BGH,
Urt. v. 12.6.2001 - 5 StR 606/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
5 StR 606/00
vom 12. Juni 2001
in der Strafsache gegen
1.
2.
3.
4.
wegen Verletzung von Erziehungspflichten u. a.
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 12.
Juni 2001, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Basdorf, Richterin Dr. Tepperwien, Richter Dr. Raum, Richter
Dr. Brause als beisitzende Richter, Oberstaatsanwalt beim
Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt P
, Rechtsanwalt Dr. M als Verteidiger des Angeklagten I , Rechtsanwalt
Me als Verteidiger des Angeklagten H , Rechtsanwalt S , Rechtsanwalt L
als Verteidiger des Angeklagten Me , Rechtsanwältin K als
Verteidigerin der Angeklagten Lö , Rechtsanwalt St als
Vertreter des Nebenklägers Mario Se ,
Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Chemnitz vom 11. August 2000 aufgehoben. Soweit das Urteil
Taten zum Nachteil des Nebenklägers Se betrifft, wird es auch
auf dessen Revision aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an das Landgericht Leipzig
zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Das Landgericht hat wegen Eintritts der absoluten
Verfolgungsverjährung das vom Oberlandesgericht Dresden am 28.
April 2000 eröffnete Hauptverfahren eingestellt. Die dagegen
gerichteten Revisionen der Staatsanwaltschaft, die vom
Generalbundesanwalt vertreten werden, und des Nebenklägers
haben mit den erhobenen Sachrügen Erfolg. Auf die - den
Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht
genügende - Aufklärungsrüge des
Nebenklägers kommt es nicht an.
1. Den Angeklagten war angelastet, als Mitarbeiter im
"Spezialkinderheim H " in Meerane Straftaten zum Nachteil dort
untergebrachter schwer erziehbarer Jugendlicher begangen zu haben. Im
einzelnen lagen zur Last
- dem Angeklagten I im Zeitraum 4. Januar 1988 bis 5. Dezember 1989 ein
Vergehen der Verletzung von Erziehungspflichten (§ 142 Abs.1
Nr. 2 StGB-DDR),
- dem Angeklagten H zwischen 1986 und Dezember (offensichtlich 2.
Oktober) 1990 Verletzung von Erziehungspflichten in fünf
Fällen und zwei Vergehen der Freiheitsberaubung (§
131 Abs.1 StGB-DDR),
- dem Angeklagten M von Herbst 1987 bis 5. Dezember 1989 fünf
Fälle der Verletzung von Erziehungspflichten, davon in einem
Fall zwischen Sommer und Dezember 1989 in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch eines Jugendlichen (§ 150 Abs.1 StGB-DDR),
und eine Freiheitsberaubung
- und der Angeklagten Lö zwischen Herbst 1987 und Sommer 1989
drei Fälle der Verletzung von Erziehungspflichten und eine
Freiheitsberaubung.
2. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist in keinem Fall
Verfolgungsverjährung eingetreten. Die
Verjährungsfristen für die Verletzung von
Erziehungspflichten und Freiheitsberaubung von fünf Jahren
(§ 82 Abs. 1 Nr. 2 StGB-DDR) und von acht Jahren (§
82 Abs. 1 Nr. 3 StGB-DDR) für den sexuellen
Mißbrauch von Jugendlichen waren am 3. Oktober 1990 noch
nicht verstrichen und wurden an diesem Tag unterbrochen (Art. 315a Abs.
1 Satz 3 Halbs. 1 EGStGB). Ab diesem Zeitpunkt sind die
§§ 78 ff. StGB anzuwenden (vgl. BGH NStZ 1998, 36)
mit der Folge, daß nach § 78c Abs. 3 Satz 1 StGB
für alle angelasteten Taten die § 78 Abs. 3 Nr. 4
StGB zu entnehmenden fünfjährigen
Verjährungsfristen zu laufen begannen. Diese wurden durch Art.
1 des 2. Verjährungsgesetzes vom 27. September 1993 (BGBl. I
1657) bis 31. Dezember 1997 verlängert. Die in Art. 2 dieses
Gesetzes normierte Voraussetzung, Nichteintritt der Verjährung
vor Ablauf des 30. September 1993 lag vor. Vor dem Inkrafttreten des 2.
Verjährungsgesetzes war in keinem Fall seit Beendigung der Tat
durch Ablauf von zehn Jahren absolute Verjährung eingetreten
(§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB). Durch Art. 1 und 2 des 3.
Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I 3223)
wurden die am 31. Dezember 1997 noch nicht abgelaufenen
Verjährungsfristen bis zum 2. Oktober 2000 verlängert
(Art. 315 a Abs. 2 Alt. 1 EGStGB).
Vor diesem Zeitpunkt konnte auch die absolute Verjährung nach
§ 78c Abs. 3 Satz 2 StGB nicht eintreten (BGHR EGStGB Art.
315a -Verjährungsfrist 2; BGH Beschluß vom 7.
Februar 2001 - 3 StR 3/01 -).
Art. 315a Abs. 2 EGStGB ist eine gegenüber § 78c Abs.
3 Satz 2 StGB vorrangige Norm, die ohne sachliche Differenzierung
hinsichtlich der im Gesetzgebungsverfahren diskutierten faktischen
Verfolgungserschwernisse (vgl. BGHR EGStGB Art. 315a -
Verjährungsfrist 3) anzuwenden ist. Diese - auch dem im
Eröffnungsverfahren ergangenen Beschwerdebeschluß
des Oberlandesgerichts Dresden vom 28. April 2000 (1 Ws 317/99)
zutreffend zugrunde gelegte - Auffassung entspricht der Rechtsprechung
des Bundesgerichtshofs (entsprechend Jähnke in LK 11. Aufl.
§ 78c Rdn. 44; Letzgus NStZ 1994, 57, 63), von der abzugehen
kein Anlaß besteht. Entgegen der Auffassung der Verteidigung
war es nicht geboten, nur die im (1.) Verjährungsgesetz
genannten Delikte von der nach Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich
erforderlichen Gleichbehandlung der in den alten und neuen
Bundesländern begangenen Straftaten auszunehmen.
Seit Verkündung des landgerichtlichen Urteils ist der Ablauf
der Verjährungsfrist nach Art. 315a Abs. 1 Satz 3 Halbs. 2
EGStGB, § 78c Abs. 3 Satz 3, § 78b Abs. 3 StGB
gehemmt. Diese Wirkung tritt auch durch ein auf Einstellung lautendes
Prozeßurteil unabhängig von dessen sachlicher
Richtigkeit ein (BGH NJW 2001, 1146, 1147; zur
Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). Für ein
Einstellungsurteil wegen Verjährung gilt nichts anderes.
Das Hinausschieben des Eintritts der Verjährung auf einen
Zeitpunkt bis über 15 Jahre nach Tatbeendigung ist von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (BVerfG - Kammer - NJW 1995,
1145; vgl. BGH aaO). Allerdings wird einem langen Zeitablauf
gegebenenfalls im Rahmen der Rechtsfolgenentscheidung Rechnung zu
tragen sein (vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 2 -
Verfahrensverzögerung 13).
Zum Amnestieeinwand der Verteidigung verweist der Senat auf BGHSt 39,
353, 358, 361.
3. Der Senat hat von § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO Gebrauch gemacht.
Harms Basdorf Tepperwien
Raum Brause
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