BGH,
Urt. v. 10.5.2001 - 1 StR 504/00
GVG § 24 Abs. 1 Nr. 3; StPO § 338 Nr. 4
1. Der Prüfung durch das Revisionsgericht, ob das Landgericht
einem Fall rechtsfehlerfrei besondere Bedeutung
gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG zugemessen hat,
ist die objektive Sachlage zum Zeitpunkt der
Eröffnungsentscheidung zugrunde zu legen.
2. Allein das Ziel, einem Kind als Opfer einer Sexualstraftat eine
weitere Vernehmung in der zweiten Tatsacheninstanz zu ersparen, vermag
die besondere Bedeutung eines Falles im Sinne von § 24 Abs. 1
Nr. 3 GVG nicht zu begründen.
BGH, Urteil vom 10. Mai 2001 - 1 StR 504/00 - LG Coburg
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 504/00
vom
10. Mai 2001
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 10. Mai
2001, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am
Bundesgerichtshof Nack, Dr. Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit,
Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als
Verteidiger, Rechtsanwalt als Vertreter des Nebenklägers C. ,
Rechtsanwalt als Vertreter des Nebenklägers L. ,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Coburg
vom 6. Juli 2000 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die
dadurch den Nebenklägern entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Kindern in sieben Fällen zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren
Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die dagegen gerichtete
Revision des Angeklagten, mit der er eine Verfahrensrüge und
die allgemeine Sachrüge erhebt, hat keinen Erfolg.
Mit der Verfahrensrüge macht der Angeklagte geltend, das
Landgericht habe unter fehlerhafter Anwendung des § 24 Abs. 1
Nr. 3 GVG zu Unrecht die besondere Bedeutung des Falles angenommen und
ihn damit seinem gesetzlichen Richter entzogen (§ 338 Nr. 4
StPO).
I.
Nach den Feststellungen des Landgerichts mißbrauchte der
Angeklagte im Zeitraum von Herbst 1997 bis Dezember 1998 drei Kinder.
Er griff dem damals acht- bzw. neunjährigen C. in mindestens
fünf Fällen und dem neunjährigen L. in einem
Fall ans nackte Gesäß. Beim Besuch eines Eiscafes
mit einer von ihm betreuten Kindergruppe streichelte der Angeklagte das
Glied des zehnjährigen W. über dessen Kleidung. In
allen Fällen standen die Taten im Zusammenhang mit der
Tätigkeit des Angeklagten als katholischer Pfarrer.
Diesen Sachverhalt hatte die Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht zur
Anklage gebracht. Sie verwies auf die Höhe der erwarteten
Strafe und maß dem Fall besondere Bedeutung i. S. v.
§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG zu. Dies begründete die
Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift mit folgenden
Erwägungen:
Die der Anklage zugrundeliegenden Vorgänge haben durch das
öffentliche Geschehen vom 28. 12. 1998 in der Kirche St.
Marien in S. [dort beschuldigte der Vater eines Geschädigten
den Angeklagten vor der versammelten Gemeinde während eines
Gottesdienstes] und die nachfolgenden Presseberichte und Leserbriefe
andauernd starke öffentliche Beachtung gefunden. Hierbei
wurden, wenngleich bislang ohne tatsächliche Anhaltspunkte,
vom Angeschuldigten und seinem Umfeld öffentlich wiederholt
Vorwürfe erhoben, in anderen staatlichen Behörden
seien Amtspflichten verletzt worden, um aus persönlichen
Motiven eine Verleumdungskampagne zu schüren. Auch wurde
wiederholt öffentlich auf gleichartig erscheinende
frühere Vorgänge um den Angeschuldigten in M. sowohl
hinsichtlich der Vorwürfe wie der Verfahrensweisen Bezug
genommen. Schließlich ist mit dem Angeschuldigten ein Pfarrer
und Lehrer an öffentlichen Schulen im ländlichen Raum
mit Vorwürfen betroffen, die gegebenenfalls auch zu
erheblichem Ansehensverlust der Kirche und der Schule führen
können.
Im Eröffnungsbeschluß bejahte das Landgericht seine
Zuständigkeit mit folgender Begründung:
Das Landgericht Coburg ist nach § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG wegen
der besonderen Bedeutung des Falles zuständig, auch wenn die
Straferwartung weniger als 4 Jahre Freiheitsstrafe beträgt.
Die besondere Bedeutung eines Falles im Sinne von § 24 Abs. 1
Nr. 3 GVG ergibt sich aus den psychischen Auswirkungen der Straftat auf
die kindlichen Opfer. Nachdem der Angeklagte die Taten bestreitet, wird
den Kindern durch die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem
Landgericht die Belastung einer weiteren Tatsacheninstanz im Rahmen
eines Berufungsverfahrens erspart.
II.
Die Revision macht den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr.
4 StPO geltend und rügt, das Landgericht habe seine sachliche
Zuständigkeit gemäß § 24 Abs.1 Nr.
3 GVG aufgrund sachfremder Erwägungen bejaht.
Auf die in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch nicht
abschließend geklärte Frage, ob dies nur auf eine
entsprechende Verfahrensrüge (BGHSt 42, 205; 43, 54) oder von
Amts wegen (BGHSt 38, 172, 176; 40, 120; 44, 34, 36) zu
berücksichtigen ist, kommt es hier nicht an. Die
Verfahrensrüge ist zulässig erhoben. Sie ist aber im
Ergebnis unbegründet.
1. Die Revision scheitert nicht schon daran, daß mit ihr
grundsätzlich nicht geltend gemacht werden kann, ein
höheres Gericht habe seine Zuständigkeit zu Unrecht
anstelle eines Gerichts niederer Ordnung angenommen
(§§ 210 Abs. 1, 336 Satz 2, 269 StPO). Dieser
Grundsatz erfährt vor dem Hintergrund des Art. 101 Abs. 1 Satz
2 GG und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum
Willkürverbot dann eine Einschränkung, wenn die
Rechtsanwendung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist
und sich daher der Schluß aufdrängt, daß
die Entscheidung über die Zuständigkeit auf
sachfremden Erwägungen beruht (BGHSt 42, 205, 207; 43, 53, 55
f, BGH Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, zur
Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen).
2. Das Landgericht war sachlich zuständig. Die Entscheidung
des Landgerichts zur besonderen Bedeutung der Sache ist im Ergebnis
rechtsfehlerfrei getroffen.
a) Allerdings vermag allein das Ziel, einem Kind als Opfer einer
Sexualstraftat eine weitere Vernehmung in der zweiten Tatsacheninstanz
zu ersparen, die besondere Bedeutung eines Falles im Sinne von
§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG nicht zu begründen.
Von besonderer Bedeutung ist eine Sache, die sich aus
tatsächlichen oder rechtlichen Gründen, etwa wegen
des Ausmaßes der Rechtsverletzung, wegen der Auswirkungen der
Straftat, wegen der Erhöhung des Unrechtsgehalts durch die
hervorragende Stellung des Beschuldigten oder Verletzten aus der Masse
der durchschnittlichen Strafsachen nach oben heraushebt (BGHR GVG
§ 24 Bedeutung 1) oder wenn die rasche Klärung einer
grundsätzlichen, für eine Vielzahl gleichgelagerter
Fälle bedeutsame Rechtsfrage durch den Bundesgerichtshof
ermöglicht werden soll (BGHSt 43, 53). Entscheidend ist immer
die Bewertung des Einzelfalls.
Gerade bei Sexualstraftaten und Jugendschutzsachen wird sich
häufig die besondere Bedeutung der Sache aus den
schwerwiegenden Auswirkungen der Straftat auf das Opfer ergeben. Dabei
können - trotz der sich insbesondere aus § 247a StPO
ergebenden prozessualen Möglichkeiten - in der gebotenen
Gesamtbetrachtung des Einzelfalles auch weitere zu erwartende
gravierende Folgen einer zweiten gerichtlichen Vernehmung des Tatopfers
in einer Berufungshauptverhandlung von Bedeutung sein. Im vorliegenden
Fall sind schwere psychische Auswirkungen der Straftaten auf die drei
kindlichen Opfer, die den Fall aus der Masse der übrigen,
denselben Tatbestand betreffenden Strafverfahren herausheben
würden, weder substantiiert dargetan noch sonst ersichtlich.
Ob allein das Ziel, einem kindlichen Opfer eine weitere Vernehmung in
der zweiten Tatsacheninstanz zu ersparen, die Anklage zum Landgericht
unter dem Gesichtspunkt der besonderen Bedeutung der Sache (§
24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) rechtfertigt - eine Frage, die sich seit
Ausweitung der Strafgewalt der Amtsgerichte auf vier Jahre durch das
Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 verstärkt
stellt - ist in der Literatur umstritten (befürwortend:
Böttcher/Mayer NStZ 1993, 154, 157; Siegismund/Wickern, wistra
1993, 136, 138; Siolek in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 24 GVG Rdn. 22; ablehnend:
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 24 GVG
Rdn. 6 a.E.; Meyer-Goßner/Ströber ZRP 1996, 345,
358; Kissel in KK 4. Aufl. § 24 GVG Rdn. 7; Böhm ZRP
1996, 259, 261). In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs blieb die
Frage bislang offen (Beschlüsse vom 3. August 1995 - 4 StR
420/95 und 4 StR 416/95). Demgegenüber stellen das OLG
Zweibrücken (NStZ 1995, 357) und das OLG Koblenz (JBlRhPf
1995, 26) zur Begründung der besonderen Bedeutung des Falles
und damit der Zuständigkeit des Landgerichts entscheidend
darauf ab, daß damit eine weitere Vernehmung des Opfers in
einer Berufungshauptverhandlung vermieden werden kann.
"Dies ist gut gemeint, mit der gesetzlichen Regelung aber kaum in
Einklang zu bringen" (Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. §
24 GVG Rdn. 6). Diese Auffassung teilt der Senat. Die
Gesetzesformulierung "besondere Bedeutung des Falles"
läßt es nicht zu, ganze Deliktsgruppen, etwa alle
Sexualstraftaten bestreitender Täter an Kindern, generell,
ohne Beachtung der Bedeutung des Einzelfalls, dem Landgericht zu
überantworten. Mit dem Gesetzeswortlaut ist dies nicht mehr
vereinbar. Damit werden die vor allem am Wortsinn orientierten Grenzen
möglicher Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "besondere
Bedeutung des Falles" überschritten.
Vor dem Hintergrund der bisherigen unklaren Rechtslage und der
uneinheitlichen Äußerungen in Literatur und
Rechtsprechung hierzu liegt es indes eher fern, daß mit
bisherigen Entscheidungen zur besonderen Bedeutung des Falles
gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG, die allein auf
die Vermeidung einer weiteren Vernehmung von Geschädigten in
der Berufungsinstanz abstellten, auch die bei der Anwendung des
§ 269 StPO verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen
überschritten wurden. Dies kann jedoch dahinstehen. Denn die
besondere Bedeutung des Falles ergibt sich hier aus anderen
Gesichtspunkten.
c) Nach dem Sachstand, wie ihn die Staatsanwaltschaft in der
Anklageschrift dargestellt hat, konnte dem Fall rechtsfehlerfrei
besondere Bedeutung beigemessen werden.
Die andauernd große Beachtung, die die angeklagten
Vorfälle in der Öffentlichkeit gefunden haben (vgl.
BGHSt 44, 34, 36), die hervorgehobene Stellung des Angeklagten als
Pfarrer auf dem Lande und der Umstand, daß der Angeklagte
zumindest eine der Taten im Zusammenhang mit der Erfüllung
seiner öffentlichen Aufgabe als Lehrer beging (vgl. BGHR GVG
§ 24 Abs. 1 Bedeutung 3) waren geeignet, den Fall aus der
Masse der Strafverfahren herauszuheben, die denselben Tatbestand
betreffen.
Ob die Strafkammer ihrer Entscheidung die von der Staatsanwaltschaft
genannten Aspekte - stillschweigend - ebenfalls zugrunde legte oder ob
sie diese zur Begründung der besonderen Bedeutung des Falles
nicht für geeignet erachtete und deshalb im
Eröffnungsbeschluß nicht erwähnte, kann
offen bleiben.
Denn bei der Prüfung der Entscheidung über die
Zuständigkeit ist auch vom Revisionsgericht die objektive
Sachlage zum Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung zugrunde zu
legen (vgl. LR-Hanack StPO 25. Aufl. § 338 Rdn. 71, §
355 Rdn. 8). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers
sind nicht nur die Gesichtspunkte maßgeblich, auf die sich
das eröffnende Gericht ausdrücklich bezieht.
Ausführungen zur besonderen Bedeutung des Falles im
Eröffnungsbeschluß sind schon nicht in jedem Fall
zwingend. Wurde die besondere Bedeutung der Sache von der
Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift oder in einem gesonderten
Aktenvermerk - auch aus Sicht der Kammer - tragfähig
begründet oder ist diese offensichtlich, dann bedarf es im
Eröffnungsbeschluß keiner weiteren Darlegungen
hierzu. Schon deshalb kann der Eröffnungsbeschluß
allein keine tragfähige Grundlage zur Prüfung der
Frage abgeben, ob das Landgericht die besondere Bedeutung des Falles
und damit seine Zuständigkeit im Rahmen des dem Gericht
insoweit eingeräumten Beurteilungsspielraums rechtsfehlerfrei
angenommen hat. Die gegenteilige Auffassung zwänge dazu,
Urteile allein wegen unzureichender Ausführungen zur
besonderen Bedeutung der Sache im Eröffnungsbeschluß
aufzuheben und die Verfahren
- zunächst zur erneuten Entscheidung über die
Zuständigkeit - an eine andere Kammer
zurückzuverweisen, obwohl das Gericht, dessen Urteil
angefochten wurde, nach objektiver Sachlage ersichtlich sachlich
zuständig war. Dies entspräche weder dem Sinn der
Regelungen über die Gewährleistung des gesetzlichen
Richters noch dem Gedanken des Opferschutzes.
III.
Die Überprüfung des Urteils auf aufgrund der
Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Beschwerdeführers aufgedeckt.
Schäfer Nack Boetticher Schluckebier Hebenstreit
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