BGH,
Urt. v. 11.11.2009 - 5 StR 530/08
Nachschlagewerk: ja
BGHSt : ja
Veröffentlichung : ja
StPO §§ 247, 338 Nr. 5
Erfolgt nach Entfernung des Angeklagten während einer
Zeugenvernehmung gemäß § 247 StPO in
andauernder Abwesenheit des Angeklagten eine förmliche
Augenscheinseinnahme, so ist der absolute Revisionsgrund des §
338 Nr. 5 StPO nicht erfüllt, wenn dem Angeklagten das in
seiner Abwesenheit in Augenschein genommene Objekt bei seiner
Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO gezeigt wird (im
Anschluss an BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 1 unter
Aufgabe entgegenstehender Senatsrechtsprechung, BGHR StPO §
247 Abwesenheit 5).
BGH, Urteil vom 11. November 2009 - 5 StR 530/08
LG Berlin -
5 StR 530/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 11. November 2009
in der Strafsache
gegen
wegen Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung u. a.
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 11.
November 2009, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richterin Dr. Schneider,
Richter Prof. Dr. König
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin Z.
als Verteidigerin,
Rechtsanwältin P.
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
- 3 -
für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin
vom 13. März 2008 wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Menschenhandels zum Zweck der
sexuellen Ausbeutung in Tateinheit mit Zuhälterei, wegen
Betruges in 13 Fällen, versuchten Betruges in fünf
Fällen und Anstiftung zum Missbrauch von Scheck- und
Kreditkarten in zwei Fällen unter Einbeziehung anderweitig
rechtskräftig verhängter Einzelstrafen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die auf
Verfahrensrügen und die Sachrüge gestützte
Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
1. Jenseits der auf Verletzung des § 247 StPO
gestützten Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5
StPO wegen Abwesenheit des Angeklagten während einer
Augenscheinseinnahme ist die Revision unbegründet im Sinne des
§ 349 Abs. 2 StPO. Insbesondere steht die Wertung des
Landgerichts zur Bedeutungslosigkeit des auf Zeugenvernehmung mehrerer
Prostituierter gerichteten Beweisbegehrens des Angeklagten nicht in
unauflösbarem Widerspruch zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit
der Angaben der Nebenklägerin und der Zeugin D. .
Sachlichrechtlich ist die Beweiswürdigung des Land-
2
- 4 -
gerichts nicht zu beanstanden. Durchgreifende Rechtsfehler zur Frage
der Schäden aus den vom Angeklagten eingeräumten
Vermögensdelikten sind nicht ersichtlich.
2. Auch die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO ist
unbegründet.
3
a) Insoweit beanstandet die Revision die Abwesenheit des Angeklagten
während einer Augenscheinseinnahme. Die Nebenklägerin
ist gemäß § 247 Satz 1 und 2 StPO in
Abwesenheit des Angeklagten zeugenschaftlich vernommen worden. Dabei
ist ihr Kalender in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten in
Augenschein genommen worden. Während der Unterrichtung des
Angeklagten von dem wesentlichen Inhalt der Zeugenaussage der
Nebenklägerin gemäß § 247 Satz 4
StPO ist der Kalender auf Anordnung der Strafkammervorsitzenden
„von dem Angeklagten in Augenschein genommen“
worden.
4
5
b) Die Rüge ist - entgegen der Auffassung des
Generalbundesanwalts in seinem Beschlussverwerfungsantrag -
zulässig. Das Augenscheinsobjekt ist durch die Wiedergabe der
anschaulichen und konkret für die Beweisführung
maßgeblichen Teile des Kalenders im Sinne des § 344
Abs. 2 Satz 2 StPO hinreichend deutlich bezeichnet worden. Die
Statthaftigkeit von Rügen der hier vorliegenden Art
hängt nicht davon ab, dass der Verteidiger die Anordnung der
Augenscheinseinnahme in fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten durch
den Strafkammervorsitzenden gemäß § 238
Abs. 2 StPO beanstandet hat; daher brauchte hierzu auch nicht
gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgetragen
zu werden.
c) Trotz von der Nebenklägerin in dem Kalender
während der Vernehmung vorgenommener Markierungen vermag der
Senat die ausdrücklich protokollierte Augenscheinseinnahme,
mit welcher die Art von Eintragungen und das Vorhandensein
unterschiedlicher Schriftbilder in dem Kalender veranschaulicht werden
sollten, nicht als bloßen Vernehmungsbehelf zu verste-
6
- 5 -
hen, so dass die Rüge nicht etwa schon deshalb
(offensichtlich) unbegründet ist.
3. Der Senat möchte zwar dem Begriff der Vernehmung im Sinne
des § 247 StPO bei entsprechenden Rügen nach
§ 338 Nr. 5 StPO in Abkehr von bisheriger Rechtsprechung
(BGHSt 26, 218; BGHR StPO § 247 Abwesenheit 1, 14, 15;
§ 338 Nr. 5 Angeklagter 23; BGH NStZ 2000, 440; 2007, 352) den
Inhalt geben, den er nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs bei Rügen nach § 338 Nr. 6 StPO
hat, mit denen ein zu weit gehender Ausschluss der
Öffentlichkeit beanstandet wird, wenn dieser
gemäß §§ 171a bis 172 GVG
für die Dauer einer Vernehmung erfolgt ist. Dort wird
„die Vernehmung“ im Sinne des entsprechenden
Verfahrensabschnitts verstanden; hierzu rechnen alle
Verfahrensvorgänge, die mit der eigentlichen Vernehmung eng in
Zusammenhang stehen oder sich aus ihr entwickeln (BGH NJW 1996, 2663,
insoweit in BGHSt 42, 158 nicht abgedruckt; BGH NJW 2003, 2761,
insoweit in BGHSt 48, 268 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 20. Juli
2004 - 4 StR 254/04).
7
Hier hing die erfolgte Augenscheinseinnahme mit der Zeugenvernehmung
der Nebenklägerin, die sich zu ihrem Kalender
geäußert und ihn erläutert hat, sachlich
(sogar besonders) eng zusammen; das Landgericht hat in seiner
Gestaltung eine Bestätigung ihrer Aussage gefunden (UA S. 6/7,
15, 19; ausweislich des Protokolls hat eine förmliche
Augenscheinseinnahme betreffend den Kalender vor Vernehmung der
Nebenklägerin - was der Rüge den Boden entzogen
hätte -, anders als auf UA S. 19 notiert, nicht
stattgefunden). Diesen Kalender während der Zeugenvernehmung
der Nebenklägerin unter fortdauerndem Ausschluss der von der
Vernehmung ausgeschlossenen Öffentlichkeit in Augenschein zu
nehmen, wäre nach der zitierten Rechtsprechung unbedenklich
gewesen (BGHR GVG § 171b Abs. 1 Augenschein 1).
8
- 6 -
An einer identischen Auslegung, wonach § 338 Nr. 5 i.V.m.
§ 247 StPO die Augenscheinseinnahme auch in Abwesenheit des
während der Vernehmung der Zeugin entfernten Angeklagten
gestattete, ist der Senat wegen nach wie vor entgegenstehender
Rechtsprechung (vgl. dazu, jeweils m.N., Diemer in KK 6. Aufl.
§ 247 Rdn. 6 und 8 sowie Kuckein, ebenda § 338 Rdn.
77) gehindert. Auf entsprechende Anfrage bei den anderen Strafsenaten
(Senatsbeschluss in dieser Sache vom 10. März 2009, StV 2009,
226 m. Anm. Schlothauer; vgl. ferner den Anfragebeschluss des Senats in
einer Parallelsache vom selben Tage - 5 StR 460/08, StV 2009, 342 m.
Anm. Eisenberg; hierzu nunmehr - betreffend die Vereinbarkeit
fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten während der
Verhandlung über die Entlassung des Zeugen mit § 247
StPO - Vorlagebeschluss des Senats vom heutigen Tage) hat lediglich der
1. Strafsenat seine entgegenstehende Rechtsprechung aufgegeben.
9
10
4. Die Rüge greift indes aus anderen Gründen nicht
durch, so dass eine Divergenzvorlage an den Großen Senat
für Strafsachen hier nicht veranlasst ist. Unterstellt man
nämlich auf der Grundlage der verbindlichen Rechtsprechung den
Verfahrensverstoß, so ist dieser jedenfalls wirksam geheilt
worden.
a) Auch die den Senat bindende Rechtsprechung, die eine Erhebung des
Sachbeweises während der Zeugenvernehmung in fortdauernder
Abwesenheit des Angeklagten von § 247 StPO
grundsätzlich nicht als gedeckt ansieht, verneint einen
durchgreifenden Verstoß für den Fall
nachträglicher Heilung (vgl. BGHSt 37, 48, 49). Diese liegt in
einer Wiederholung der Augenscheinseinnahme während der
weiteren Hauptverhandlung nunmehr in Anwesenheit des Angeklagten.
11
Hierfür reicht die Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch
den Angeklagten während seiner Unterrichtung
gemäß § 247 Satz 4 StPO aus. Alle weiterhin
anwesenden notwendigen Verfahrensbeteiligten hatten dabei
12
- 7 -
selbstverständlich die Möglichkeit, das
Augenscheinsobjekt ihrerseits nochmals zu besichtigen. Das
genügt für die eine Heilung bewirkende wiederholte
Augenscheinseinnahme. Beim Augenschein in der Hauptverhandlung ist ein
zusätzlicher „Kommunikationsakt“ unter den
Verfahrensbeteiligten mit ausdrücklicher Erörterung
zur Erheblichkeit einzelner Beobachtungen grundsätzlich nicht
erforderlich (vgl. Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 86
Rdn. 17; a.A. Schlothauer StV 2009, 228, 229 m.w.N.). Bei einem
überschaubaren schlichten Erscheinungsbild des
Augenscheinsobjekts kann selbst für den Fall sukzessiver
Augenscheinseinnahme nichts Weitergehendes gelten. Ein Ausnahmefall mag
gegeben sein, wenn das Gericht einem eher unauffälligen Detail
des Augenscheinsobjekts entscheidende Bedeutung zumisst, ohne die
Prozessbeteiligten hierüber deutlich zu informieren, so dass
die Gefahr einer Überraschungsentscheidung bestünde.
Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Im Übrigen liegt,
namentlich angesichts der Abhandlung der Reaktion des Angeklagten auf
die Augenscheinseinnahme im Urteil (UA S. 19), sogar auf der Hand, dass
die Strafkammervorsitzende auf von der Nebenklägerin
erläuterte, teils gar markierte Kalendereintragungen im Rahmen
der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO in Gegenwart der
übrigen Verfahrensbeteiligten - entsprechend der
Erörterung bei der Augenscheinseinnahme im Rahmen der
Zeugenvernehmung - besonders hingewiesen hat; weitergehender
Protokollierung hätte dieser Vorgang nicht bedurft (vgl.
Alsberg/Nüse/Meyer, Der Beweisantrag im Strafprozess 5. Aufl.
S. 240). Die Verteidigung hat in diesem Zusammenhang auch nicht etwa
eine unzulängliche Unterrichtung des Angeklagten geltend
gemacht und auch mit der Revision zu einer etwa unterschiedlichen
Kommunikation bei der Augenscheinseinnahme in Abwesenheit des
Angeklagten und bei der Besichtigung im Rahmen seiner Unterrichtung
nichts vorgetragen.
b) Der 2. Strafsenat hat bereits bei identischer Fallgestaltung eine
wirksame Heilung des angenommenen Verstoßes bejaht (BGHR StPO
§ 247 Satz 4 Unterrichtung 1; ähnlich bereits in StV
1983, 3; entsprechend der Antwortbeschluss vom 17. Juni 2009 - 2 ARs
138/09). Der erkennende 5. Straf-
13
- 8 -
senat hat seine einer Heilung - mangels nochmaliger förmlicher
Besichtigung des Augenscheinsobjekts durch sämtliche
Prozessbeteiligte gemeinsam - entgegenstehende Rechtsprechung (BGHR
StPO § 247 Abwesenheit 5; BGH StV 1981, 57; 1986, 418; vgl.
auch Beschluss vom 26. Februar 1985 - 5 StR 108/85), auf die sich die
Revision beruft, bereits im Anfragebeschluss aufgegeben. Auch nach
Überprüfung der Ergebnisse des Anfrageverfahrens, in
dem die übrigen Strafsenate bestätigt haben, bislang
nicht entsprechend entschieden zu haben, hält der Senat an
dieser Auffassung fest. Sie ist auch vom 1. und vom 4. Strafsenat
ausdrücklich gebilligt worden (vgl. die
Antwortbeschlüsse vom 22. April 2009 - 1 ARs 6/09 - und vom
25. August 2009 - 4 ARs 7/09).
14
c) Soweit der 3. Strafsenat (Antwortbeschluss vom 7. Juli 2009 - 3 ARs
7/09) zu einer abweichenden Auffassung neigt und die Vorlage an den
Großen Senat für Strafsachen wegen
grundsätzlicher Bedeutung anregt, folgt der erkennende Senat
dem nicht. Er sieht bei Annahme einer Heilung in Form des hier in Frage
stehenden Vorgehens keine Anhaltspunkte für ernstliche
rechtsstaatliche Defizite. Die Gefahr, dass die insgesamt schwer
überschaubare Rechtsprechung zu § 247 StPO noch
komplizierter würde, könnte der Senat allein in der
Fortführung seiner bisherigen überformalen
Rechtsprechung erblicken. Ob in sonstigen Fällen
weitergehender Beweiserhebung während einer
gemäß § 247 StPO in Abwesenheit des
Angeklagten erfolgten Vernehmung eine Heilung anders als durch
vollständige Wiederholung erfolgen könnte, etwa gar
in einer Art Selbstleseverfahren beim Urkundenbeweis, wird
gegebenenfalls zu entscheiden sein.
5. Abschließend bemerkt der Senat zu den für eine
Vorlage an den Großen Senat ins Feld geführten
Argumenten des 3. Strafsenats: Dessen Vorschlag, eine einheitliche
Rechtsprechung zu den absoluten Revisionsgründen aus
§ 338 Nr. 5 und 6 StPO durch Aufgabe der
„Zusammenhangformel“ bei § 338 Nr. 6 StPO
zu finden, folgt der 5. Strafsenat nicht. Dem ste-
15
- 9 -
hen gegenüber der Bedeutung des
Öffentlichkeitsgrundsatzes vorrangige Belange einer
stringenten Gestaltung der Hauptverhandlung entgegen.
6. Trotz der beträchtlichen durch das Anfrageverfahren
verursachten Verzögerung der Revisionsentscheidung (vgl.
Rieß in NStZ-Sonderheft für Miebach 2009, S. 30, 32
f.) besteht kein Anlass für eine irgendwie geartete
Kompensation in der Rechtsfolge. Das Verfahren nach § 132 GVG
vermag als rechtsstaatliche Ausgestaltung des gerade auch dem Schutz
des Beschwerdeführers dienenden Rechtsmittelrechts
grundsätzlich keine rechtsstaatswidrige
Verfahrensverzögerung zu begründen (vgl. BVerfGE 122,
248, 280).
16
Basdorf Brause Schaal
Schneider König |