BGH,
Urt. v. 15.6.2000 - 4 StR 139/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 139/00
vom
15. Juni 2000
in der Strafsache gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 15.
Juni 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Maatz, Athing, die Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanovic, der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann als
beisitzende Richter, Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt als Verteidiger, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1.
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Neubrandenburg vom 2. Dezember 1999 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete
Urteil mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte wegen gefährlicher
Körperver- letzung in zwei Fällen, jeweils in
Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Waffengesetz
verurteilt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts
Stralsund zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "gefährlicher
Körperverletzung in zwei Fällen, jeweils in
Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Waffengesetz und wegen
Verstoßes gegen das Waffengesetz in einem weiteren Fall" zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und die
Einziehung der sichergestellten Tatwaffe nebst Magazin und Patronen
angeordnet.
Der Angeklagte rügt mit seiner auf den Strafausspruch
beschränkten Revision die Verletzung materiellen Rechts. Die
Staatsanwaltschaft wendet sich, wie sich aus der
Revisionsrechtfertigungsschrift ergibt, mit ihrem zu Ungunsten des
Angeklagten eingelegten Rechtsmittel dagegen, daß dieser im
Fall II 2 b der Urteilsgründe nicht auch wegen zweier
versuchter Tötungsdelikte verurteilt worden ist.
I. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist unbegründet im Sinne
des § 349 Abs. 2 StPO, da - wie der Generalbundesanwalt in
seiner Antragsschrift vom 18. April 2000 zutreffend ausgeführt
hat - das Urteil keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil aufweist.
II. Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der
Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Nach den Urteilsfeststellungen konnte sich der Angeklagte nicht
damit abfinden, daß sich seine Ehefrau Sibylle N. nach
25jähriger Ehe von ihm getrennt hatte und in das Haus ihres
neuen Partners Manfred R. gezogen war. Am Tattag suchte er sie dort
auf, um mit ihr zu reden. Dabei führte er seine geladene
halbautomatische Pistole vom Typ "Walther P 38" unerlaubt bei sich, die
er unter dem Pullover in den Hosenbund gesteckt hatte. Zwischen dem
Angeklagten und seiner Ehefrau kam es am Grundstückstor zu
einem Gespräch, wobei der Angeklagte ihren neuen Partner -
für diesen hörbar - als "Dreckschwein" bezeichnete.
Manfred R. forderte daher Sibylle N. auf, das Gespräch
abzubrechen. Daraufhin geriet der Angeklagte in Wut, zog seine Pistole
und lud sie durch. Manfred R., der etwa 8 bis 9 Meter vom Angeklagten
entfernt war, wandte sich sofort zur Flucht. Der Angeklagte
schoß in Richtung auf R., "wobei er die Pistole auf den Boden
und etwa einen Meter neben den davonlaufenden Geschädigten
gerichtet hatte" (UA 8). Dieser wurde an der großen Zehe des
rechten Fußes getroffen, konnte aber ins Haus
flüchten. Sibylle N. versuchte vergeblich, die
Haustür vor dem nachsetzenden Angeklagten zu
schließen. Dieser riß die Tür auf und
schoß seiner Ehefrau aus einer Entfernung von einem bis
anderthalb Metern in den Oberbauch. Danach stieg er über die
Frau, die sofort zusammengebrochen war, hinweg und setzte die
Verfolgung Manfred R.s fort. Er sah, wie dieser aus dem Fenster des
kleinen Wohnzimmers stieg und gab zwei Schüsse "in Richtung
des Geschädigten" ab, die diesen aber nicht trafen; die
Projektile drangen vielmehr in den Fensterrahmen bzw. in das Mauerwerk
etwa 30 cm unterhalb des Fensters ein. Durch dieses Fenster gab der
Angeklagte drei weitere Schüsse auf den Fliehenden ab, der
sich bereits in zehn bis zwölf Metern Entfernung auf dem
Nachbargrundstück befand; eines der Geschosse schlug etwa
einen Meter neben Manfred R. in den Boden ein. Letztlich gelang es R.,
sich in Sicherheit zu bringen. Sibylle N. erlitt durch den
Schuß schwerste innere Verletzungen; ihr Leben wurde nur
durch die unverzüglich eingeleitete chirurgische Versorgung
gerettet. Als Dauerschaden sind Gefühlsstörungen im
linken Bein zurückgeblieben. Manfred R. mußte wegen
seiner Verletzung neun Tage stationär behandelt werden.
Hinsichtlich der subjektiven Tatseite ist das Landgericht davon
ausgegangen, daß der Angeklagte zwar bedingten
Körperverletzungs-, aber keinen Tötungsvorsatz hatte.
2. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht in beiden
Fällen lediglich einen bedingten
Körperverletzungsvorsatz angenommen hat, begegnen
durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Hinsichtlich der Tat zum Nachteil von Sibylle N. ist nicht
ersichtlich, worauf das Landgericht seine Feststellung stützt,
der Angeklagte habe sich bei Abgabe des Schusses über die
Möglichkeit, außer einer Körperverletzung
"auch den Tod der Geschädigten herbeiführen zu
können, ... keinerlei Gedanken" gemacht (UA 9). Es hat dabei
nicht bedacht, daß bereits das objektive Tatgeschehen -
Schuß aus einer Entfernung von höchstens anderthalb
Metern in den Oberbauch des Opfers - darauf hindeutet, daß
der Angeklagte mit Tötungs- und nicht nur mit
Körperverletzungsvorsatz handelte.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt es
bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen
nahe, daß der Täter mit der Möglichkeit
eines tödlichen Ausgangs rechnet (BGHR StGB § 212
Abs. 1 Vorsatz, bedingter 35, 38, 40; BGHR StPO § 261
Einlassung 5). Allerdings bedarf die Billigung des Todeserfolgs
angesichts der hohen Hemmschwelle gegenüber einer
Tötung der sorgfältigen Prüfung unter
Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl.
BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 3, 5, 38); auch
insoweit stellt die Lebensbedrohlichkeit gefährlicher
Gewalthandlungen ein gewichtiges Beweisanzeichen dar (vgl. BGHR StGB
§ 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 38). Daneben sind die konkrete
Angriffsweise, die psychische Verfassung des Täters bei der
Tatbegehung sowie seine Motivation in die Beweiswürdigung
miteinzubeziehen (BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter
39; vgl. auch Eser in Schönke/Schröder StGB 25. Aufl.
§ 212 Rdn. 5 m.w.N.). Eine solche Gesamtschau aller objektiven
und subjektiven Tatumstände hat das Landgericht nicht
vorgenommen.
b) Die Ablehnung eines Tötungsvorsatzes bezüglich der
Tat zum Nachteil Manfred R.s hält ebenfalls rechtlicher
Prüfung nicht stand. Auch hier ist der Tatrichter nicht darauf
eingegangen, daß jede Form des Schießens auf einen
Menschen mit einer scharfen Waffe wegen der
außergewöhnlich großen
Lebensgefährlichkeit den Schluß auf einen
Tötungsvorsatz nahelegt (vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1
Vorsatz, bedingter 45 m.w.N.).
Die Tatsache, daß der Angeklagte sogar auf seine Ehefrau
schoß, um sich die weitere Verfolgung R.s zu
ermöglichen, spricht dagegen, daß er diesen - wie er
sich eingelassen hat - lediglich erschrecken wollte. Damit sind
insbesondere auch die weiteren fünf Schüsse, die er
"in Richtung des Geschädigten" bzw. "auf den
Geschädigten" abgab, nicht zu erklären. Soweit das
Urteil im übrigen ausführt, es habe nicht
festgestellt werden können, ob der Angeklagte bei diesen
Schüssen mit bedingtem Körperverletzungsvorsatz
gehandelt habe, ist dies nicht nachvollziehbar; es widerspricht den
Ausführungen bezüglich des ersten Schusses.
3. Die aufgezeigten Mängel führen - abgesehen von der
selbständigen Verurteilung wegen "eines Verstoßes
gegen das Waffengesetz in einem weiteren Fall" (richtig: wegen
unerlaubten Führens einer halbautomatischen
Selbstladekurzwaffe; vgl. zur Tenorierung Steindorf Waffenrecht 7.
Aufl. § 53 Rdn. 2) - zur Aufhebung des Urteils und damit auch
(vgl. Kuckein in KK 4. Aufl. § 353 Rdn. 12) zur Aufhebung der
für sich gesehen rechtlich nicht zu beanstandenden
Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in
zwei Fällen in Tateinheit mit "einem Verstoß gegen
das Waffengesetz". Die angeordnete Einziehung der sichergestellten
Waffe nebst Magazin und Patronen bleibt bestehen.
Der Senat macht von der Möglichkeit des § 354 Abs. 2
Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch und verweist die Sache an eine als
Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts
Stralsund zurück.
Kommt der neue Tatrichter zur Annahme eines (bedingten oder
unbedingten) Tötungsvorsatzes, wird er jeweils die Frage des
strafbefreienden Rücktritts vom Versuch
gemäß § 24 StGB zu erörtern haben.
Dem könnte bezüglich der Tat zum Nachteil des
Geschädigten R. das Vorliegen eines (zwar unbeendeten, aber)
fehlgeschlagenen Versuchs, hinsichtlich derjenigen zum Nachteil der
Geschädigten N. - in Anbetracht der Schwere der von ihr
erlittenen Verletzungen - die Annahme eines beendeten Versuchs
entgegenstehen (vgl. Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 24
Rdn. 4 und 10).
Meyer-Goßner Maatz Athing
Solin-Stojanovic Ernemann |