BGH,
Urt. v. 11.8.2006 - 3 StR 284/05
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 284/05
vom
11.8.2006
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja, nur zu A. I.
Veröffentlichung: ja
__________________
StPO vor § 1, § 274
1. Ein Beschwerdeführer, der bewusst wahrheitswidrig einen
Verfahrensverstoß behauptet und sich zum Beweis auf ein als
unrichtig erkanntes Protokoll beruft, handelt
rechtsmissbräuchlich; seine Rüge ist
unzulässig.
2. Dies gilt auch, wenn er das sichere Wissen von der Unwahrheit erst
nachträglich erlangt, die Rüge jedoch gleichwohl
weiterverfolgt.
BGH, Urteil vom 11.08.2006 - 3 StR 284/05 - Kammergericht in Berlin
- 2 -
wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion u. a.
- 3 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Grund der Verhandlung
vom 29.06.2006 in der Sitzung am 11.08.2006, an denen teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Winkler,
Pfister,
von Lienen,
Hubert
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
- in der Verhandlung vom 29.06.2006 -,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
- in der Verkündung vom 11.08.2006 -
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin
- in der Verhandlung vom 29.06.2006 -
als Verteidigerin,
Justizangestellte
- in der Verhandlung vom 29.06.2006 -,
Justizamtsinspektor
- in der Verkündung vom 11.08.2006 -
als Urkundsbeamte der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 4 -
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Kammergerichts Berlin
vom 18. März 2004 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Der Angeklagte wurde wegen Herbeiführens einer
Sprengstoffexplosion und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen
Vereinigung in Tateinheit mit Herbeiführen einer - weiteren -
Sprengstoffexplosion und mit Beförderung von Sprengstoff zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten
verurteilt. Seine auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts
gestützte Revision hat aus den Gründen der
Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Erfolg. Der
näheren Erörterung bedürfen nur folgende
Beanstandungen:
1
A. Verfahrensrügen:
2
I. Rüge A. I der Revisionsbegründung (Angeklagter
zeitweise nicht verteidigt):
3
Mit der von Rechtsanwältin W. begründeten
Rüge wird behauptet, der Angeklagte sei am 8. Mai 2003, dem
126. Verhandlungstag, ab 11.14 Uhr nicht verteidigt gewesen. Diese
Behauptung eines Verfahrensfehlers ist,
4
- 5 -
wenn nicht schon von Anfang an bewusst wahrheitswidrig aufgestellt, so
jedenfalls seit der Kenntnis vom Inhalt der dazu abgegebenen
dienstlichen Erklärungen wider besseres Wissen
aufrechterhalten und dem Revisionsgericht zur Entscheidung unterbreitet
worden. Die Weiterverfolgung der Rüge unter Berufung auf das
als unrichtig erkannte Protokoll ist rechtsmissbräuchlich;
damit ist die Rüge unzulässig geworden.
1. Das ursprünglich gefertigte Protokoll enthielt zum Ablauf
dieses Sitzungstages - soweit es hier von Bedeutung ist - folgende
Angaben:
5
09.17 Aufruf, für den Angeklagten sind erschienen
Rechtsanwältin St. und Rechtsanwältin Stu. als
Vertreterin von Rechtsanwältin W.
09.20 Zeugin Se. wird hereingerufen und vernommen
10.15 Unterbrechung
10.37 Fortsetzung, Rechtsanwalt E. nicht wieder erschienen
10.52 Rechtsanwalt von Sch. verlässt den Sitzungssaal
11.05 Rechtsanwalt Eu. verlässt den Sitzungssaal
11.10 Zeugin Se. wird entlassen
11.10 Rechtsanwältin Stu. verlässt den Sitzungssaal
11.12 Rechtsanwalt E. erscheint wieder
11.12 Rechtsanwalt B. verlässt den Sitzungssaal
11.13 Rechtsanwalt Eu. erscheint wieder
11.13 Zeuge I. wird hereingerufen und vernommen
11.14 Rechtsanwältin St. verlässt den Sitzungssaal
11.21 Rechtsanwalt Dr. K. verlässt den Sitzungssaal
- 6 -
11.22 Rechtsanwalt Dr. K. erscheint wieder
12.48 Zeuge I. wird entlassen
12.50 Sitzung geschlossen
Mit der Revision hat Rechtsanwältin W. gerügt, der
Angeklagte sei an diesem Sitzungstag ab 11.14 Uhr nicht verteidigt
gewesen. Daraufhin haben am 1.07.2005 die Vorsitzende und die
Protokollführerin das Protokoll dadurch berichtigt, dass die
Eintragung "11.14 Uhr Rechtsanwältin St. verlässt den
Sitzungssaal" gestrichen wurde.
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Zur Anwesenheit dieser Verteidigerin ist in dienstlichen
Erklärungen folgendes bekundet worden:
7
Die Vorsitzende Richterin am Kammergericht H. hat erklärt: Aus
ihrer persönlichen Mitschrift der Hauptverhandlung ergebe
sich, dass Rechtsanwältin St. bei der Vernehmung des Beamten
des Bundeskriminalamtes I. anwesend gewesen sei und Fragen an ihn
gestellt habe. Im Übrigen zeige die Vorgeschichte ein
erhebliches Interesse der Rechtsanwältin an der Vernehmung des
Zeugen. Sie habe bei einer früheren Vernehmung des Zeugen
deren Unterbrechung mit der Begründung beantragt, dass es zum
Vernehmungsgegenstand (Vorhandensein einer konspirativen Wohnung in der
O. straße) vermutlich weitere bisher nicht vorgelegte
Protokolle gebe. Dies sei Gegenstand von Auseinandersetzungen mit dem
Gericht gewesen, die auch zu einem Ablehnungsgesuch der Verteidigerin
geführt hätten.
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Richter am Kammergericht A. hat erklärt, er habe elf Seiten
Mitschriften zur Vernehmung des Zeugen I. gefertigt, in denen
zahlreiche Fra-
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gen der Rechtsanwältin St. an diesen Zeugen sowie deren
Anregung, auch noch den Zeugen Schn. zu vernehmen, enthalten seien.
Richter am Kammergericht G. war von der Vorsitzenden beauftragt, die
Anwesenheit der Verteidiger zu kontrollieren und darüber
Aufzeichnungen zu machen. Nach diesen zu den Akten übergebenen
Aufzeichnungen war Rechtsanwältin St. an diesem Sitzungstag
durchgehend anwesend.
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Richter am Kammergericht Ha. hat bekundet, ausweislich seiner
Aufzeichnungen über die Anwesenheit der Verteidiger habe
Rechtsanwältin St. den Sitzungssaal nicht verlassen und am
Ende der Zeugenvernehmung die Ladung der Zeugen Schm. und Schn.
angeregt.
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Bundesanwalt Br. hat erklärt, er habe Staatsanwalt Wa.
beauftragt, ein Wortprotokoll über diesen Sitzungstag zu
fertigen, und dieses mit ihm abgestimmt. In dem zu den Akten gereichten
Protokoll sind 20 Fragen oder Vorhalte der Rechtsanwältin St.
an den Zeugen I. im Wortlaut wiedergegeben.
12
Diese dienstlichen Erklärungen sind mit den
übergebenen Aufzeichnungen den Verteidigern des Angeklagten
mitgeteilt worden. Sie haben zu deren Richtigkeit keine
Erklärungen abgegeben. In der Revisionshauptverhandlung hat
Rechtsanwältin W. erklärt, dass sie als
Erkenntnisquelle für die Behauptung der Abwesenheit von
Rechtsanwältin St. lediglich das Protokoll habe. Nach
Durchsicht des Protokolls habe sie noch mit Rechtsanwältin St.
und dem Angeklagten Rücksprache genommen, die sich jedoch an
den Vorgang nicht hätten erinnern können. Auf die
weitere Frage, ob es ihr nicht zu denken gebe, dass in den dienstlichen
Erklärungen der Rügebehaup-
13
- 8 -
tung dezidiert entgegengetreten werde, hat sie geantwortet: "Im Rahmen
meiner Rechtsansicht nein".
2. Der Senat ist davon überzeugt, dass Rechtsanwältin
St. am 8. Mai 2003 um 11.14 Uhr den Sitzungssaal nicht verlassen hat
und bei der Vernehmung des Zeugen I. anwesend war. Die mehrfachen,
eindeutigen, durch Aufzeichnungen belegten dienstlichen
Erklärungen lassen daran keinen Zweifel. Dies wird auch
bestätigt durch das Verhalten der Verteidigerin
Rechtsanwältin St. , die den Erklärungen nicht
entgegengetreten ist.
14
Er ist weiter davon überzeugt, dass Rechtsanwältin W.
den wahren Sachverhalt kennt. Es ist bereits in hohem Maße
wahrscheinlich, dass dieser ihr schon bei Fertigung der
Revisionsbegründung bekannt war. Der Angeklagte wurde von den
Rechtsanwältinnen St. und W. gemeinsam als "Stammverteidiger"
verteidigt, während weitere Verteidiger im Wesentlichen nur
für Vertretungsfälle zum Einsatz kamen. Eine solche
gemeinsame Verteidigung setzt die gegenseitige Information
über solche Verfahrensvorgänge voraus, bei denen
einer von beiden nicht anwesend ist. Wie sich aus der dienstlichen
Erklärung der Vorsitzenden ergibt, war zudem die Vernehmung
des Zeugen I. von erheblichem Interesse für die Verteidigung.
Es erscheint daher - schon im Hinblick auf die Fortführung der
weiteren Verteidigung und die Schlussvorträge - wenig
glaubhaft, dass es im Anschluss an den Sitzungstag nicht zeitnah zu
einer Kontaktaufnahme zwischen beiden Verteidigerinnen gekommen ist,
bei der Rechtsanwältin St. ihre Mitverteidigerin über
die wesentlichen Ergebnisse der Befragung informiert hat. Jedenfalls
hat Rechtsanwältin W. mit Erhalt der dienstlichen
Erklärungen sicheres Wissen erlangt, dass die behauptete
Abwesenheit nicht der Wahrheit entspricht. In diesen
Erklärungen wird die tatsächliche Anwesenheit der
Verteidigerin nicht nur
15
- 9 -
pauschal, sondern - zudem aus der Sicht unterschiedlicher Beteiligter -
substantiiert unter Vortrag zahlreicher Einzelheiten und unter Vorlage
detaillierter Aufzeichnungen versichert. Es ist nicht vorstellbar, dass
Rechtsanwältin W. nach Kenntnisnahme dieser
Erklärungen und der beigefügten Aufzeichnungen die
Abwesenheit ihrer Mitverteidigerin überhaupt noch für
möglich hielt. Das gilt selbst dann, wenn sich
Rechtsanwältin St. , was sich aber ebenfalls der
Vorstellungskraft des Senats entzieht, auf Nachfrage an die in Rede
stehende Vernehmung des Zeugen I. nicht erinnern konnte oder dies
behauptet hat.
3. Auch im Strafprozess gilt - ebenso wie in anderen Prozessord- nungen
- ein allgemeines Missbrauchsverbot. Zwar enthält die
Strafprozessordnung keinen generellen Missbrauchstatbestand. Jedoch
sind in ihr Sonderfälle wie der Missbrauch des Fragerechts in
§ 241 Abs. 1 i. V. m. § 239 Abs. 1 StPO und der
Missbrauch des Verteidigerrechts in § 138 a Abs. 1 Nr. 2 StPO
geregelt. Der Gedanke der Verhinderung eines Rechtsmissbrauchs liegt
auch den Vorschriften der § 26 a Abs. 1 Nr. 3, § 29
Abs. 2, § 137 Abs. 1 Satz 2, § 244 Abs. 3 Satz 2
("Prozessverschleppung"), § 245 Abs. 2 Satz 3 und §
266 Abs. 3 Satz 1 StPO zugrunde (vgl. Meyer JR 1980, 219 f.).
Für andere Fälle des Missbrauchs prozessualer
Befugnisse im Strafverfahren, die der Gesetzgeber nicht
ausdrücklich geregelt hat, gilt - wie in jedem Prozess - das
allgemeine Missbrauchsverbot (BGHSt 38, 111, 112 f.; BGH StV 2001, 100
f. und 101; KG JR 1971, 338 mit zust. Anm. Peters; Weber GA 1975, 289,
295; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess S. 68 ff., 124 ff.;
Niemöller StV 1996, 501 ff.; Fischer NStZ 1997, 212, 216 f.;
Kudlich NStZ 1998, 588 ff.; Roxin in FS für Hanack S. 1, 19
f.; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. Einl. Rdn. 111; Gollwitzer
in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. vor § 226 Rdn. 49;
Pfeiffer in KK 5. Aufl. Einl. Rdn. 22 a). Gegen diese Auffassung wenden
sich einige Stimmen mit der Be-
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- 10 -
fürchtung, es könne von den Gerichten Missbrauch mit
einem allgemeinen Missbrauchsverbot getrieben werden (Rieß in
Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. Einl. J Rdn. 36;
Kühne, Strafprozessrecht 6. Aufl. Rdn. 293; Fezer in FS
für Ulrich Weber S. 475 ff.). Diesem dogmatisch ohnehin wenig
gewichtigen Argument ist entgegenzuhalten, dass seit der grundlegenden
Anerkennung eines allgemeinen Missbrauchsverbotes durch die
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in BGHSt 38, 111 nunmehr fast 15
Jahre vergangen sind, ohne dass sich diese Befürchtung
bestätigt hätte. Die sehr seltenen Entscheidungen, in
denen davon Gebrauch gemacht worden ist, belegen eine ausgesprochene
Zurückhaltung der Praxis.
4. Ein Missbrauch prozessualer Rechte ist dann anzunehmen, wenn ein
Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Strafprozessordnung
eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner
verfahrensrechtlichen Belange benutzt, um gezielt verfahrensfremde oder
verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen (BGHSt 38, 111, 113). Einen
solchen Rechtsmissbrauch begeht auch ein Beschwerdeführer, der
in einer Verfahrensrüge einen Verfahrensverstoß
behauptet, obwohl er sicher weiß, dass sich dieser nicht
ereignet hat (Beulke, Der Verteidiger im Strafverfahren S. 156 f.).
Denn er verfolgt mit ihr verfahrenswidrige Zwecke. Eine
Verfahrensrüge dient dazu, geschehene Verfahrensfehler zu
korrigieren (Fahl aaO S. 689). Nur dann, wenn das Verfahrensrecht
tatsächlich verletzt worden ist und entweder ein absoluter
Revisionsgrund eingreift oder das Beruhen des Urteils auf dem Fehler
nicht ausgeschlossen werden kann, unterliegt das Urteil der Aufhebung.
Liegt dagegen der behauptete Verfahrensfehler nicht vor, ist - sofern
nicht andere Aufhebungsgründe gegeben sind - die Revision zu
verwerfen; das Urteil hat dann Bestand. Diesem Zweck der
Verfahrensrüge würde es zuwiderlaufen, wenn man einem
Rechtsmittelführer gestatten würde, durch die bewusst
wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers ein
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- 11 -
Urteil zu Fall zu bringen, von dem er sicher weiß, dass es
insoweit in einem fehlerfreien Verfahren ergangen ist.
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass es an der Verfolgung
verfahrensfremder Zwecke fehle und die Erhebung einer bewusst unwahren
Rüge jedenfalls dann zulässig sein müsse,
wenn es dem Verteidiger darum gehe, ein materiell für
unrichtig gehaltenes Urteil zu Fall zu bringen (so Cüppers NJW
1951, 259; Schneidewin MDR 1951, 193, 194). Ein solches Fernziel kann
das prozessrechtswidrige Vorgehen nicht rechtfertigen (Dallinger - "Der
Zweck heiligt nicht die Mittel." - NJW 1951, 256, 257; Fahl aaO S. 688;
vgl. auch Tepperwien in FS für Meyer-Goßner S. 595,
600). So kann ein Verteidiger auch nicht zu unlauteren Mitteln greifen,
um eine drohende - nach seiner Auffassung nicht gerechtfertigte -
Verurteilung zu verhindern, indem er etwa einen zum Meineid
entschlossenen Zeugen präsentiert oder gefälschte
Urkunden vorlegt (vgl. Beulke, Die Strafbarkeit des Verteidigers S. 53,
83). Insofern gilt nichts anderes als umgekehrt für den
Staatsanwalt oder den Nebenkläger. Für ihre Seite
wird kaum zu vertreten sein, dass sie bewusst eine unwahre
Verfahrensrüge erheben dürfen, um einen für
unrichtig gehaltenen Freispruch zu revidieren (vgl. Fahl aaO S. 691;
vgl. aber Park StraFo 2004, 335, 337 f.).
18
5. Ein missbräuchliches Verhalten wird auch nicht dadurch
ausgeschlossen, dass die Erhebung einer bewusst wahrheitswidrigen
Verfahrensrüge sich auf die Beweiskraft eines - als fehlerhaft
erkannten - Protokolls stützen kann. Ein solcher Sachverhalt
wird in der Literatur vielfach mit dem plakativen Begriff "unwahre
Protokollrüge" bezeichnet (vgl. Tepperwien aaO S. 595).
19
- 12 -
a) Die Frage, ob eine bewusst "unwahre Protokollrüge"
zulässig ist, hat die Rechtsprechung bislang noch nicht
entschieden. In der Literatur ist sie heftig umstritten.
20
Überwiegend wird die Auffassung vertreten, die sich aus
§ 274 StPO ergebende Beweiskraft erlaube einem Verteidiger,
sich ein unrichtiges Protokoll uneingeschränkt zunutze zu
machen und eine bewusst "unwahre Protokollrüge" zu erheben
(vgl. u. a. Schneidewin aaO.; Park aaO; Sarstedt/Hamm, Die Revision in
Strafsachen 6. Aufl. Rdn. 292-294; Beulke, Der Strafverteidiger im
Strafverfahren 1980 S. 156 f.; Schlüchter/Frister in SK-StPO
§ 274 Rdn. 24); nach Cüppers besteht insoweit nicht
nur ein Recht, sondern sogar eine Pflicht (NJW 1950, 930 ff. und NJW
1951, 259). Dahs hat dies dahin formuliert, dass in diesem Bereich des
Revisionsverfahrens ein Rechtsanwalt "nach Herzenslust, besser: nach
Rechtslust lügen darf und muss" (StraFo 2000, 181, 185; vgl.
auch Handbuch des Strafverteidigers 7. Aufl. Rdn. 917 ff.).
21
Andere halten die Erhebung einer bewusst "unwahren
Protokollrüge" für rechtsmissbräuchlich
(Fahl aaO S. 665 ff.; Dallinger NJW 1951, 256 ff.;
Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 274 Rdn. 21).
Teilweise wird hierin ein lediglich standeswidriges Verhalten gesehen,
das jedoch die prozessuale Zulässigkeit nicht berühre
(Dünnebier in Löwe/Rosenberg, StPO 23. Aufl. vor
§ 137 Rdn. 17 f.). Tepperwien (aaO S. 601 f.) sieht zwar in
einer bewusst "unwahren Protokollrüge" einen Rechtsmissbrauch,
möchte jedoch aus pragmatischen Gründen hieraus keine
Konsequenzen ziehen und die Rüge für
zulässig erachten.
22
b) Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 14. April 1999 (BGHR
StPO § 274 Beweiskraft 21; vgl. auch 24 und 27) erwogen hat,
handelt ein Beschwerdeführer, der bewusst wahrheitswidrig
einen Verfahrensverstoß behaup-
23
- 13 -
tet und sich zum Beweis auf ein als unrichtig erkanntes Protokoll
beruft, rechtsmissbräuchlich.
Es gibt keine durchgreifenden Gründe, die bewusst "unwahre
Protokollrüge" im Hinblick auf einen Rechtsmissbrauch anders
zu beurteilen, als eine sonstige bewusst unwahre
Verfahrensrüge:
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aa) Es trifft insbesondere nicht zu, dass eine bewusst "unwahre
Protokollrüge" keine Lüge sei, dass jedenfalls der
Verteidiger insoweit lügen dürfe oder gar
müsse oder dass durch § 274 StPO eine "prozessuale
Wahrheit" geschaffen werde (so aber Cüppers aaO; Schneidewin
aaO; Park aaO; Sarstedt/Hamm aaO; Dahs aaO). Die Beweiskraft des
Protokolls nach § 274 StPO verändert nicht die
Tatsachen, macht aus Unwahrheit keine Wahrheit. Die Vorschrift
enthält vielmehr eine Beweisregel (Dünnebier aaO;
Fahl aaO S. 687). Die Ebenen der Behauptung eines Verfahrensfehlers und
seines Beweises dürfen nicht vermengt, sondern müssen
streng getrennt werden (so zutreffend Dallinger aaO S. 257). Eine
zulässige Verfahrensrüge erfordert zunächst
die bestimmte Behauptung eines Verfahrensfehlers, erst danach stellt
sich die Frage des Beweises. Deshalb besagt die Beweisbarkeit einer
unwahren Behauptung nichts über deren Zulässigkeit.
25
bb) Die Entscheidungen RGSt 43, 1 und BGHSt 2, 125 stehen der
Auffassung des Senats nicht entgegen. Sie befassen sich
ausdrücklich lediglich mit der Frage, ob einer
Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung der Boden
entzogen werden kann, nicht aber mit der Zulässigkeit einer
bewusst "unwahren Protokollrüge". Soweit ein Recht zur
Erhebung solcher Rügen aus einzelnen
Begründungselementen dieser Entscheidungen hergeleitet wird
(vgl. Park Stra-Fo 2004, 335, 337), kann dahin stehen, ob diese
Wendungen nicht lediglich
26
- 14 -
objektiv unrichtige, sondern tatsächlich auch bewusst
wahrheitswidrige auf das Protokoll gestützte Rügen im
Blick hatten (vgl. dazu ausführlich Fahl aaO S. 681 ff.). Denn
der Senat wäre an die Auffassung seines
Vorgängersenates ebenso wenig wie an die des Reichsgerichts
gebunden. Im Übrigen hat sich die Rechtslage mit Anerkennung
eines allgemeinen Missbrauchsverbotes in BGHSt 38, 111 ff.
verändert. Immerhin hatte aber bereits das Reichsgericht in
der genannten Entscheidung darauf hingewiesen, dass von einem Recht auf
Geltendmachung der Unwahrheit in solchen Fällen nicht
gesprochen werden könne und es sich nur um die
"Möglichkeit handle, eine prozessrechtliche Befugnis zu
tatsächlich wahrheitswidrigen Zwecken zu missbrauchen" (aaO S.
6).
cc) Der Vorschrift des § 274 StPO kann nicht entnommen werden,
der Missbrauch von Verfahrensrügen unter Berufung auf das
Protokoll sei "instituti-onell eingeplant" (so aber Beulke, Der
Verteidiger im Strafverfahren S. 237). Dessen Beweiskraft hat lediglich
zur Folge, dass ein beurkundeter Sachverhalt ohne Rücksicht
auf das tatsächliche Geschehen als bewiesen gilt und somit ein
Verteidiger mit einer auf gutem Glauben oder auch nur auf einer
unsicheren Erinnerung basierenden Rüge erfolgreich sein kann,
obgleich der Verfahrensfehler sich tatsächlich nicht ereignet
hat. Nur dies ist "institutionell eingebaut", nicht aber der
(wissentliche) Missbrauch des Rügerechts (vgl. auch Fahl aaO
S. 689).
27
dd) Gegen die Anwendung des Missbrauchsverbots bei bewusst "unwahren
Protokollrügen" kann nicht eingewandt werden, durch deren
freibeweisliche Klärung werde faktisch die Beweiskraft des
Protokolls nach § 274 StPO ausgehöhlt. Diese
behält vielmehr ihre Bedeutung nicht nur in allen
Fällen, in denen unklar ist, ob sich der Verstoß
ereignet hat, sondern auch dann, wenn sich die Rüge zwar als
objektiv unwahr erweist, der Verteidiger dies aber entweder nicht
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- 15 -
weiß oder ihm jedenfalls sicheres Wissen um die Unwahrheit
nicht nachgewiesen werden kann. In solchen Fällen kann ein
Beschwerdeführer sich auf das seinen Vortrag
stützende Protokoll berufen, auch wenn es objektiv dem
Geschehensablauf nicht entspricht, ohne sich dem Vorwurf des
Rechtsmissbrauchs auszusetzen. Im Ergebnis wird unter dem Gesichtspunkt
des Rechtsmissbrauchs die Berufung auf die Beweiskraft des Protokolls
nur in den - eher seltenen - Fällen verwehrt, in denen die
objektive Unwahrheit so klar zu Tage tritt, dass sie auch dem
Verteidiger schlechterdings nicht verborgen geblieben sein kann.
ee) Es trifft auch der weitere Einwand nicht zu, die Gewichte
würden sich grundlegend zum Nachteil eines Angeklagten
verschieben, wenn dem Verteidiger die Erhebung einer bewusst "unwahren
Protokollrüge" unmöglich gemacht wird, weil dann die
vom Protokoll abweichende Wirklichkeit nur zu seinen Lasten, nicht aber
zu seinen Gunsten maßgeblich sei. Dieses Bedenken relativiert
sich von vorneherein dadurch, dass die Berufung auf ein - auch objektiv
unrichtiges - Protokoll, wie dargelegt, in den meisten Fällen
weiterhin möglich sein wird und nur dann dem Missbrauchsverbot
unterfällt, wenn sie zur Stützung einer bewusst
wahrheitswidrigen Rüge erfolgt. Zudem besteht die beklagte
Unausgewogenheit tatsächlich nicht. Einer bewusst "unwahren
Protokollrüge" entspricht bei einer solchen vergleichenden
Betrachtung nämlich nicht ein zu Lasten des Angeklagten
lediglich irrtümliches, also nur objektiv unrichtiges, sondern
ein bewusst wahrheitswidrig gefertigtes Protokoll, bei dem die
Unterzeichner den Nachweis eines Verfahrensfehlers, der sich
tatsächlich ereignet hatte, durch eine entsprechende
Formulierung des Protokolls bewusst vereiteln. Eine solche
"Lüge" der Unterzeichner des Protokolls stellt eine
Fälschung im Sinne des § 274 Satz 2 StPO dar (OLG
Düsseldorf StV 1984, 108), die wie ein etwaiger
Rechtsmissbrauch des Beschwerdeführers im Freibeweis
festzustellen wä-
29
- 16 -
re und ebenfalls zum Wegfall der Beweiskraft führen
würde (Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 274
Rdn. 19). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine Pflicht
zur Berichtigung eines unrichtigen Protokolls besteht, auf die die
Verfahrensbeteiligten hinwirken können (vgl.
Meyer-Goßner aaO § 271 Rdn. 23), und dass sich die
Unterzeichner eines bewusst unrichtigen Protokolls nach § 348
Abs. 1 StGB wegen Falschbeurkundung im Amt strafbar machen, da ein
Protokoll zumindest im Hinblick auf die für die
Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten eine
öffentliche Urkunde darstellt (vgl. RGSt 72, 226 f.; Gribbohm
in LK 11. Aufl. § 271 Rdn. 45). Entsprechendes muss gelten,
wenn Amtsträger die Berichtigung eines als unrichtig erkannten
Protokolls unterlassen (vgl. Gribbohm aaO § 348 Rdn. 18).
ff) Schließlich können auch die gegen die Anwendung
des Missbrauchsverbotes bei der bewusst "unwahren
Protokollrüge" vorgebrachten praktischen Bedenken nicht zu
einer anderen Beurteilung führen. Abgesehen davon, dass
praktische Erwägungen es ohnehin kaum rechtfertigen
können, einem klar erkennbaren oder sogar offen zugegebenen
Missbrauch nicht entgegenzutreten (vgl. Fahl aaO S. 702), gilt im
Einzelnen folgendes:
30
Der Einwand, ein Rechtsmissbrauch mit seinen objektiven und subjektiven
Elementen erfordere regelmäßig die
Durchführung eines Freibeweisverfahrens durch das
Revisionsgericht und sei schwer zu beweisen (vgl. Tepperwien aaO S.
601), mag zwar die Konsequenzen zutreffend beschreiben. Er kann indes
nicht überzeugen, da eine solche Klärung nur in den
seltenen Fällen zum Tragen kommt, in denen die bewusst
"unwahre Protokollrüge" klar zu Tage tritt. Insofern
unterscheidet sich im Übrigen die Situation bei der bewusst
"unwahren Protokollrüge" nicht von der bei anderen
Anwendungsfällen des Missbrauchsverbots, für die
entsprechende Beweisschwierigkeiten bestehen.
31
- 17 -
Soweit eingewandt wird, in vielen Fällen könne das
Missbrauchsverbot durch Beauftragung eines anderen
Revisionsverteidigers umgangen werden (vgl. Tepperwien aaO S. 601),
kann auch dies nicht durchgreifen. Allerdings liegt die Verbreitung
einer solchen Verteidigungspraxis nicht fern, zumal sie in
Handbüchern ausdrücklich empfohlen wird (vgl. dazu
Dahs, Handbuch des Strafverteidigers 7. Aufl. Rdn. 917 ff., 920:
"Taktlose Fragen" von Revisionsrichtern nach der Wahrheit solle man
dadurch umgehen, dass man einen anderen, nicht in der Hauptverhandlung
anwesenden Rechtsanwalt mit der Verteidigung im Revisionsverfahren
beauftragt, der hierzu im Stande der "Unberührtheit" gehalten
werden solle). Es mag dahin gestellt bleiben, ob eine solche
Umgehungsstrategie dem Bild der Strafverteidigung nach der
Strafprozessordnung entspricht, woran der Senat allerdings Zweifel hat.
Einer solchen Verfahrensweise kann jedenfalls in Fällen
begegnet werden, in denen der Revisionsverteidiger einen
Verfahrensverstoß behauptet, den er nur dem Protokoll
entnimmt, für dessen Unrichtigkeit jedoch erhebliche
Anhaltspunkte gegeben sind. In solchen Fällen wird er gehalten
sein, sich bei dem in der Hauptverhandlung anwesenden
Instanzverteidiger zu erkundigen (vgl. BGH NStZ 2005, 283 f.; BVerfG,
Beschl. vom 22.09.2005 - 2 BvR 93/05). Schließlich wird es in
besonders eklatanten Fällen - wie hier - vielfach
möglich sein, auch dem beauftragten Revisionsverteidiger das
Wissen um die Unwahrheit seiner Rüge nachzuweisen.
32
6. Auch eine unter Berufung auf das Protokoll erhobene Rüge,
bei der der Beschwerdeführer zunächst nicht bewusst
wahrheitswidrig gehandelt hat, kann im Laufe des Revisionsverfahrens
rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig werden,
wenn das sichere Wissen um die Unwahrheit später erworben, die
Rüge aber gleichwohl weiterverfolgt und dem Revisionsgericht
zur Entscheidung unterbreitet wird. Für die Beurteilung der
Zulässigkeit einer Verfah-
33
- 18 -
rensrüge ist maßgeblich auf den Zeitpunkt der
Entscheidung des Revisionsgerichts abzustellen. Es ist kein Grund
ersichtlich, einen erst im Laufe des Revisionsverfahrens entstehenden
Rechtsmissbrauch folgenlos hinzunehmen. Nur so kann auch der Umgehung
des Missbrauchsverbotes durch Beauftragung eines anderen Verteidigers,
der im Unklaren über die Unwahrheit gelassen worden ist,
begegnet werden.
7. Da nach alledem die Rüge der Verteidigerabwesenheit
rechtsmissbräuchlich und unzulässig ist, kommt es auf
die Frage, ob eine Protokollberichtigung berücksichtigt werden
kann, durch die einer erhobenen Verfahrensrüge der Boden
entzogen wird, nicht an. Es ist somit auch nicht veranlasst, das nach
Durchführung des Anfrageverfahrens des 1. Strafsenats zu
dieser Frage (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 112) voraussichtlich zu erwartende
Vorlageverfahren nach § 132 Abs. 2 GVG abzuwarten. Ausweislich
des im Anfragebeschluss mitgeteilten Sachverhalts geht der anfragende
Senat nicht davon aus, der Verteidiger habe dort den
Verfahrensverstoß wider besseres Wissen behauptet.
34
8. Im Übrigen geben die Verfahrensvorgänge, die
dieser und einer entsprechenden Rüge der Mitangeklagten Ec.
zugrunde liegen, Anlass zu dem Hinweis, dass ein ständiges
Kommen und Gehen, bei der Verteidiger gleichsam im Minutentakt den
Sitzungssaal betreten oder verlassen, mit dem geordneten Ablauf einer
Hauptverhandlung und den Anforderungen an eine sachgerechte
Verteidigung schwerlich zu vereinbaren sind.
35
II. Rüge A. III der Revisionsbegründung (Zutritt von
Personen unter 16 Jahren):
36
- 19 -
Die Rüge, die Vorschriften über die
Öffentlichkeit des Verfahrens seien verletzt worden, weil die
Vorsitzende in der Sitzungsverfügung Personen unter 16 Jahren
den Zutritt versagt habe, ist unbegründet. Ist - wie hier -
die Sicherheit im Gerichtsgebäude nicht ohne weiteres
gewährleistet, dürfen im Rahmen einer
Sicherheitsverfügung Maßnahmen, die den Zugang zu
einer Gerichtsverhandlung regeln, getroffen werden, wenn für
sie ein verständlicher Anlass besteht, wobei die Entscheidung
hierüber im pflichtgemäßen Ermessen des die
Sitzungspolizei ausübenden Vorsitzenden steht (BGHSt 27, 13).
37
Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass die
Vorsitzende in Ziffer 2 dieser Verfügung Personen, die
jünger als 16 Jahre sind, den Zugang generell versagt hat.
Nach § 175 Abs. 1 GVG war sie befugt, unerwachsene Personen
von der Teilnahme an der Hauptverhandlung auszuschließen.
Dass sie diese Befugnis im Rahmen einer Sicherheitsverfügung
pauschal in der Weise ausgeübt hat, dass damit junge Menschen,
die mehr als zwei Jahre unter der Volljährigkeitsgrenze sind,
allgemein erfasst wurden, zeigt keinen Rechtsfehler auf. In Anbetracht
der erforderlichen umfangreichen und personalintensiven
Eingangskontrollen, die Wachtmeistern und Polizeikräften
übertragen werden mussten, kann jedenfalls für diese
Altersgruppe, bei der eine hohe Wahrscheinlichkeit für das
Fehlen der Erwachsenenreife spricht, eine individuelle Prüfung
dieser Reife durch das Gericht nicht gefordert werden. Die Entscheidung
des Reichsgerichts in RGSt 47, 374 steht dem nicht entgegen, da ihr
keine vergleichbare Situation, die eine Sicherheitsverfügung
erforderlich machte, zugrunde lag. Im Übrigen betraf sie
17-jährige Zuschauer und hatte für diese das
Erfordernis einer individuellen Prüfung mit spezifischen
Argumenten für diese Altersgruppe begründet
(Heiratsfähigkeit, Zulassung zum Militärdienst).
38
- 20 -
III. Rüge A. IV der Revisionsbegründung (Verwertung
entgegen § 51 BZRG):
39
Der Generalbundesanwalt hat zutreffend darauf hingewiesen, dass der
gerügte Sachverhalt nicht die Verletzung von Verfahrensrecht,
sondern von sachlichem Recht betrifft. Hierauf wird im Zusammenhang mit
der Sachrüge eingegangen.
40
IV. Rüge A. VIII der Revisionsbegründung (Aussetzung):
41
Die Rüge, das Kammergericht habe Aussetzungsanträge
bis zur Herausgabe der vollständigen
Gesprächsprotokolle des Bundesamtes für
Verfassungsschutz mit dem Zeugen M. zu Unrecht abgelehnt, ist
unbegründet. Das Tatgericht war weder unter dem Gesichtspunkt
der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 244 Abs.
2 StPO), der Rücksichtnahme auf die Belange der Verteidigung
(§ 338 Nr. 8 StPO), noch des fairen Verfahrens (Art. 6 MRK)
verpflichtet, den Aussetzungsanträgen zu entsprechen; eine
veränderte Sachlage im Sinne des § 265 Abs. 4 StPO
war - entgegen der Auffassung der Revision - ohnehin nicht gegeben. Das
Kammergericht hat in seinen Beschlüssen unter Orientierung an
den von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten
Grundsätzen die wesentlichen Belange - Wahrheitsermittlung
einerseits, Verfahrensbeschleunigung andererseits - erkannt und unter
Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles
gegeneinander abgewogen (BGH NStZ 1985, 466 ff.). Es hat dabei
berücksichtigt, dass zwar bereits eine verwaltungsgerichtliche
Entscheidung auf Aufhebung der Sperrerklärung in erster
Instanz vorgelegen hat, diese aber nicht rechtskräftig war und
dass ihr im Übrigen nicht die Verpflichtung zur Herausgabe der
ungeschwärzten Protokolle entnommen werden konnte. Angesichts
einer Sachlage, die wesentlich dadurch gekenn-
42
- 21 -
zeichnet ist, dass es nicht um die völlige Sperrung eines
Zeugen als Beweisperson - wie sonst häufig im Zusammenhang mit
Entscheidungen nach § 96 StPO - geht, sondern dass hier der
Zeuge M. persönlich für eine
außergewöhnlich lange Befragung im
Ermittlungsverfahren und ebenso im späteren Hauptverfahren zur
Verfügung gestanden hat, durfte das Kammergericht den
geschwärzten Passagen eine allenfalls geringe potentielle
Beweisbedeutung beimessen. Denn die Befragung des Zeugen durch den
Verfassungsschutz hat erst nach Abschluss eines wesentlichen Teils der
Vernehmungen im Ermittlungsverfahren stattgefunden. Damit konnten aber
die Aussageentwicklung zwischen Ermittlungsverfahren und der
Hauptverhandlung nachverfolgt und etwaige Abweichungen - wie geschehen
- näher beleuchtet werden. Unter diesen Umständen lag
kein Sachverhalt vor, aufgrund dessen sich das Gericht zur weiteren
Aufklärung gedrängt sehen musste. Damit war eine
Aussetzung nicht nur nicht geboten, sie hätte vielmehr dem
Gebot der rechtsstaatlich geforderten Beschleunigung des
Strafverfahrens widersprochen (BVerfGE 63, 45, 68 f.).
V. Rüge A. XII der Revisionsbegründung
(Koordinierungsausschuss):
43
Das Kammergericht hat die nicht namentlich genannten Mitarbeiter des
BfV zu Recht als unerreichbar angesehen. Hinsichtlich der
übrigen benannten Zeugen kann offen bleiben, ob es den
Beweisantrag mit der gegebenen Begründung als bedeutungslos
ablehnen durfte, jedenfalls kann ausgeschlossen werden, dass das Urteil
auf der unterbliebenen Vernehmung zu der behaupteten
Aussageänderung in einem Nebenpunkt, der nicht das
Kerngeschehen betrifft, beruht.
44
- 22 -
VI. Rüge A. XIII der Revisionsbegründung
(ZSA-Sprengsatz):
45
Der Antrag auf Vernehmung des Zeugen Ka. wurde zu Recht als
bedeutungslos abgelehnt. Zum einen ergibt sich aus der vorgelegten, vom
Zeugen M. gefertigten Skizze entgegen den Angaben der Verteidigung
nicht, dass der Wecker mit der Rückseite auf den Karton
"aufgeklebt", sondern nur, dass er am Karton "angebracht" worden ist,
was eine spätere Zugänglichkeit der
Einstellrädchen nicht ausschließt; zum anderen geht
das Kammergericht davon aus, dass der Sprengsatz später noch
verändert worden ist. Eine solche Änderung kann sich
aber neben der Zusammensetzung der Sprengstoffmischung auch auf die Art
der Befestigung der Zündvorrichtung bezogen haben.
46
Der von der Revision beschriebene Widerspruch zur Zusammensetzung des
Sprengstoffgemischs ergibt sich aus dem Urteil nicht, sondern besteht
nur im Verhältnis zu eigenen, urteilsfremden "Feststellungen"
der Verteidigung. Begründungselemente in
Verteidigerschriftsätzen werden nicht dadurch zu
Feststellungen des Gerichts, dass sie unwidersprochen bleiben.
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VII. Rüge A. XV der Revisionsbegründung
(Kfz-Kennzeichen u. a.):
48
Die Voraussetzungen einer nur ausnahmsweise zulässigen
"Alternativrüge", etwa wenn ein essentieller, nicht
erklärlicher Widerspruch zwischen Akteninhalt und
Urteilsgründen besteht (BGHSt 43, 212, 215 f.) oder der
Akteninhalt die Unrichtigkeit der Urteilsfeststellungen ohne weiteres
beweist (BGH NJW 2000, 1962 f.) sind nicht gegeben. Es besteht kein
solcher Widerspruch zwischen dem vorgetragenen Akteninhalt und den
Urteilsgründen. Denn danach hat der Zeuge M. den Diebstahl von
Kennzeichen von Doublettenfahrzeugen nur als Schlussfolgerung (
… "gegen gestohlene des gleichen Wagentyps aus-
49
- 23 -
getauscht worden sein müssen") und als Information vom
Hörensagen wiedergegeben, nicht als selbst erlebte oder
beobachtete Tatsache. Bereits bei diesen Vernehmungen war ihm
vorgehalten worden, dass tatsächlich nachgefertigte
Doublettenkennzeichen eingesetzt worden sind, worauf er
äußerte, dass es ihn nicht wundern würde,
wenn solche Nachfertigungen hergestellt worden seien und dass er seinen
Kenntnisstand lediglich von "J. " habe. Bei dieser Sachlage war eine
Erörterung in den Urteilsgründen, die sich nicht zu
allen erdenklichen, sondern nur zu den wesentlichen Umständen
verhalten müssen, nicht zwingend geboten, zumal die Angaben
des M. zur Herkunft der Kennzeichen in der Hauptverhandlung noch eine
weitere Klärung erfahren haben können.
VIII. Rüge A. XVII der Revisionsbegründung (Aussage
des M.):
50
Die Rüge enthält im Wesentlichen, wie der
Generalbundesanwalt zutreffend ausführt, sachlich-rechtliche
Angriffe gegen die Beweiswürdigung. Soweit mit ihr auch die
sog. Alternativrüge erhoben werden soll, sind deren
Voraussetzungen im Hinblick auf die nicht erörterten
Herstellungsanleitungen in Schriften nicht erfüllt. Soweit die
Erwähnung "obiger Vernehmungen des Zeugen M." vermisst wird,
ist die Rüge nicht zulässig erhoben, da nicht
hinreichend erkennbar ist, worin ein Widerspruch gesehen wird, der
entweder zu weiterer Aufklärung oder zur Erörterung
in den Urteilsgründen hätte führen
müssen.
51
IX. Rüge XXII der Revisionsbegründung
(Rucksackinhalt):
52
Auch dieses Vorbringen enthält keine zulässige
Alternativrüge. Der Ablauf des Gültigkeitsdatums von
Ausweisdokumenten beweist die Unrichtigkeit der Urteilsfeststellungen
nicht ohne weiteres. Denn auch die Mitnahme ungültiger
Dokumente im Fluchtgepäck kann sinnvoll sein, wenn etwa die
Absicht ver-
53
- 24 -
folgt wird, solche Papiere ebenso wie Notizbücher u.
ä. der Polizei nicht in die Hände fallen zu lassen.
B. Sachrüge:
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I. Rüge B. I der Revisionsbegründung (§ 51
Abs. 1 BZRG):
55
1. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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Der Angeklagte war bereits ab 1985 Mitglied der Revolutionären
Zellen in Berlin. Er nahm zur Finanzierung dieser terroristischen
Vereinigung an der sog. "Postsparbuchaktion" teil, bei der mit
gefälschten Postsparbüchern Gelder
betrügerisch erlangt wurden. Deswegen wurde er am 27. Februar
1989 durch das Landgericht Berlin wegen Betrugs verurteilt; die
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129
a StGB war nicht Gegenstand des Verfahrens. Das Kammergericht hat ihn
in diesem Verfahren nur wegen der nach dieser Verurteilung begangenen
mitgliedschaftlichen Betätigungsakte abgeurteilt, weil im
Übrigen Strafklageverbrauch eingetreten sei. Die Revision
rügt jedoch, dass gleichwohl solche früheren
Betätigungen bei der Beweiswürdigung und der
Strafzumessung zu seinen Lasten berücksichtigt worden seien;
dies verstoße gegen § 51 Abs. 1 BZRG.
57
2. Es ist zweifelhaft, ob sich das Verwertungsverbot des § 51
Abs. 1 BZRG nach der zwischenzeitlich getilgten Verurteilung wegen
Betrugs auch auf davor liegende mitgliedschaftliche
Betätigungsakte des Angeklagten bezieht. Denn nach dieser
Vorschrift darf nur die Verurteilung und die ihr zugrunde liegende Tat
nicht zum Nachteil verwertet werden. Selbst wenn man davon aus-
58
- 25 -
geht, der Begriff der Tat im Sinne des § 51 Abs. 1 BZRG sei
gleichbedeutend mit dem nach § 264 StPO, wäre weiter
Voraussetzung für die Annahme eines Verwertungsverbotes, dass
diese Betätigungsakte Bestandteil der vom Landgericht am 27.
Februar 1989 abzuurteilenden Tat im Sinne des § 264 StPO sind.
Dies erscheint zweifelhaft. Der Senat hat bereits in der den
früheren Mitangeklagten Schi. betreffenden
Beschwerdeentscheidung vom 30. März 2001 ausgeführt,
dass er dazu neigt, mehrere prozessuale Taten anzunehmen, wenn der
Angeklagte nur wegen einer einzelnen Betätigung verurteilt
worden ist und er nicht darauf vertrauen durfte, durch das
frühere Verfahren seien alle Betätigungsakte
für die Vereinigung erfasst (BGHSt 46, 349, 358).
3. Diese Frage muss jedoch hier ebenfalls nicht entschieden werden.
Auch wenn man von der gleichen prozessualen Tat ausgehen
würde, läge ein durchgreifender Rechtsfehler nicht
vor, da nicht die der Verurteilung zugrunde liegende Tat zum Nachteil
verwertet worden ist.
59
a) Aus der von der Revision beanstandeten beweiswürdigenden
Passage auf UA S. 65 ergibt sich lediglich, dass eine
Bestätigung der Aussage des Zeugen M. im Hinblick auf die
Flucht des Angeklagten nach Nicaragua ("in den Wald") durch den Inhalt
seines Tagebuchs erfolgt sei. Diese Flucht wegen drohender
polizeilicher Verfolgung stellt jedoch keine mitgliedschaftliche
Betätigung im Sinne des § 129 a StGB dar, weil mit
ihr keine terroristischen Ziele gefördert wurden.
60
b) Aus der weiteren Passage in der Beweiswürdigung, wonach
feststehe, dass "die Angeklagten" bei allen drei vorangegangen
Anschlägen umsichtig, sorgfältig und arbeitsteilig
gehandelt hätten (UA S. 127 f.), ergibt sich nicht, dass
speziell beim Angeklagten eine frühere Betätigung als
Mitglied als Indiz
61
- 26 -
herangezogen worden ist. Vielmehr sollte die generelle Arbeitsweise der
Vereinigung charakterisiert werden, die zuvor bei den einzelnen
Anschlägen herausgearbeitet worden war. Es versteht sich, dass
sich die Wendung nur auf die Verhaltensweisen derjenigen Mitglieder
bezog, die wegen der jeweiligen Anschläge abgeurteilt worden
sind.
c) Die straferschwerende Erwägung, der Anschlag auf die
Siegessäule sei bereits nach dem Anschlag auf Dr. Ko.
diskutiert und schließlich nach langer Planung und
Vorbereitung von den Angeklagten verübt worden (UA S. 149),
berührt allerdings zu einem gewissen Anteil das
Verwertungsverbot nach § 51 Abs. 1 BZRG. Da der Anschlag auf
Dr. Ko. am 1. September 1987 und der Anschlag auf die
Siegessäule am 15. Januar 1991 stattfanden, hätte von
der dazwischen liegenden Planungs- und Vorbereitungstätigkeit
der vor dem 27. Februar 1989 liegende Teil von der
Berücksichtigung ausgenommen werden müssen. Die
nachfolgende Vorbereitung durfte jedoch ebenso wie der Umstand, dass
sich der Angeklagte bei der Tatbegehung an einer lange vorher geplanten
und vorbereiteten Tat beteiligte, zu seinem Nachteil
berücksichtigt werden. Dass das Kammergericht bei einer solch
feinen Differenzierung zu einer geringeren Strafe gelangt
wäre, vermag der Senat auszuschließen.
62
II. Rüge B. II der Revisionsbegründung
(Widersprüche bei Aussage M.):
63
Soweit die Revisionsbegründung unter Abschnitt B. II
verschiedene Widersprüche zwischen der Aussage des Zeugen M.
und dem festgestellten Geschehensablauf darlegt und beanstandet, diese
seien nicht erschöpfend erörtert, zeigt sie einen
Rechtsfehler nicht auf. Das Kammergericht hat die genannten
Widersprüche gesehen und im Rahmen der
außerordentlich umfangreichen
64
- 27 -
Beweiswürdigung in ausreichender Weise erörtert; dass
es dabei wesentliche Umstände außer Acht gelassen
hätte, ist nicht ersichtlich.
III. Rüge B. III der Revisionsbegründung
(Überlassung von Aktenteilen):
65
Die sachlich-rechtliche Beanstandung, das Kammergericht habe bei der
Würdigung der Aussage des Zeugen M. in den
Urteilsgründen nicht ausdrücklich erörtert,
dass ihm und seinem Beistand zuvor Aktenbestandteile, insbesondere
Abschriften von Vernehmungsprotokollen aus dem Ermittlungsverfahren zur
Verfügung gestellt worden waren, geht von urteilsfremden
Feststellungen aus und kann somit einen sich aus dem Urteil selbst
ergebenden Erörterungsmangel nicht belegen. Eine
Aufklärungsrüge ist insoweit nicht erhoben.
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Im Übrigen würde auf der fehlenden
Erörterung das Urteil nicht beruhen. Denn die
Überlassung war Gegenstand etlicher Anträge und
Gerichtsbeschlüsse. Dabei hat das Kammergericht
ausgeführt, dass die Überlassung für die
Würdigung von Bedeutung sein kann und deshalb die
Kenntnisnahme durch den Zeugen zum Gegenstand seiner Befragung gemacht
worden war. Bei dieser Sachlage kann ausgeschlossen werden, dass das
Gericht diesen Umstand bei seiner Überzeugungsbildung aus dem
Blick verloren haben könnte.
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IV. Rüge B. IV der Revisionsbegründung (Wohnung O.
straße):
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Die ausführliche Beweiswürdigung des Kammergerichts
zum Vorhandensein einer konspirativen Wohnung in der O.
straße lässt einen Rechtsfehler nicht erkennen. Ein
solcher wird auch nicht dadurch belegt, dass die Zeugin L. zwar 24
Minuten lang vernommen worden sein soll, ihre Aussage aber nur mit
einigen Sätzen dargestellt worden ist. Es genügt
grundsätzlich
69
- 28 -
die zusammenfassende Wiedergabe des für die
Überzeugungsbildung wesentlichen Inhalts, eine
vollständige Dokumentation der Aussage ist nicht geboten (vgl.
BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 2 Beweisergebnis 3).
Tolksdorf Winkler Pfister von Lienen Hubert |