollzug durch intensive psychiatrische Behandlung Schritte zur
Überwindung
seiner Persönlichkeitsstörung unternommen habe und
wenn eine gesicherte
Entlassungssituation gewährleistet sei. Dies bedeutet aber
nichts anderes, als
dass diese in die Zukunft gerichteten Voraussetzungen
gegenwärtig noch nicht
erfüllt sind und deshalb derzeit von einer fortbestehenden
Gefährlichkeit des
Angeklagten auszugehen ist. Maßgebender Beurteilungszeitpunkt
für die Gefährlichkeitsprognose
gemäß § 63 StGB ist aber nicht die
künftige Situation des
Angeklagten nach psychiatrischer Therapie und Schaffung eines stabilen
stützenden
Entlassungsumfelds, sondern die aktuelle Situation zum Zeitpunkt der
tatrichterlichen Entscheidung (vgl. Tröndle/Fischer aaO Rdn.
20 m.w.N.). Auch
insoweit ist die landgerichtliche Entscheidung daher fehlerhaft.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin,
dass der
von der Staatsanwaltschaft erstrebten Maßregelanordnung nicht
von vornherein
entgegensteht, dass die erhebliche Verminderung der
Steuerungsfähigkeit
des Angeklagten zur Tatzeit auf dem Zusammentreffen einer schweren
narzisstischen
Persönlichkeitsstörung mit der destabilisierten
materiellen und psychi-
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schen Lage des Angeklagten beruht. Die Anordnung der Maßregel
gemäß § 63
StGB setzt zwar voraus, dass der Ausschluss oder die erhebliche
Verminderung
der Schuldfähigkeit auf einem länger andauernden
psychischen Defekt
des Täters beruht. Ein länger dauernder Zustand
bedeutet jedoch nicht eine
ununterbrochene Befindlichkeit. Entscheidend und für die
Maßregelanordnung
ausreichend ist, dass der länger dauernde Zustand derart
beschaffen ist, dass
bereits alltägliche Ereignisse die akute erhebliche
Beeinträchtigung der
Schuldfähigkeit auslösen können (vgl. BGHSt
44, 369, 375 f.).
Rissing-van Saan Bode Otten
Fischer Roggenbuck |