BGH,
Urt. v. 11.11.2004 - 4 StR 349/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 349/04
vom
11. November 2004
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11.
Novem-
ber 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter ,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten
gegen das Ur teil des Landgerichts Essen vom 29. März 2004
werden verworfen.
2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die dem
Angeklagten hierdur ch entstandenen notwendigen Auslagen
trägt die Staatskasse. Der Angeklagte hat die Kosten seiner
Revision zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer
Freiheitsstrafe von fünf
Jahr en verurteilt. Gegen dieses Urteil wenden sich die
Staatsanwaltschaft und
der Angeklagte mit ihr en auf die Verletzung materiellen Rechts
gestützten Re-
visionen. Die Staatsanwaltschaft macht mit ihrem zu Ungunsten des
Angeklag-
ten eingelegten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel
gel-
tend, der Angeklagte hätte wegen versuchten Mordes verurteilt
werden müs-
sen, da er heimtückisch und aus niedrigen
Beweggründen gehandelt habe. Der
Angeklagte beanstandet die Ablehnung eines strafbefreienden
Rücktritts.
Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
I.
Die Str afkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
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Der jugendlich wirkende, zur Tatzeit 22 Jahre alte Angeklagte hielt
sich
in der Tatnacht in einer Diskothek in Essen auf. Er tr ank Alkohol (zur
Tatzeit
betrug seine Blutalkoholkonzentration 1,51 %o), rauchte Haschisch und
kon-
sumierte möglicherweise eine bis zwei Ecstasy-Tabletten. Die
überwiegende
Zeit ver brachte er mit Tanzen bei lauter Musik. Gegen 6.00 Uhr war er
in "ge-
steiger ter Stimmung, aufgereizt und suchte Kontakt zu weiblichen
Diskothe-
kenbesuchern". Auf der stark abgedunkelten Empor e der Diskothek
versuchte
er, sich Daniela N. anzunäher n, die dies ignorierte. Ihr
Begleiter, der später
geschädigte, 33 Jahre alte, groß und
kräftig gebaute Frank B. hatte dies
bemerkt und sprach den Angeklagten "deutlich, laut und mit durchaus
grober
Stimme" mit den Wor ten an: "Lass die Frau in Ruhe; wenn du reden
willst,
dann rede mit mir!". Für Frank B. war die Angelegenheit damit
erledigt. Er
achtete deswegen in der Folgezeit nicht mehr auf den Angeklagten.
Dieser
fühlte sich jedoch durch Frank B. provoziert und
herausgefordert; überdies
ärgerte er sich sehr über die aus seiner Sicht
unangemessene und unberech-
tigte Zurechtweisung in Anwesenheit Daniela N. s. Er stellte sich
deshalb in
die Nähe Frank B. s und richtete die Frage "Hast Du ein
Problem?" an ihn.
Obwohl nun ein Begleiter des Angeklagten einschritt und ihn von Frank
B.
wegzog, begab sich der Angeklagte erneut an dessen Tisch.
Möglicherweise
infolge seiner Erregung und des Alkohol- und Drogeneinflusses ging der
Ange-
klagte auch davon aus, Frank B. wolle sich mit ihm körperlich
messen und
sei auf ihn fixiert, was tatsächlich nicht zutraf. Der
Angeklagte befürchtete in
einem Schlagabtausch dem körperlich überlegenen Frank
B. zu unterliegen
und entschloß sich deshalb, diesem einen "einzigen,
blitzschnellen und kräfti-
gen" Messerstich in den Brustbereich zu versetzen. Von B. unbemerkt
öff-
nete er ein Klappmesser mit einer Klingenlänge von etwa 10 cm
und stach in
einer plötzlichen Drehbewegung in die Mitte der Br ust des
Geschädigten, des-
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sen Tod er billigend in Kauf nahm. Nach dem Stich wich der Angeklagte
von
Fr ank B. zurück. Dieser merkte zwar, daß er
blutete, war aber noch in der La-
ge, die Treppe von der Empore zum Eingangsbereich der Diskothek
hinunter-
zulaufen und umstehende Personen auf den Angeklagten aufmerksam zu ma-
chen.
Durch den Messerstich wurde eine Arterie im Brustkorb Frank
B. s
dur chtrennt, was zu einem akut lebensgefährlichen Zustand
führte.
II.
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft
Ohne Erfolg wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, daß
der An-
geklagte nicht wegen versuchten Mordes, sondern nur wegen versuchten
Tot-
schlags verurteilt worden ist.
a) Das Landgericht ist zwar davon ausgegangen, daß sich Frank
B.
im Zeitpunkt des mit Tötungsvorsatz geführten
Messerstichs keines Angriffs
dur ch den Angeklagten auf seine körperliche Unversehr theit
versah und hat
deshalb das Mordmerkmal der Heimtücke in objektiver Hinsicht
als erfüllt an-
gesehen. Vom Vorliegen der subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals
hat sich die Strafkammer hingegen nicht zu überzeugen
vermocht.
Das Landgericht ist mit tragfähiger Begründung zu dem
Ergebnis ge-
langt, daß der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit des
Tatopfers nicht er-
kannt hat. Er war zur Tatzeit stark angetr unken, stand zudem unter
Drogenein-
fluß und befand sich nach durchtanzter Nacht in "gesteigerter
Stimmung". Er
verhielt sich gegenüber dem Tatopfer, auch für Dritte
erkennbar, offen aggr es-
siv. Der Angeklagte sprach Frank B. nicht nur mit einer
provozierenden
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Fr age an, sondern sein aggressives Verhalten ver anlaßte
seinen Begleiter, ihn
von Fr ank B. wegzuziehen und beschwichtigend auf ihn einzureden. Wenn
das Landgericht hieraus folgert, der erheblich ber auschte und erregte
Ange-
klagte sei nicht ausschließbar davon ausgegangen, auch das
Tatopfer habe
sein aggressives Verhalten wahrgenommen und deswegen mit einem erhebli-
chen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit gerechnet,
ist dies ein jeden-
falls möglicher und deshalb vom Revisionsgericht
hinzunehmender tatrichterli-
cher Schluß. Dem steht auch nicht entgegen, daß der
Angeklagte Frank B.
dur ch einen einzigen, in einem günstigen Augenblick
geführten, "blitzschnel-
len" Messerstich ausschalten wollte. Dieser Entschluß setzte,
anders als der
Generalbundesanwalt meint, nicht denknotwendig den Plan des Angeklagten
voraus, sich die Ahnungs- und Schutzlosigkeit des Tatopfers
für den Angriff
zunutze zu machen. Vielmehr ist die Vor stellung, einen
plötzlichen und deshalb
möglichst wirkungsvollen ersten Angriff führen zu
müssen, um jede Gegenwehr
des Angegriffenen von vorneherein zu unterbinden, ohne weiteres auch
mit der
Annahme des Angeklagten, sich in eine Auseinandersetzung mit einem ab-
wehrbereiten, körperlich überlegenen Gegner zu
begeben, in Einklang zu brin-
gen.
b) Auch die Begründung, mit der das Landgericht das
Mordmerkmal der
niedrigen Beweggründe verneint hat, hält rechtlicher
Überprüfung stand.
Ob ein Beweggrund niedrig ist, also nach allgemeiner Wertung auf
tiefster Stufe steht, ist aufgrund einer Gesamtwürdigung zu
beurteilen, welche
die Umstände der Tat und ihre Vorgeschichte, sowie die
Persönlichkeit des
Täters und seine seelische Situation einbezieht ( BGH NStZ-RR
2000, 333).
Zwar kommt dem krassen Mißverhältnis zwischen
Tatentschluß und Tötung,
wie es hier vorliegt, maßgebliche Bedeutung zu. Die
Feststellung eines sol-
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chen Mißverhältnisses genügt aber allein
nicht für die Annahme eines niedri-
gen Beweggrundes. Faßte der Täter, wie hier, den
Tatentschluß vielmehr ohne
Plan und Vorbereitung "spontan" aus der Situation heraus, ist besonders
sor g-
fältig zu prüfen, ob sich der Täter der
Umstände bewußt war, die seine Beweg-
gründe als niedrig er scheinen lassen (BGH NStZ 1983, 19; BGH
NStZ-RR
aaO). Diese Grundsätze hat das Landgericht beachtet.
Es hat sich mit den für die Tatbegehung in Frage kommenden
Motiven
des Angeklagten auseinandergesetzt und in Betracht gezogen,
daß der Ange-
klagte möglicher weise aus einem "übersteigerten
Ehrgefühl" handelte, weil er
es nicht ertragen konnte, im Beisein Daniela N. s zurechtgewiesen
worden zu
sein. Es hat aber auch nicht auszuschließen vermochte,
daß Wut und Ärger
des Angeklagten über die Art und Weise, wie ihn Frank B. anspr
ach, Anlaß
für die Tat waren. Im Rahmen der Gesamtwürdigung
stellt die Str afkammer
dar auf ab, daß diese Motive vor dem Hintergrund des
jugendlichen Alters, der
impulsiven Natur und der toxischen Beeinflussung des Angeklagten, der
sich
vom späteren Tatopfer dur ch die grobe Anspr ache provoziert
und zu einer kör-
per lichen Auseinandersetzung herausgeforder t fühlte, zu
sehen sind. Das
Landgericht hat deshalb nicht feststellen können,
daß sich der Angeklagte in
dem Augenblick, als er den Messerstich gegen Frank B. führ te,
der Niedrig-
keit seiner Motivation - diese unter stellt - überhaupt
bewußt war. Dies ist aus
Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
2. Revision des Angeklagten
Der Revision des Angeklagten bleibt ebenfalls der Erfolg versagt. Das
Urteil weist keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Der
Erörte-
rung bedarf nur die Frage eines strafbefreienden Rücktritts
vom Versuch des
Totschlags (§ 24 Abs. 1 StGB).
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Das Landgericht hat zwar im Ergebnis zu Recht einen strafbefreienden
Rücktritt des Angeklagten vom Versuch des Totschlags
abgelehnt. Nicht frei
von rechtlichen Bedenken ist jedoch die Annahme, es liege ein beendeter
Ver-
such vor.
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es
für die Abgr enzung des unbeendeten vom beendeten Versuch und
damit für
die Voraussetzung eines str afbefreienden Rücktritts darauf
an, ob der Täter
nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen
Ausführungshandlung den
Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges
für möglich hält (sog.
Rücktrittshori-
zont, vgl. nur BGHSt 39, 221, 227).
Zwar liegt es bei gefährlichen Gewalthandlungen nahe,
daß der Täter
die lebensgefährliche Wirkung und Möglichkeit des
Erfolgseintr itts kennt
(BGHSt 39, 221, 231 m.w.N.). Diese Kenntnis versteht sich jedoch nicht
von
selbst, wenn das Opfer nach der letzten Ausführungshandlung
noch in der La-
ge ist, sich ohne erkennbare Beeintr ächtigung vom Tatort
wegzubewegen. An-
gesichts dessen, daß Frank B. nach dem Messer stich - gefolgt
vom Angeklag-
ten - noch die Treppen hinunterlief, im Eingangsbereich stehenblieb und
um-
stehende Personen auf den flüchtenden Angeklagten aufmer ksam
machte,
liegt hier (aus der allein maßgeblichen Sicht des
Angeklagten) jedenfalls nach
den Grundsätzen der Rechtsprechung über den
korrigierten Rücktr ittshorizont
(BGHSt 36, 224) die Annahme eines beendeten Versuchs eher fern.
Aufgrund
welcher Umstände der Angeklagte nach dem Stich trotz des
Verhaltens Frank
B. s davon ausging, das Tatopfer bereits lebensgefährlich
verletzt zu haben,
der Versuch also aus Sicht des Angeklagten beendet gewesen
wäre, ergeben
die Urteilsgründe nicht.
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Diesen ist jedoch zu entnehmen, daß ein str afbefr eiender
Rücktritt auch
im Falle des Vorliegens eines unbeendeten Versuchs nicht in Betr acht
käme,
da der Angeklagte jedenfalls nicht freiwillig von einer weiteren
Tatausführung
Abstand nahm (vgl. BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit
7). Das Land-
ger icht ist mit nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis
gelangt, daß der
Angeklagte nach seiner Vorstellung ein weiteres Eindringen auf das
Tatopfer
für aussichtslos hielt, weil er bei einer erneuten
Annäherung mit der Gegen-
wehr des Geschädigten und mit dem sofortigen Einschr eiten
umstehender Dis-
kothekenbesucher rechnete.
Tepperwien
Maatz Athing
Ernemann
Sost-Scheible
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