BGH,
Urt. v. 14.6.2000 - 3 StR 94/00
StGB § 78 c Abs. 1 Nr. 1
Zur Unterbrechungswirkung der Anordnung der ersten Vernehmung des
Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren wegen
serienmäßig begangenen sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes.
BGH, Urt. vom 14. Juni 2000 - 3 StR 94/00 - LG Verden
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 94/00
vom
14. Juni 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 14.
Juni 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Kutzer, Richterin am Bundesgerichtshof Dr.
Rissing-van Saan, die Richter am Bundesgerichtshof Winkler, Pfister,
von Lienen als beisitzende Richter, Staatsanwalt in der Verhandlung,
Bundesanwalt bei der Verkündung als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwältin als Vertreterin der
Nebenklägerin, Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Verden vom 18. Oktober 1999 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und
die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in vier Fällen,
davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Beischlaf zwischen
Verwandten, sowie wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in
drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren
verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die allgemeine
Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat
keinen Erfolg. Die Nachprüfung des Urteils auf Grund der
Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben, insbesondere ist keine der abgeurteilten Taten
verjährt.
Nach den Feststellungen hat der Angeklagte an seiner am 22. September
1979 geborenen Tochter Monika in der Zeit von ihrem 7. oder 8.
Lebensjahr bis zu ihrem Auszug aus seiner Wohnung am 19. Juni 1995 in
sieben Fällen sexuelle Handlungen vorgenommen, von denen drei
vor Vollendung des 14. Lebensjahres (Fälle II. 1, 2 und 7 der
Urteilsgründe) und vier nach dieser Altersgrenze
(Fälle II. 3 - 6 der Urteilsgründe) begangen worden
sind.
Strafverfolgungsverjährung ist entgegen der Auffassung des
Generalbundesanwalts auch hinsichtlich der Fälle II. 4 bis 6
der Urteilsgründe nicht eingetreten. Diese Taten, die zwischen
dem 14. Geburtstag des Opfers (22. September 1993) und dem 19. Juni
1995 begangen worden sind, waren während des
Ermittlungsverfahrens noch nicht im einzelnen bekannt, da sie die
Geschädigte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 21. Februar
1997 noch nicht geschildert, sondern erst der im Strafverfahren
hinzugezogenen Sachverständigen gegenüber offenbart
hatte. Sie konnten demzufolge noch nicht in die Anklage vom 26.
September 1997 aufgenommen werden, sondern mußten zusammen
mit dem Fall II. 7 der Urteilsgründe, der bereits im
Ermittlungsverfahren von der Mutter der Geschädigten berichtet
worden war, zum Gegenstand der weiteren Anklage vom 3. Februar 1999
gemacht werden.
Die fünfjährige Verjährungsfrist des
§ 78 Abs. 2 Nr. 4 StGB, die frühestens am 22.
September 1993 zu laufen begonnen hatte, ist durch die Ladung des
Angeklagten vom 21. Mai 1997 zu seiner ersten Vernehmung als
Beschuldigter auch hinsichtlich dieser Taten unterbrochen worden. Die
Wirkung einer Unterbrechungshandlung nach § 78 Abs. 1,
§ 78 c Abs. 1 StGB erstreckt sich grundsätzlich auf
die Tat als ein "historisches" oder "konkretes" Vorkommnis (BGHSt 22,
105, 106; 22, 375, 385). Dabei braucht dieses Geschehen zwar noch nicht
in allen Einzelheiten, die zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens oft
erst noch geklärt werden müssen, festzustehen. Es
sind jedoch Anhaltspunkte nötig, die es von denkbaren anderen
ähnlichen oder gleichartigen Lebenssachverhalten unterscheiden
(BGH aaO). Wird wegen mehrerer Taten ermittelt, so bezieht sich die
Unterbrechungswirkung grundsätzlich auf alle
verfahrensgegenständliche Taten, sofern nicht der
Verfolgungswille des tätig werdenden Strafverfolgungsorgans
erkennbar auf eine oder mehrere Taten beschränkt ist (BGHR
StGB § 78 c I Handlung 4; § 78 c I Nr. 1 Bekanntgabe
2). Dabei kann bei einer Vielzahl von Taten zu Beginn der Ermittlungen
eine zusammenfassende Kennzeichnung des Tatkomplexes ausreichend sein,
wobei die Aufführung aller zugehörigen
Einzelfälle häufig noch gar nicht möglich,
aber auch nicht erforderlich ist (G. Schäfer, Festschrift
für Dünnebier 1982, S. 548, 549). So hat der
Bundesgerichtshof in einem Fall, in dem der Verdacht der Veruntreuung
von Mandantengeldern durch einen Rechtsanwalt in einer erheblichen Zahl
von Fällen bestand, die Durchsuchungsanordnung zur "Ermittlung
weiterer Veruntreuungen" auf alle in dieser Anwaltspraxis begangenen
Veruntreuungen von Mandantengeldern bezogen erachtet (BGH, Urt. vom 25.
Juli 1978 - 5 StR 130/78, zit. bei G. Schäfer aaO Fn. 34).
Dagegen hat er in einem anderen Fall, in dem sich die Strafverfolgung
nur auf eine kleine Anzahl bekannter Fälle (veruntreute Gelder
bestimmter Mandanten) bezogen hatte, die Erstreckung auf andere
"unbestimmte Sachen bei unbestimmten Mandanten" abgelehnt (BGH bei
Dallinger, MDR 1956, 395, 396). In einem weiteren Fall eines
Tatkomplexes, in dem der Durchsuchungsbeschluß damit
begründet war, bei einem bestimmten Bauvorhaben seien zum Teil
erhebliche Handwerkerforderungen unbezahlt geblieben, hat er die
Unterbrechungswirkung auf alle Fälle der an diesem Vorhaben
beteiligten Handwerker und Lieferanten bezogen, gleich ob bereits eine
Strafanzeige oder die Äußerung eines
Geschädigten vorlag. Auch soweit in dem gleichen Fall der
Angeklagte Zahlungen von Kaufinteressenten für sich abgezweigt
haben soll, war es nicht erforderlich, daß die einzelnen
Geschädigten bereits bekannt waren. Die genau umschriebene
Begehungsweise habe dem Bedürfnis genügt, die von der
Unterbrechung betroffenen Taten von denkbar ähnlichen oder
gleichartigen Vorkommnissen, auf die sich die Verfolgung nicht bezog,
zu unterscheiden (BGH, Urt. vom 17. Februar 1981 - 1 StR 546/80, zit.
bei G. Schäfer aaO; z.T. zit. bei Holtz MDR 1981, 453).
Danach hängt es von den konkreten Umständen des
Einzelfalles ab, welche Taten innerhalb eines bestimmten
Geschehenskomplexes Gegenstand einer Untersuchungshandlung sind.
Für die Bestimmung des Verfolgungswillens der
Strafverfolgungsorgane ist neben dem Wortlaut der Verfügung
auch der Sach- und Verfahrenszusammenhang entscheidend, wobei der
Akteninhalt zur Auslegung heranzuziehen ist (vgl. BGH, Beschl. vom 5.
April 2000 - 5 StR 226/99).
Hier ergeben die konkreten Umstände des Ermittlungsverfahrens,
daß im Zeitpunkt der Anordnung der ersten Vernehmung des
Beschuldigten am 21. Mai 1997 Gegenstand der Strafverfolgung alle
sexuellen Mißbrauchshandlungen des Beschuldigten
gegenüber seiner Tochter Monika in der Zeit von 1986 bis zum
19. Juni 1995 waren. Wie sich aus den Akten ergibt, hat die
Geschädigte gegenüber der Betreuerin V. in einem
Berufsbildungswerk für behinderte junge Menschen
nähere Angaben über den Mißbrauch durch
ihren Vater gemacht, die die Zeugin V. in einem schriftlichen Vermerk
(Bd. I Bl. 9 - 10 d. SA) festgehalten hat, den schließlich
ein Sozialpädagoge dieser Einrichtung der Kriminalpolizei
übergeben hat. Danach fand "ca. seit dem 10. Lebensjahr
Belästigung" durch den Vater statt, der dann beispielhaft
("z.B. Hand auf Penis legen") geschildert wird. Die Schilderung der
Gelegenheiten, bei denen Vater und Tochter allein waren, deutet
ebenfalls auf eine Vielzahl von Vorgängen hin ("Mutter und
Bruder in der Küche oder aus dem Haus, oder wurden zum
Einkaufen, Essen holen, in den Keller geschickt"), wobei dieser
Abschnitt der Mißbrauchsschilderung mit der Anmerkung "Bis
ca. 11 - 12 Jahren ging das so" abgeschlossen worden ist. Der
nächste Abschnitt betraf das Einsetzen der weiblichen
Entwicklung, insbesondere das Wachsen der Brust des Mädchens.
Auch hierzu wurde ein "Beispiel" des veränderten
Mißbrauchsverhaltens geschildert (sie muß sich auf
seinen Schoß setzen, er berührt sie an der nackten
Brust). Schließlich wird für den Altersabschnitt
"ca. 14 - 15 Jahre alt" wiederum ein "Beispiel" mit Geschlechtsverkehr
dargestellt. Bereits aus diesem Vermerk ergibt sich der Verdacht einer
Vielzahl von Mißbrauchsfällen, die sich im Laufe der
Zeit und entsprechend der Entwicklung des Mädchens in ihrer
Intensität steigerten.
Dem entspricht, daß die Mutter der Geschädigten als
gesetzliche Vertreterin am 27. Februar 1997 einen schriftlichen
Strafantrag wegen "sexuellen Mißbrauchs ab ca. 1986 bis 1995"
durch ihren Ehemann an der gemeinsamen Tochter Monika gestellt hat (Bd.
I Bl. 3 d. SA). Auch wenn die Geschädigte selbst bei ihrer
Vernehmung durch die Kriminalpolizei am 21. Februar 1997 (Bd. I Bl.
12-21 d. SA) lediglich drei Mißbrauchsfälle
geschildert hat, die den drei für die jeweiligen
Altersabschnitte dargestellten Beispielsfällen in dem Vermerk
der Betreuerin V. entsprechen, rechtfertigt dies eine
Beschränkung des Verfahrensgegenstandes auf diese drei
Fälle nicht. Nach dem Vermerk der vernehmenden Kriminalbeamtin
(Bd. I Bl. 4 d. SA) machte die damals 17jährige
Geschädigte den Eindruck eines erst 15jährigen
Mädchens, wobei sich die Vernehmung wegen ihrer
Zurückhaltung als schwierig erwies. Zudem ergibt bereits die
am 27. Februar 1997 erfolgte Vernehmung der Mutter der
Geschädigten (Bd. I Bl. 23 - 29 d. SA), daß diese
ihr erzählt hat, der Angeklagte habe sie bis zum Einsetzen der
ersten Periode zunächst "häufiger" am Busen
gestreichelt, er hätte sie auch "häufiger"
aufgefordert, mit der Hand an sein Geschlechtsteil zu fassen.
Schließlich hat sie ihrer Mutter noch eine konkrete Tat in
einem LKW geschildert (= Fall II. 7 der Urteilsgründe), den
sie der Kriminalbeamtin gegenüber verschwiegen hat.
Diese Umstände belegen, daß nicht davon ausgegangen
werden konnte, die Geschädigte habe bei der polizeilichen
Vernehmung umfassend das gesamte Mißbrauchsgeschehen
geschildert, und daß somit nur noch diese drei Taten
Gegenstand des Verfahrens waren. Vielmehr bestand weiterhin der
konkrete Verdacht, daß es über die drei genannten
Einzelfälle hinaus noch zu mehreren
Mißbrauchsfällen im fraglichen Zeitraum gekommen
ist, zumal es bei - insbesondere jungen - Mißbrauchsopfern
nicht selten vorkommt, daß sie nur einen Teil des sie
belastenden Geschehens offenbaren, sei es aus Scham oder weil sie die
unangenehmen Erlebnisse verdrängen wollen, sei es, um den
nahen Angehörigen nicht allzu sehr zu belasten. Danach bezog
sich die Vorladung des Angeklagten zur ersten Beschuldigtenvenehmung
vom 21. Mai 1997 auf alle von ihm im Tatzeitraum gegenüber
seiner Tochter begangenen Mißbrauchstaten. Dem steht nicht
entgegen, daß die Anklage vom 26. September 1997 nach
Einstellung des Verfahrens wegen weiterer in Betracht kommender
sexueller Übergriffe gemäß § 154
Abs. 1 StPO sich zunächst auf die genannten drei im Sinne des
§ 200 StPO hinreichend konkretisierten Einzelfälle
beschränkt hat, nachdem der Angeklagte keine Angaben zur Sache
gemacht hatte und die Geschädigte als Zeugin damals nur diese
Fälle zu schildern bereit war.
VRiBGH Kutzer Ri´inBGH Rissing-van Saan Winkler ist erkrankt
und kann befindet sich in Urlaub und
daher nicht unter- kann daher nicht unterschreiben.
schreiben.
Winkler Winkler Pfister von Lienen |