BGH,
Urt. v. 14.2.2001 - 3 StR 455/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 455/00
vom
14. Februar 2001
in dem Sicherungsverfahren
gegen
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14.
Februar 2001, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Kutzer, Richterin am Bundesgerichtshof Dr.
Rissing-van Saan, die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Miebach,
Winkler, Becker als beisitzende Richt er, Staatsanwalt in der
Verhandlung, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof bei der
Verkündung als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Oldenburg vom 14. Juni 2000 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht es abgelehnt, den
Beschuldigten gemäß § 63 StGB in einem
psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Die hiergegen gerichtete
Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des sachverständig beratenen
Landgerichts war wegen einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis
mit formalen Denkstörungen die Schuldfähigkeit des
Beschuldigten, dessen Strafregisterauszug sieben Eintragungen aufweist,
bei allen 15 Anlaßtaten erheblich vermindert, seine
Schuldunfähigkeit nicht ausschließbar. In diesem
Zustand hat der Beschuldigte neben anderen Delikten ein nicht
zugelassenes und nicht versichertes Fahrzeug geführt, ohne im
Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein, Unterschlagungen und
Diebstähle mit Schadenshöhen von über 600 DM
(in einem Fall) und von ca. 800 DM (in drei Fällen) sowie zwei
räuberische Diebstähle begangen. In dem ersten dieser
Fälle wurde der Beschuldigte nach dem Diebstahl geringwertiger
Verbrauchsgüter nach Durchqueren der Kasse von der
Marktleiterin angesprochen und, weil er flüchten wollte,
angehalten. Erst als er diese zur Seite schubste, konnte er sich
befreien und mit der entwendeten Ware flüchten. Kurze Zeit
später entwendete er drei Schachteln Zigaretten, wurde nach
Passieren der Kasse aufgefordert, stehenzubleiben, und
schließlich nach Erreichen seines Fahrrads festgehalten.
Wieder versuchte er sich zu befreien. Schließlich gelang es
zwei Personen, den Beschuldigten wieder in das Geschäft
zurückzubringen, wo er die Zigaretten zurückgab.
Das Landgericht hat die von der Staatsanwaltschaft beantragte
Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus
abgelehnt, weil es sich bei allen Anlaßtaten um
Bagatellfälle aus dem Bereich der unteren
Kriminalität handele, die eine
Gefährlichkeitsprognose nicht zuließen. Das gelte
auch für die beiden Fälle des räuberischen
Diebstahls, da sich die angewendete Gewalt in Grenzen gehalten und sich
nicht gegen Personen gerichtet habe. Da die Unterbringung des
Beschuldigten nach § 1906 BGB angeordnet und seine Betreuung
mit den Aufgabenbereichen Aufenthaltsbestimmung und
Gesundheitsfürsorge beschlossen sei, komme die
zusätzliche Unterbringung des Beschuldigten
gemäß § 63 StGB nicht in Betracht.
2. Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht
stand.
a) Die Annahme des Landgerichts, daß der Beschuldigte wegen
einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis bei allen
Anlaßtaten in seiner Schuldfähigkeit "in jedem Fall"
erheblich vermindert und seine Schuldunfähigkeit nicht
ausschließbar sei, ist mit dem Hinweis "auf das
überzeugende Gutachten der Sachverständigen" nur
unzureichend belegt. Es hätte näherer Darlegung der
Persönlichkeitsstörung nach Art, Entstehung,
Ausmaß und Wirkungen im Urteil bedurft, um ihren
möglichen Einfluß auf die Schuldfähigkeit
des Beschuldigten beurteilen zu können und dem
Revisionsgericht unter diesem Gesichtspunkt die rechtliche
Prüfung zu ermöglichen. Auch fehlen
Ausführungen dazu, daß die Taten auf diesen Defekt
zurückzuführen sind, das heißt mit diesem
in einem kausalen, symptomatischen Zuammenhang stehen
(Senatsentscheidungen NStZ 1999, 612, 613; 1999, 128 - jeweils
m.w.Nachw.). Solcher Ausführungen hätte es schon
deshalb bedurft, weil der Beschuldigte vor dem Auftreten der endogenen
Psychose im Januar 1997 mehrfach straffällig geworden ist. Der
neue Tatrichter wird sich auch damit auseinandersetzen müssen,
daß der Beschuldigte in dem Zeitraum der Begehung der
Anlaßtaten wegen - eines im schuldfähigen Zustand
begangenen - Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt worden ist.
b) Die Wertung der Strafkammer, daß es sich bei den
bisherigen Delikten nicht um "erhebliche" Straftaten im Sinne des
§ 63 StGB handelt, ist revisionsrechtlich nicht
nachvollziehbar. Die Grenze für die Anwendbarkeit der
Maßregel der Unterbringung ist dann überschritten,
wenn es sich um Taten handelt, die der mittleren Kriminalität
zuzurechen sind (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl.
§ 63 Rdn. 12 m.w.Nachw.). Sie wird nicht erreicht in
Bagatellfällen (vgl. zur Abgrenzung BGHSt 27, 246, 248; BGH
NStZ 1992, 178; BGHR StGB § 62
Verhältnismäßigkeit 2; § 63
Gefährlichkeit 16, 17, 20, 22). Mit dieser für die
Einstufung der Delikte des Beschuldigten als erheblich erforderlichen
Abgrenzung hat sich die Strafkammer nicht näher
auseinandergesetzt. Aufgrund der getroffenen Feststellungen ist eine
Einordnung in den hier gegebenen Grenzfällen - insbesondere
den beiden räuberischen Diebstählen - nicht
möglich. Denn es fehlen Ausführungen dazu, wie die
vom Beschuldigten angewandte Gewalt konkret aussah. Die Formulierungen
"zur Seite schubsen" und "sich zu befreien versuchen" sagen nichts
über die tatsächlich stattgefundenen
Tätlichkeiten des Beschuldigten (Schläge,
kräftiges Rempeln des Beschuldigten; Abwehr- bzw.
Festhaltemaßnahmen der Betroffenen unter Aufbietung von mehr
als nur unerheblicher Kraft), deren Auswirkungen auf die Betroffenen
(mehr als nur geringfügige körperliche und/oder
psychische Beeinträchtigung) und ihr für die
Allgemeinheit wahrnehmbares Erscheinungsbild (als beunruhigend,
bedrohlich oder eher harmlos, nur belästigend wirkend) aus.
Unverständlich ist die Feststellung, daß sich die
Gewalt des Beschuldigten in beiden Fällen nicht gegen Personen
richtete.
Der neue Tatrichter wird die Sachverhalte deshalb näher
aufklären müssen. Auch wenn nach dann neu getroffenen
Feststellungen die angewendete Gewalt nicht besonders
ausgeprägt und der Wert der erbeuteten Gegenstände
geringfügig ist, und wenn weiter die vom Tatgericht
vorzunehmende Gesamtwürdigung in den Fällen des
räuberischen Diebstahls zu einer Bewertung als minder schwere
Fälle führen würde, stünde dies
einer Einstufung als erhebliche Straftaten im Sinne des § 63
StGB nicht entgegen, wenn die Gesamtschau aller wesentlichen
Umstände ergibt, daß die Taten den Rechtsfrieden
erheblich stören (vgl. BGHR StGB § 63
Gefährlichkeit 22). Dabei wird der neue Tatrichter nicht nur
auf die von dem Beschuldigten begangenen Vermögensdelikte
abzustellen, sondern auch die möglichen schwerwiegenden
Auswirkungen zu bewerten haben, die das Fahren ohne Fahrerlaubnis mit
einem nicht zugelassenen und nicht versicherten Fahrzeug durch einen
möglicherweise Schuldunfähigen nach sich ziehen
könnte.
3. Die Strafkammer hat eine Unterbringung des Beschuldigten
gemäß § 63 StGB auch deshalb abgelehnt,
weil bereits eine Unterbringung nach § 1906 BGB und eine
Betreuung für den Beschuldigten mit den Aufgabenbereichen
Aufenthaltsbestimmung und Gesundheitsfürsorge angeordnet
wurde. Dabei übersieht das Landgericht, daß im Falle
der Gefährlichkeit des Täters für die
Allgemeinheit die Notwendigkeit einer Unterbringung nach § 63
StGB nicht durch minder einschneidende Mittel außerhalb des
Bereichs der strafrechtlichen Maßregeln aufgehoben wird, weil
bei den freiheitsentziehenden Maßregeln der Sicherung das
Subsidiaritätsprinzip nur für die Frage der
Aussetzung der Vollstreckung, nicht aber für die Frage ihrer
Anordnung gilt (vgl. Senatsentscheidung BGHR StGB § 63
Gefährlichkeit 28 m.w.Nachw.; vgl. auch BGHSt 34, 313, 316;
BGH NStZ 2000, 470, 471; NStZ-RR 1998, 205).
Kutzer Rissing-van Saan Miebach
Winkler Becker |