BGH,
Urt. v. 14.12.2000 - 4 StR 327/00
StGB 1998 § 226 Abs. 2
1. § 226 Abs. 2 StGB ist nicht Strafzumessungsvorschrift,
sondern Qualifikationstatbestand.
2. Zur Erfüllung des Tatbestandes des § 226 Abs. 2
StGB reicht es aus, daß der Täter die schwere
Körperverletzung als sichere Folge seines Handelns
voraussieht. Die Vorschrift ist - etwa nach strafbefreiendem
Rücktritt vom Tötungsversuch - auch bei direktem
Tötungsvorsatz anwendbar; die entgegenstehende
frühere Rechtsprechung (BGH NStZ 1997, 233, 234) ist
überholt.
BGH, Urteil vom 14. Dezember 2000 - 4 StR 327/00 - LG Essen
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 327/00
vom
14. Dezember 2000
in der Strafsache gegen
wegen schwerer Körperverletzung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14.
Dezem-ber 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Kuckein, Athing, Dr. Ernemann als
beisitzende Richter, Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger, Rechtsanwalt als Vertreter der
Nebenklägerin, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des
Landgerichts Essen vom 6. April 2000 mit den Feststellungen - mit
Ausnahme derjenigen zur "Vorgeschichte" und zum
äußeren Tatgeschehen - aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer
Körperverletzung (§ 226 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB) in
Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer (halbautomatischen)
Selbstladekurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren
verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Nebenklägerin
mit ihrer auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützten
Revision, mit der sie rügt, daß der Angeklagte nicht
nach § 226 Abs. 2 StGB verurteilt wurde und daß das
Landgericht davon ausgegangen ist, die vom Angeklagten verursachte 90
%ige Sehbehinderung auf einem Auge sei nicht dem Verlust des
Sehvermögens (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB)
gleichzustellen.
Das Rechtsmittel hat im wesentlichen Erfolg.
1. Die Revision ist zulässig.
Allerdings kann die Nebenklägerin das Urteil nicht (allein)
mit dem Ziel anfechten, daß eine andere Rechtsfolge
verhängt wird (§ 400 Abs. 1 1. Halbsatz StPO). Das
wäre der Fall, wenn es der Nebenklägerin darauf
ankäme
- wegen der Nichtanwendung des § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB - einen
der Verurteilung zugrunde gelegten zu geringen Schuldumfang zu
beanstanden (vgl. BGHSt 41, 140, 144; BGH NStZ-RR 1997, 371 [weiteres
Mordmerkmal]; BGHR StPO § 400 Abs. 1 Zulässigkeit 4;
Kurth in HK-StPO 2. Aufl. § 400 Rdn. 8, 9). Ziel des
Rechtsmittels der Nebenklägerin ist jedoch ersichtlich in
erster Linie, eine Verurteilung nach dem Nebenklagedelikt (§
395 Abs. 1 Nr. 1 c StPO) § 226 Abs. 2 StGB zu erreichen.
Dieses Rechtsmittelziel ist zulässig, weil § 226 Abs.
2 StGB nicht Strafzumessungsvorschrift, sondern
Qualifikationstatbestand ist:
§ 226 StGB i.d.F. des Sechsten Gesetzes zur Reform des
Strafrechts vom 26. Januar 1998 (BGBl I 164) ersetzt sowohl den
bisherigen § 224 StGB (schwere Körperverletzung) als
auch den durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz (VerbrBekG)
vom 28. Oktober 1994 (BGBl I 3186) neu gefaßten
Qualifikationstatbestand (BTDrucks. 12/6853 S. 26;
Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT Teilband 1 8. Aufl. [1995]
§ 9 Rdn. 27) § 225 StGB (besonders schwere
Körperverletzung) und faßt beide Strafvorschriften
zusammen (s. BTDrucks. 13/8587 S. 37). § 225 Abs. 2 StGB
i.d.F. des VerbrBekG wurde - mit erhöhter Strafdrohung -
§ 226 Abs. 2 StGB n.F.
Im Gesetzgebungsverfahren zum 6. Strafrechtsreformgesetz wurde der
Tatbestand des § 226 Abs. 2 StGB n.F. mehrfach angesprochen
und es wurde betont, daß er der "Schwerkriminalität"
zuzurechnen sei (BTDrucks. 13/8587 S. 37, 61). Da sich die Deliktsnatur
der Bestimmung (vgl. hierzu BGHSt 32, 332 ff.; Wessels/Beulke,
Strafrecht AT 29. Aufl. Rdn. 18 ff., 107 ff.) durch die Neufassung des
Gesetzes nicht geändert hat, ist sie Qualifikationstatbestand
(absichtlich bzw. wissentlich verursachte schwere
Körperverletzung) - mit gegenüber § 226 Abs.
1 StGB anderen subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen - geblieben (vgl.
BTDrucks. 13/8587 S. 22 [8.]; Joecks, StGB-Studienkom-mentar 2. Aufl.
§ 226 Rdn. 2; Schumacher in Schlüchter (Hrsg.),
Bochumer Erläuterungen zum 6. StrRG (1998) § 226 Rdn.
9; Wessels/Hettinger, Strafrecht BT/1 23. Aufl. Rdn. 248, 285;
Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 226 Rdn. 18).
2. Die Revision hat auch im wesentlichen Erfolg.
a) Nach den Feststellungen beabsichtigte der Angeklagte am
späten
Abend des 27. Oktober 1999, die 21jährige "Nebenfrau" seines
Bruders M. - die Nebenklägerin K. C. - , die er für
den Streit in seiner Familie als verantwortlich ansah, mit dem Revolver
seines Bruders zu töten. In Ausführung seines
Vorhabens schoß er aus einer Entfernung von etwa einem Meter
"wortlos aus der Hüfte auf K. ´s Rumpf ... in der
Erwartung, daß nun Blut spritzte und sie sterbend
zusammenbrach. Sie blieb indes stehen, sah ihn erstaunt an. Als er
erkannte, daß ... der Schuß nicht die erwarteten
Folgen hatte, trat er zu ihr, ergriff ihre Haare, zog ihren Kopf
seitlich nach hinten, setzte seine Waffe zwischen dem rechten Augenrand
und der Schläfe auf, sah K. in die Augen und feuerte. K.
stürzte schwer verletzt, sofort halbseitig gelähmt,
zu Boden" (UA 9/10).
Danach meldete der Angeklagte der Polizei, daß er "auf
jemanden geschossen" habe. Er wußte, daß Frau C.
noch lebte und wollte durch den Anruf Rettungsmaßnahmen
veranlassen; ihr Leben konnte gerettet werden, durch die
Schüsse wurde sie jedoch schwer verletzt. Der erste
Schuß hatte zu einer starken inneren Blutung
geführt, der zweite "war in der Nähe des rechten
Augenrandes in den Schädel eingedrungen und knapp rechts neben
der Mittellinie neben dem Scheitel wieder ausgetreten". Dadurch war
"das Hirngewebe im Bereich des rechten Stirnhirnes im vorderen Bereich
des Scheitels mit wichtigen zentralen Schaltfunktionen zerrissen
worden, wodurch eine große Blutung entstand". Diese
Verletzung hatte eine sofortige linksseitige Lähmung zur
Folge. Die Lähmung ist inzwischen leicht
zurückgegangen. Die Nebenklägerin kann mittlerweile
das linke Bein bei noch gelähmtem Fuß etwas bewegen,
ihr linker Arm ist jedoch vollständig gelähmt. Auf
dem linken Auge ist lediglich eine Sehkraft von 10 % erhalten
geblieben. Durch die Notoperation ist eine "quer über den Leib
verlaufende Narbe" verblieben. Die Nebenklägerin kann sich nur
im Rollstuhl fortbewegen und ist auf fremde Hilfe angewiesen; eine
"komplette Restitution der körperlichen Funktionen ist ...
eher unwahrscheinlich" (UA 11).
b) Das Landgericht hat das Geschehen - soweit es Nebenklagedelikte
betrifft - dahingehend rechtlich gewürdigt, daß der
Angeklagte wegen der von ihm eingeleiteten Rettungsmaßnahmen
von dem mit direktem Vorsatz begangenen Tötungsversuch mit
strafbefreiender Wirkung zurückgetreten sei. Er habe sich
daher (nur) der schweren Körperverletzung nach § 226
Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB schuldig gemacht. § 226 Abs. 1 Nr. 1
StGB liege nicht vor, weil die geminderte Sehkraft auf einem Auge nicht
dem Verlust dieses Organs gleichzustellen sei; ein "besonders schwerer
Fall" der schweren Körperverletzung [§ 226 Abs. 2
StGB] sei nicht gegeben, weil nicht festgestellt werden könne,
daß die schweren Folgen absichtlich herbeigeführt
worden seien und der Tötungsvorsatz als Durchgangsstadium nur
eine Körperverletzung enthalte, nicht aber schwere
Schädigungen eines noch lebenden Menschen (UA 18).
c) Diese Würdigung weist im Ergebnis keinen Rechtsfehler auf,
soweit das Landgericht davon ausgeht, der Angeklagte habe mit
"unbedingtem Tötungswillen" (UA 15) gehandelt, er sei aber vom
Tötungsversuch strafbefreiend zurückgetreten (vgl.
BGHSt 39, 221, 227 f.; BGH StV 1999, 594 f.). Die Erwägung,
mit der § 226 Abs. 2 StGB verneint wird, hält jedoch
rechtlicher Überprüfung nicht stand:
Das Landgericht hat nicht verkannt, daß der
Tötungsvorsatz stets mit dem Körperverletzungsvorsatz
verbunden ist (st. Rspr., s. nur BGHSt 16, 122, 123; 44, 196, 199). Aus
diesem Grunde war zu § 225 Abs. 1 StGB a.F. in der
Rechtsprechung anerkannt, daß ein versuchtes
Tötungsdelikt, begangen mit bedingtem Vorsatz, in Tateinheit
mit beabsichtigter schwerer Körperverletzung stehen konnte
(vgl. BGHR StGB § 225 Konkurrenzen 1, 2; offengelassen in
BGHSt 22, 248, 249 f.). Bei direktem Tötungsvorsatz - wie hier
- war zu § 225 StGB in der Fassung vor Inkrafttreten des
Verbrechensbekämpfungsgesetzes, nach dem mit erhöhter
Freiheitsstrafe bedroht wurde, wenn eine der schweren Folgen
"beabsichtigt und eingetreten" war, Tateinheit (nur) dann für
möglich gehalten worden, wenn sich ein direkter - alternativer
- Vorsatz sowohl auf den Tod des Opfers als auch für den Fall,
daß dieser "Erfolg" nicht eintreten sollte, auf eine dann
ernsthaft in Betracht gezogene schwere Körperverletzungsfolge
im Sinne des § 224 StGB a.F. gerichtet hat (vgl. BGHR StGB
§ 225 Konkurrenzen 3 = NStZ 1997, 233, 234). Zur
Begründung wurde angeführt, daß §
224 StGB a.F. Qualifikationen - wie etwa den Verfall in
Geisteskrankheit oder Siechtum - enthalte, die schon begrifflich ein
Weiterleben des Opfers voraussetzen, und die für §
225 StGB a.F. erforderliche Absicht, die sich auf den Eintritt einer
schweren Folge der Körperverletzung beziehen mußte,
daher regelmäßig mit einem direkten
Tötungsvorsatz nicht zu vereinbaren war.
Mit der Änderung des § 225 StGB durch das
Verbrechensbekämpfungsgesetz, durch die die absichtliche dolus
directus 1. GradesGRE> oder wissentliche dolus directus 2.
GradesGRE> Verursachung der schweren Folge unter eine
erhöhte Strafdrohung gestellt wurde (vgl. BTDrucks. 12/6853 S.
27), und die Übernahme dieser Regelung in § 226 Abs.
2 StGB i.d.F. des 6. StrRG ist diese Rechtsprechung überholt.
Nunmehr reicht es zur Tatbestandserfüllung aus, daß
der Täter - alternativ zur beabsichtigten Tötung -
die schwere Folge als sichere Auswirkung seiner Handlung voraussieht
(vgl. Horn in SK-StGB 7. Aufl. § 226 Rdn. 24;
Tröndle/Fischer aaO § 226 Rdn. 19; s. auch BGH,
Urteil vom 14. Februar 1996 - 3 StR 445/95 S. 4, insoweit in BGHSt 42,
43 nicht abgedruckt, und zur Vorsatzform "wissentlich" BGHSt 45, 97,
100; BGHR StPO § 60 Nr. 2 Tatbeteiligung 5).
Nach dem festgestellten Geschehensablauf liegt dies hier nahe;
Feststellungen zur inneren Tatseite insoweit fehlen jedoch.
3. Die Sache bedarf daher auf die Revision der Nebenklägerin
neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat verweist die Sache an
eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, weil das
Verfahren nicht mehr einen in § 74 Abs. 2 GVG bezeichneten
Straftatbestand betrifft (vgl. BGH NJW 1994, 3304, 3305 m.w.N.). Der
neue Tatrichter wird wiederum zu prüfen haben, ob neben den in
§ 226 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StGB bezeichneten schweren Folgen
bei der Nebenklägerin auch ein Verlust des
Sehvermögens auf einem Auge (§ 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB)
eingetreten ist. Ob (nur) eine schwere Beeinträchtigung oder
der Verlust des Sehvermögens vorliegt, ist in erster Linie vom
Tatrichter zu entscheiden (vgl. RGSt 71, 119, 120). Liegt ein
faktischer Verlust der Sehkraft (vgl. hierzu RGSt 58, 173; 63, 423,
424; 71, 119, 120; 72, 321 f.; OLG Hamm GA 1976, 304, 306; Horn aaO
Rdn. 6; Hirsch in LK 10. Aufl. § 224 Rdn. 14 ) nicht vor, so
scheidet § 226 Abs. 1 Nr. 1 StGB aus.
Der Senat hält die von dem Rechtsfehler nicht betroffenen
Feststellungen zur "Vorgeschichte" (UA 5 bis 7) und zum auf UA 8 bis 10
dargestellten äußeren Tatgeschehen aufrecht. Dies
schließt ergänzende Feststellungen, die den
bisherigen nicht widersprechen, nicht aus.
Meyer-Goßner Maatz Kuckein
Athing Ernemann |