BGH,
Urt. v. 11.7.2008 - 5 StR 74/08
5 StR 74/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 11. Juli 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der
Hauptverhandlung vom 25. Juni und 11. Juli 2008, an der teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. Jäger
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Professor
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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am 11. Juli 2008 für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten E. gegen das Urteil des Landgerichts
Bremen vom 22. Februar 2007 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
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Das Landgericht hat die Angeklagten E. und S. auf Grund einer
29-tägigen Hauptverhandlung wegen Totschlags schuldig
gesprochen. Gegen den Angeklagten S. hat es auf eine Freiheitsstrafe
von elf Jahren und sechs Monaten erkannt und gegen den Angeklagten E.
unter Einbeziehung einer anderweit verhängten Geldstrafe eine
Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten
festgesetzt. Über die Revision des Angeklagten S. hat der
Senat gemäß § 349 Abs. 2 StPO entschieden.
Auch das Rechtsmittel des Angeklagten E. blieb nach dem Ergebnis der
vom Generalbundesanwalt beantragten Revisionshauptverhandlung - auch
dessen Antrag entsprechend - erfolglos.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen
getroffen:
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Die Eheleute H. und S. sowie Hü. und V. K. waren bis 2004
befreundet. Die Nebenklägerin Hü. K.
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brach im Spätsommer 2004 nach einer Auseinandersetzung mit S.
die Beziehung zu ihrer Freundin H. S. ab. Sie vermutete, dass diese ein
Verhältnis mit ihrem Ehemann V. unterhalte. H. S. trennte sich
von ihrem Ehemann.
Am Abend des 3. Dezember 2005 entdeckten die Angeklagten die H. S. und
den V. K. in dessen Geländewagen im Hafengebiet von Bremen.
Der Angeklagte E. zerstach den vorderen linken Reifen dieses Fahrzeugs.
V. K. fuhr in Richtung Innenstadt weiter. H. S. telefonierte
währenddessen über Notruf mit der Polizei. Nach drei
Kollisionen des von den Angeklagten zunächst benutzten Pkw mit
dem Fahrzeug des V. K. setzten die Angeklagten mit dem Pkw des S. die
Verfolgung fort. V. K. hielt 150 m vor dem Restaurant G. in der H. -B.
-Straße auf dem Rad- und Gehweg an und fragte den Zeugen M.
nach dem Standort, den H. S. telefonisch der Polizei durchgeben wollte.
Die Angeklagten hielten links neben dem Fahrzeug des V. K. . Hierdurch
behinderten sie dessen mögliche Weiterfahrt. Der Angeklagte S.
lief zur Fahrerseite, der Angeklagte E. zur Beifahrerseite. Er zerstach
jetzt den rechten Vorderreifen, beugte sich mit dem Oberkörper
durch das offene Beifahrerfenster, schrie und stach mit dem Messer in
den Innenraum des Wagens nach V. K. . Der Angeklagte S. versuchte, die
verschlossene Fahrertür zu öffnen.
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Entgegen der Aufforderung der H. S. , doch in dem Fahrzeug zu bleiben,
verließ V. K. den Pkw und flüchtete zu
Fuß. Die beiden Angeklagten holten ihn auf der Fahrbahn der
H. -B. -Straße ein und griffen ihn an. V. K. wehrte sich
unter Zuhilfenahme von Pfefferspray. Der Angeklagte E. stach V. K. mit
bedingtem Tötungsvorsatz in dessen linke Brust durch den
Herzbeutel und die Herzvorderwand, wodurch die linke Herzkammer
eröffnet wurde. Der schwer verletzte Geschädigte
flüchtete in das Restaurant, verfolgt von den Angeklagten.
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Diese entfernten sich sodann vom Tatort. Der Angeklagte E.
flüchtete zu Fuß zu einer nur 100 m entfernten
Tankstelle, wo er mit geröteten und tränenden Augen
festgenommen wurde. Der Angeklagte S. verließ mit seinem Pkw
stadteinwärts fahrend den Tatort, kehrte aber alsdann zur
gleichen Tankstelle zurück. Auch die Augen dieses Angeklagten
waren gerötet und tränten.
V. K. verstarb trotz mehrerer Operationen am Folgetag an einem
hämorrhagischen Schock.
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2. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe gegen §
229 Abs. 4 Satz 1 StPO verstoßen, weil am 14. Verhandlungstag
(29. September 2006) keine Sachverhandlung stattgefunden habe, versagt.
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a) An diesem Sitzungstag wurden innerhalb einer halben Stunde ein nach
dem vorangegangenen Sitzungstag gegen beide Angeklagte ergangener
Haftbeschwerdebeschluss des Oberlandesgerichts und ein früher
gegen den Mitangeklagten ergangenes Strafurteil verlesen. Als das
Gericht nach Unterbrechung der Hauptverhandlung feststellte, dass jenes
Strafurteil an einem vorangegangenen Sitzungstag bereits verlesen
worden war, wurde die Sitzung nach knapp vierzig Minuten fortgesetzt.
Die Fortsetzung erfolgte nunmehr in Abwesenheit der Verteidiger, die
sich trotz erfolgter Benachrichtigung über die vorgesehene
Fortsetzung wegen angeblichen Zeitmangels und unter Berufung auf
mangelnde Einhaltung der Ladungsfrist weigerten teilzunehmen. Erstmals
wurde nun noch ein früher gegen den Mitangeklagten ergangener
Strafbefehl verlesen; jene Verlesung wurde an einem späteren
Sitzungstag in Anwesenheit der Verteidiger wiederholt.
b) Es kann dahinstehen, ob die Rüge überhaupt
zulässig ist. Sie verhält sich nicht näher
dazu, dass die Einführung des Prozessstoffes, der nunmehr von
der Revision als eine Sachverhandlung nicht begründend
bewertet wird, den Verfahrensbeteiligten vom Vorsitzenden vorab bekannt
gegeben
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worden war, nachdem in Ansehung der Wünsche der Verteidiger
Rechtsanwalt Ü. (Angeklagter E. ) und Rechtsanwalt
Dö. (Angeklagter S. ) für den 14. Verhandlungstag
eine Terminsdauer von 9.00 Uhr bis 9.30 Uhr vereinbart worden war;
hiernach liegt nahe, dass auch die Auswahl der zu verlesenden Urkunden
„vereinbart“ worden sein kann. Ob es danach
weitergehenden vollständigen Vortrags zur umfassenden
Prüfung der Verfahrensrüge, die auch unter dem
Gesichtspunkt ihrer Verwirkung zu bewerten ist (vgl. BGHR StPO
§ 229 Abs. 1 Sachverhandlung 5), bedurfte, braucht der Senat
nicht zu vertiefen.
c) Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Mindestens
die Verlesung des zuvor weder den Schöffen noch gesichert den
Angeklagten persönlich bekannt gegebenen
Haftbeschwerdebeschlusses des Hanseatischen Oberlandesgerichts Bremen
vom 31. August 2006 stellte, wie das Landgericht in dem den
Aussetzungsantrag der Verteidigung zurückweisenden Beschluss
vom 26. Oktober 2006 zutreffend erkannt hat, eine ausreichende
Sachverhandlung dar. Ob dies auch für die - ersichtlich
zunächst nicht bewusst - wiederholte Verlesung einer
für die Rechtsfolgenbestimmung maßgeblichen
Vorentscheidung gelten kann, welche die Erinnerung der
Prozessbeteiligten an den Prozessstoff zu aktualisieren gleichfalls
geeignet ist, kann dahinstehen.
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Eine Sachverhandlung liegt stets vor, wenn die Verhandlung den Fortgang
der zur Urteilsfindung führenden
Sachverhaltsaufklärung betrifft (vgl. BGHR StPO § 229
Abs. 1 Sachverhandlung 5), das Verfahren mithin inhaltlich auf den
abschließenden Urteilsspruch hin gefördert wird
(BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 7 und 8). Zwar hat die
Verlesung dieses Beschlusses den bereits eingeführten
Beweisstoff nicht erweitert. Er enthält indes vertiefende
Ausführungen zu einer wesentlichen, wenn nicht gar
prozessentscheidenden Verfahrensfrage (vgl. BGHR aaO Sachverhandlung
7), die - von der Verteidigung vehement bekämpfte -
Zulässigkeit der Verwertung des polizeilichen Notrufs der H.
S. aus dem Blickwinkel des § 252 StPO und in Bezug auf den
Grundsatz des fairen Verfahrens wegen
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Behinderung des Fragerechts der Verteidigung gemäß
Art. 6 Abs. 3 lit. d MRK. Die Verlesung des Beschlusses trug somit -
nicht anders als etwa eine rechtliche Stellungnahme eines der
Prozessbeteiligten zu dieser Frage - zur Förderung der
Klärung des im späteren Urteil zugrunde zu legenden
Prozessstoffes bei (vgl. BGHR StPO § 229 Abs. 1
Sachverhandlung 5). Durch die Darlegung des Rechtsproblems wurde zudem
der mit diesem verbundene zentrale Verfahrensstoff tatsächlich
und rechtlich in Erinnerung gerufen. Dies gilt für die
über die Haftfrage während laufender Hauptverhandlung
entscheidungsbefugten Schöffen (vgl. Meyer-Goßner,
StPO 51. Aufl. § 126 Rdn. 8; Hilger in
Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 125 Rdn. 16a) in
besonderem Maße (vgl. auch BGHR StPO § 229 Abs. 1
Sachverhandlung 4).
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Hinzu tritt, dass das Oberlandesgericht entgegen den Beschwerden der
Verteidiger in der bisherigen Verfahrensweise des Landgerichts keine
rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung erblickt hat
(Revisionsbegründung B. S. 18). Die sich damit befassenden
Darlegungen erlangten somit Bedeutung für die - wenn auch erst
nach durchgeführter Beweisaufnahme - vorzunehmende
Rechtsfolgenbestimmung (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2
Verfahrensverzögerung 13; BGH - GSSt - StV 2008, 133, zur
Veröffentlichung in BGHSt bestimmt).
Selbst nach der vom Generalbundesanwalt in der
Revisionshauptverhandlung für geboten gehaltenen
einschränkenden Prämisse läge eine
Sachverhandlung vor. Danach sei der Beschluss des Oberlandesgerichts
nicht als taugliche Grundlage für eine Sachverhandlung
anzusehen, weil ihm zur Frage des Bestehens von
Beweisverwertungsverboten keine weitergehenden, sondern lediglich die
Rechtsansicht des Landgerichts bestätigende
Rechtsausführungen zu entnehmen seien. Indes wäre
vorliegend der Beschlussverlesung selbst nach dieser - durchaus
zweifelhaften - Prämisse ein für ausreichend
erachteter an die Verfahrensbeteiligten gerichteter Appell zum
Überdenken ihrer bisher eingenommenen Rechtspositionen
anzunehmen gewesen. Das Landgericht hat nämlich am 13.
Verhandlungstag durch
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seinen Hinweis, „das Gericht geht davon aus, dass dieser
Widerspruch aufrechterhalten bleibt, solange die Verteidigung nicht
Gegenteiliges äußert“
(Revisionsbegründung B. S. 10) die Rechtslage insoweit als
noch nicht endgültig geklärt angesehen. In diesem
Zusammenhang wäre es unerheblich, dass nach der
Beschlussverlesung nicht etwa eine vertiefende Erörterung mit
den Verteidigern stattgefunden hat, weil diese ersichtlich auf eine
solche verzichtet haben und stattdessen mit dem Vorsitzenden nach
Beendigung der Verhandlung Probleme der Tätertrennung
erörtert haben (Revisionsbegründung B. S. 54).
Der Senat schließt sich den vom 3. Strafsenat nach
Änderung der Unterbrechungsfristen durch das 1. JuMoG in BGHR
StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 7 dargelegten, gegen eine
Verschärfung der Anforderungen an die Annahme einer
fristwahrenden Verhandlung zur Sache sprechenden Erwägungen
an. Auch die Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
nötigt zu keiner anderen Bewertung, weil vorliegend das
Landgericht auch zur Wahrung des Rechts der Angeklagten auf Wahrnehmung
der Verteidigung durch Rechtsanwälte ihrer Wahl bei der Dauer
des Hauptverhandlungstermins den zeitlichen Verfügbarkeiten
dieser Verteidiger Rechnung tragen durfte, ohne hierdurch das Verfahren
erheblich zu verzögern (vgl. BVerfG - Kammer - StraFo 2007,
152, 155; vgl. auch BVerfG - Kammer - StV 2006, 81, 85; BVerfG - Kammer
-, Beschluss vom 17. Juli 2006 - 2 BvR 1190/06 sub 3 b; BGH, Beschluss
vom 6. März 2008 - 5 StR 617/07, Rdn. 11). Insoweit hat die
Revision das landgerichtliche Verfahren auch nicht gerügt.
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d) Demnach kommt es auf die weiteren Überlegungen des
Generalbundesanwalts zum Zweck des Fristerfordernisses des §
229 Abs. 1 StPO nicht mehr an. Der Senat neigt dessen Auffassung zu,
dass es nach den vom Gesetzgeber beschlossenen
Fristverlängerungen von drei Tagen über zehn Tage auf
jetzt geltende drei Wochen schwerlich in erster Linie Zweck der
Vorschrift sein kann, die Erhaltung der Erinnerung an den Prozessstoff
zu
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garantieren (vgl. BGHSt 33, 217, 218; vgl. aber auch BGHR StPO
§ 268 Abs. 3 Verkündung 3; dagegen
Verkündung 4 und 5). Ob hieraus zu schlie-ßen
wäre, dass ein revisibler Verstoß gegen §
229 Abs. 1 StPO überhaupt nur noch bei einer insgesamt im
Blick auf Art. 6 Abs. 1 MRK nachhaltigen Vernachlässigung der
Konzentrationsmaxime angenommen werden sollte, bedarf hier keiner
Entscheidung.
Auch auf eine Bewertung der wegen Verstoßes gegen §
140 Abs. 1 Nr. 1 StPO bedenklichen weiteren Verhandlung vom gleichen
Tag von 10.12 Uhr bis 10.25 Uhr kommt es nicht mehr an, was
gegebenenfalls auch unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung der
Revisionsrüge - nach Auffassung des Generalbundesanwalts bei
der Beruhensprüfung - vertiefungswürdig gewesen
wäre.
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3. Auch die mit der Sachrüge geführten Angriffe gegen
die Beweiswürdigung des Schwurgerichts versagen.
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Das Landgericht war sich bei seiner Würdigung der
gegenüber Dritten gemachten Angaben der H. S. über
eine unmittelbare Tatausführung des Angeklagten E. des
geringeren Beweiswertes der nur zur Verfügung stehenden
mittelbaren Belastungen bewusst, der aus dem Fehlen der
Möglichkeit konfrontativer Befragung nach deren Berufung auf
ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO resultierte (UA
S. 41; vgl. BVerfG - Kammer - NJW 2007, 204, 206 f.; BGH NJW 2000,
3505, 3510, insoweit teilweise nicht in BGHSt 46, 93 abgedruckt; BGHSt
51, 150, 157 Rdn. 26). Das Schwurgericht hat H. S. nicht einmal als
ursprüngliche unmittelbare Tatzeugin angesehen, sondern
angenommen, dass sie auch aus den von ihr wahrgenommenen
Tatumständen auf die unmittelbare Tatausführung durch
den Angeklagten E. geschlossen haben kann (UA S. 41).
Die tatrichterliche Beweiswürdigung ist insoweit - im
Gegensatz zur Auffassung der Revision - auch nicht lückenhaft.
Das Landgericht hat die
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vereinzelt gebliebene zurückhaltende
Äußerung der H. S. gegenüber der Cousine
des Angeklagten E. über dessen Täterschaft (UA S. 40)
mit nachvollziehbarer Würdigung als nicht in Widerspruch
stehend zu anderen, den Angeklagten E. stärker belastenden
Angaben angesehen (UA S. 54).
Das Landgericht hat es auch nicht unterlassen, ein sich aus den
festgestellten Tatumständen etwa aufdrängendes
Alternativgeschehen - Ausführung des tödlichen
Messerstichs durch den Angeklagten S. - zu erörtern (vgl. BGH
NJW 2007, 384, 387, insoweit nicht in BGHSt 51, 144 abgedruckt). Die
auf zahlreiche Beweismittel und Wahrscheinlichkeiten gestützte
Schlussfolgerung, nur E. komme als Messerstecher in Frage (UA S. 70),
ist jedenfalls vor dem Hintergrund der jenseits der (mittelbaren)
Aussage der H. S. bewiesenen Umstände sachlich-rechtlich nicht
zu beanstanden (vgl. BGHSt 36, 1, 14).
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Die Annahme von bedingtem Tötungsvorsatz bedurfte bei dem hier
vorliegenden Herzstich keiner weitergehenden Begründung (vgl.
BGHR StGB § 212 Vorsatz bedingter 57 m.w.N.).
Basdorf Raum Brause
Schaal Jäger |