BGH,
Urt. v. 15.8.2007 - 2 StR 309/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 309/07
vom
15.8.2007
in dem Sicherungsverfahren
gegen
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
15.8.2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Bode,
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Koblenz vom 2. Februar 2007 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat es im Sicherungsverfahren abgelehnt, die
Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus
anzuordnen. Die auf die Sachrüge gestützte Revision
der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat
Erfolg.
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Die Ablehnung der Unterbringungsanordnung hält der
sachlich-rechtlichen Prüfung nicht stand. Die
Begründung der für den Beschuldigten
günstigen Gefährlichkeitsprognose enthält
einen Wertungsfehler und die Gesamtwürdigung der Vor- und
Anlasstaten lässt einen wesentlichen Tatumstand
außer Betracht.
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1. Das Landgericht hat im Wesentlichen festgestellt:
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a) Der Beschuldigte neigt aufgrund seiner psychischen Erkrankung zur
Distanzlosigkeit und überschreitet allgemein anerkannte
soziale Grenzen. Es kommt immer wieder zu Belästigungen seines
sozialen Umfelds, wofür der Be-
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schuldigte insbesondere unter türkisch-stämmigen
Bewohnern weithin bekannt ist. Seine Umgebung weiß vielfach
mit den krankheitsbedingten Besonderheiten des Beschuldigten und den
sich hieraus ergebenden irrationalen Verhaltensmustern umzugehen.
Aufgrund der Nichteinhaltung der ärztlich verordneten
Medikation, teilweise verstärkt durch Alkoholgenuss, kam es
von Herbst 2005 bis August 2006 zu folgenden Vorfällen:
- In einem Waschsalon nahm der Beschuldigte fremde Wäsche aus
einem Trockner mit und warf sie weg (Fall 1).
- In 15 Fällen missachtete er das Hausverbot in einer
Spielothek und in sechs Fällen in einem Einkaufscenter; dabei
entleerte er in einem Fall einen Feuerlöscher in die
Spielothek, in einem weiteren Fall wurde er von der Aufsicht zum
Verlassen der Spielothek aufgefordert. Daraufhin erhob er die Faust und
holte zu einem Faustschlag in Richtung der Aufsicht aus. Ein anwesender
Zeuge konnte den Arm des Beschuldigten festhalten, so dass die Aufsicht
nicht getroffen wurde (Fälle 2, 7-26).
- In einer Gaststätte wollte sich der Beschuldigte 50 Euro
leihen. Als der Gastwirt dies verweigerte, zog der Beschuldigte beim
Hinausgehen aus Verärgerung den Türschlüssel
ab und warf ihn auf die Straße. Der Gastwirt ging davon aus,
der Beschuldigte habe den Schlüssel mitgenommen, verfolgte ihn
mit einem Begleiter und forderte lautstark die Rückgabe seines
Schlüssels. Der Beschuldigte beteuerte zutreffend, er habe den
Schlüssel nicht. Auf die nachdrückliche Forderung,
den Schlüssel herauszugeben, reagierte der Beschuldigte
ebenfalls laut und verbal aggressiv. Er fühlte sich in die
Enge getrieben, zog ein Messer heraus und rief in Richtung des
Gastwirts auf Türkisch: "Lass mich in Ruhe, ich bringe dich
um, ich habe deinen Schlüssel nicht gestohlen."
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Daraufhin ließ der Gastwirt von dem Beschuldigten ab und
ließ die Polizei verständigen (Fall 3).
- In einer Bäckerei begann der Beschuldigte, Kunden
anzupöbeln. Als ihn die Verkäuferin aus dem Laden
wies, beschimpfte er sie als "Arschloch", "Schlampe", "Hure". Als die
Verkäuferin ihm ausdrücklich Ladenverbot erteilte,
setzte er seine Verbalattacken fort. Auf die erneute Mahnung, den Laden
zu verlassen, rammte er sein Knie in Richtung des Unterleibs der
Verkäuferin. Diese drehte sich jedoch von dem Beschuldigten
weg, so dass er lediglich ihren Oberschenkel schmerzhaft traf. Weitere
Verletzungen entstanden nicht (Fall 4).
- In zwei Fällen setzte der Beschuldigte einen nicht
begründeten Notruf ab und bestellte einen Krankenwagen zu
seiner Wohnung (Fälle 5 und 6).
b) Nach der Beurteilung des sachverständig beratenen
Landgerichts war der Beschuldigte bei Begehung der Taten wegen einer
krankhaften seelischen Störung im Sinne von § 20 StGB
unfähig, das Unerlaubte seiner Taten einzusehen. Seit seiner
Einreise in die Bundesrepublik im Jahre 1992 bis zum Jahre 2006 wurde
der Beschuldigte wegen seiner Erkrankung in 29 Fällen
stationär in psychiatrischen Kliniken behandelt. Er leidet an
einer seit 20 Jahren bestehenden und dokumentierten schizoaffektiven
Störung, wobei es sich um eine episodische Störung
handelt, bei der affektive und schizophrene Symptome gleichzeitig
vorhanden sind. Im Vordergrund der Symptomatik stehen eine immer wieder
auftretende Gereiztheit mit aggressivem Verhalten. Die
Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten war im Rahmen der bei ihm
für die Tatzeiten festgestellten manischen Symptomatik
vollständig aufgehoben.
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c) Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen
Krankenhaus hat das Landgericht abgelehnt, weil die
Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Taten nicht
ergebe, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige
Taten zu erwarten seien. Mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit seien zwar weitere Taten zu erwarten, die in ihrer
Qualität den festgestellten Anlasstaten entsprechen. In ihrer
konkreten Begehungsform erreichten diese Taten jedoch nicht den Bereich
der mittleren Kriminalität. Aus den Anlasstaten ergebe sich,
dass von dem Beschuldigten lediglich Taten zu erwarten seien, die dem
unteren Bereich der Kriminalität zuzuordnen seien. Das gelte
nicht nur für die Fälle der Beleidigung, des
Hausfriedensbruchs, der Sachbeschädigung und des Missbrauchs
von Notrufen, sondern auch für die vom Landgericht
näher erörterten Vorfälle 3, 4 und 26. Diese
Vorfälle belegten zwar eine Gefahr, insbesondere für
die körperliche Unversehrtheit der Geschädigten. Der
Grad der Gefährdung stelle sich bei dem konkreten Tatmuster
des Beschuldigten aber als nicht erheblich dar. Beraten durch den
psychiatrischen Sachverständigen gehe die Kammer nicht davon
aus, dass eine weitergehende Eskalation der Gewalt in diesen drei
Fällen ernsthaft drohte oder in zukünftigen
Fällen zu erwarten wäre. Das gelte auch für
den Fall der Todesdrohung unter Vorhalt eines Messers im Fall 3.
Insbesondere aus dem Nachtatverhalten ergebe sich, dass die
Todesdrohung, die von den Tatopfern ohnehin nicht ernst genommen worden
sei, aus der Sicht des Beschuldigten zu keinem Zeitpunkt in die Tat
umgesetzt werden sollte. Der in die Enge getriebene Beschuldigte habe
sich lediglich seinen Verfolgern kurzfristig entziehen wollen. Die
Drohung sei daher als defensiver Akt nicht darauf angelegt gewesen, in
eine Verletzungshandlung zu münden.
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Die Strafkammer und auch der Sachverständige könnten
zwar nicht ausschließen, dass künftig eine von den
Beschuldigten herbeigeführte Situation soweit eskaliere, dass
es zur Begehung auch schwererer Delikte komme. Die
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Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus erfordere jedoch
eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades und nicht nur die
einfache Möglichkeit schwerer Taten. Auch unter
Berücksichtigung der strafrechtlichen Vorbelastungen sei eine
über die bloße Möglichkeit hinausgehende
Wahrscheinlichkeit schwerer Taten nicht festzustellen.
2. Das Landgericht hat das Gewicht der von dem Beschuldigten zu
erwartenden neuen Taten fehlerhaft gewichtet.
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Die Strafkammer geht zwar zunächst zutreffend davon aus, dass
wegen der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit
und mit Rücksicht auf den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB)
nur schwere Störungen des Rechtsfriedens, die zumindest in den
Bereich der mittleren Kriminalität hineinreichen, eine
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus rechtfertigen (vgl.
u. a. BVerfGE 70, 297, 312; BGHSt 27, 246; BGHR StGB § 63
Gefährlichkeit 8, 9, 11, 27; BGH StV 2006, 579; NStZ 1995,
228; NStZ-RR 2006, 203).
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Die vom Landgericht vorgenommene Gesamtwürdigung, dass die
festgestellten Anlasstaten des Beschuldigten in ihrer konkreten
Begehungsform nicht in den Bereich der mittleren Kriminalität
hineinreichen, trifft jedoch nicht zu. Die festgestellten Anlass- und
Vortaten gehen vielmehr in erheblichem Umfang deutlich über
bloße Belästigungen der Allgemeinheit oder
Bagatelltaten hinaus. Das gilt bei den festgestellten Anlasstaten
jedenfalls für den Faustschlag gegen eine Spielhallenaufsicht,
den bedrohenden Einsatz eines Messers gegen den Gastwirt und den
Kniestoß in Richtung auf den Unterleib der
Verkäuferin in einer Bäckerei. Soweit das Landgericht
versucht, das Gewicht der Anlasstat im Fall 3 durch die Annahme zu
relativieren, die Drohung mit dem Messer stelle sich nur als defensiver
Akt dar, der keineswegs darauf angelegt gewesen sei, in eine
Verletzungshandlung zu münden, fehlt es an einer
tragfä-
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higen Beweisgrundlage. Nichts anderes gilt für die
Vorfälle 4 und 26 vom 8. März und 13. August 2006.
Hier bleibt offen, worauf das Landgericht seine Annahme
stützt, dass diese Attacken nicht auf den Einsatz weiter
gehender Gewalt angelegt gewesen seien.
Bei den Vortaten, derentwegen der Beschuldigte bestraft wurde, ist der
Vorfall vom 27. September 2004 von Gewicht, bei dem der Beschuldigte
eine Spielhallenaufsicht, die ein bestehendes Hausverbot durchsetzen
wollte, mit beiden Händen am Hals packte und derart heftig
würgte, dass ihr Atemnot, Schmerzen und zwei Tage anhaltende
Schluckbeschwerden verursacht wurden. Nicht mehr zu den
bloßen Belästigungen der Allgemeinheit
gehört auch der Vorfall im Jahr 2003, bei dem der Beschuldigte
einer Frau im Streit um geschenkte Ohrringe mehrere
Faustschläge versetzte, die zu schmerzhaften Prellungen an
Rücken und Hinterkopf sowie zu Schürfwunden am Arm
führten. Wegen dieser Vorfälle wurden im
Strafbefehlsverfahren zwar lediglich Geldstrafen von 120 bzw. 30
Tagessätzen verhängt. Die mäßige
Höhe dieser Strafen beruht jedoch darauf, dass in beiden
Fällen von einer erheblichen Verminderung der
Schuldfähigkeit des Beschuldigten bei der Tatbegehung
ausgegangen wurde, so dass hieraus nicht auf den Bagatellcharakter der
zu Grunde liegenden Taten geschlossen werden kann.
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In Übereinstimmung mit dem gehörten
Sachverständigen geht das Landgericht davon aus, dass von dem
Beschuldigten krankheitsbedingt mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit weitere Taten zu erwarten sind, die in ihrer
Qualität den bereits festgestellten Taten entsprechen. Dies
bedeutet aber, dass von dem Beschuldigten mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit weitere erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von
§ 63 StGB zu erwarten sind.
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Bedenken begegnet im Übrigen auch die prognostische
Differenzierung, dass zwar mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit weitere Taten vom Gewicht der Anlasstaten zu
erwarten seien, sich jedoch keine über die bloße
Möglichkeit hinausgehende Wahrscheinlichkeit schwerer Taten
feststellen lasse. Insoweit beruft sich das Landgericht zwar auf die
Beurteilung des psychiatrischen Sachverständigen. Bei der
Gesamtwürdigung der konkreten Tatumstände bei den
Anlasstaten wird jedoch nicht berücksichtigt, dass es jeweils
dem besonnenen Verhalten der Tatbetroffenen, denen die Verhaltensweisen
des Beschuldigten vertraut waren, zu verdanken war, dass es nicht zu
einer weiteren Eskalation des Tatgeschehens kam. Letztlich hing es
deshalb nicht von dem Verhalten des Beschuldigten, sondern von dem der
Betroffenen und damit vom Zufall ab, ob die Tatsituationen eskalierten.
Zudem darf bei der Gefährlichkeitsprognose nicht
außer Betracht bleiben, dass von den irrationalen
Verhaltensmustern des Beschuldigten nicht notwendigerweise nur solche
Personen betroffen sind, die zum näheren Umfeld der
Mitbewohner des Beschuldigten gehören, bei denen er mit seinen
irrationalen Verhaltensweisen bekannt ist.
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VRi'inBGH Dr. Rissing-van Saan Bode Fischer
ist durch Urlaub an der Unterschrift
gehindert.
Bode
Roggenbuck Appl |