BGH,
Urt. v. 16.4.2008 - 2 StR 95/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 95/08
vom
16.4.2008
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
16.4.2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und die Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Prof. Dr. Schmitt,
Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des
Landgerichts Frankfurt am Main vom 9. November 2007 mit den
Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren
verurteilt und die Entscheidung über die Strafaussetzung zur
Bewährung für die Dauer von sechs Monaten
zurückgestellt. Die hiergegen gerichtete, auf die
Sachrüge gestützte Revision des Nebenklägers
führt zur Aufhebung des Urteils, da die Annahme des
Landgerichts, ein Tötungsvorsatz sei dem Angeklagten nicht
nachzuweisen, der rechtlichen Überprüfung nicht
standhält.
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1. Nach den Feststellungen des Landgerichts gerieten der zur Tatzeit
16-jährige Angeklagte und sein 13-jähriger Bruder im
Kassenbereich eines Supermarktes in einen zunächst verbalen,
dann handgreiflichen Streit mit dem etwa gleichaltrigen
Nebenkläger und dessen Begleiter, nachdem der Angeklagte eine
leere Flasche in den Markt geworfen hatte. Mehrere Angestellte und
Kunden
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des Geschäfts trennten die Parteien und hielten den
Angeklagten und seinen Bruder fest, um dem Nebenkläger und
dessen Begleiter Gelegenheit zu geben, den Markt zu verlassen. Als der
Angeklagte schließlich losgelassen wurde, rannte er sogleich
hinter dem Nebenkläger her, um ihm "einen Denkzettel zu
verpassen". Hierzu klappte er ein mitgeführtes Klappmesser mit
einer Klingenlänge von 8 cm auf; sein Bruder rief: "Wir
stechen Euch ab!". Der Angeklagte lief von hinten auf den
Nebenkläger zu, der sich zu diesem Zeitpunkt keines weiteren
Angriffs versah, und stach ihm das Messer mit großer Wucht
von hinten im Bereich des rechten Schulterblatts in den
Rücken. Hierdurch wurde der rechte Lungenflügel des
Geschädigten durchstochen. Die Verletzung war
lebensgefährlich; der Nebenkläger wurde durch eine
Notoperation gerettet.
Das Landgericht hat weiter festgestellt, der Angeklagte sei sich zwar
der Tatsache bewusst gewesen, dass er den Nebenkläger
verletzen werde, habe ihn jedoch nicht töten wollen, "weswegen
er auch keine weiteren Stiche gegen ihn ausführte" (UA S. 5).
Zur Beweiswürdigung hat das Landgericht zunächst
ausgeführt, es sei kein Tötungsmotiv erkennbar. Der
Angeklagte habe dem Tatopfer "einen Denkzettel verpassen" wollen; dies
setze begriffsnotwendig ein Weiterleben voraus. Weiterhin lege zwar die
Gefährlichkeit der Handlung die Annahme eines bedingten
Tötungsvorsatzes nahe; es habe sich aber "um einen herzfernen
Stich in den Rücken des Opfers gehandelt (…),
dessen Lebensbedrohlichkeit sich einem medizinisch unbedarften
Täter wie dem Angeklagten nicht unmittelbar
erschließt" (UA S. 8). Der Angeklagte habe
schließlich die hohe Hemmschwelle vor einem bedingten
Tötungsvorsatz nicht überwunden. Dies ergebe sich zum
einen daraus, dass er auf den Nebenkläger in einem belebten
Supermarkt in unmittelbarer Nähe eines Krankenhauses
eingestochen habe, so dass medizinische Hilfe rasch zu erlangen war;
zum anderen aus der in der Hauptverhandlung zu Tage getretenen Unreife
des Angeklagten (UA S. 9).
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2. Diese Erwägungen halten rechtlicher
Überprüfung nicht stand. Zwar kann das
Revisionsgericht in die dem Tatrichter obliegende
Beweiswürdigung grundsätzlich nicht eingreifen;
anders ist es aber, wenn diese Widersprüche oder gravierende
Lücken enthält oder erhebliche Beweisanzeichen
erkennbar nicht oder unzutreffend würdigt.
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a) So liegt es hier. Schon die Annahme, es sei kein Tatmotiv erkennbar,
ist mit den Feststellungen nicht vereinbar, nach denen der Angeklagte
dem Nebenkläger erkennbar aus Rache für die
vorausgegangene körperliche Auseinandersetzung aus vollem Lauf
ein Messer wuchtig in den Rücken stieß. Ein Tatmotiv
des Angeklagten war somit offensichtlich gegeben. Soweit das
Landgericht angenommen hat, die Absicht, dem Nebenkläger
"einen Denkzettel zu verpassen", sei mit der Annahme eines (bedingten)
Tötungsvorsatzes nicht vereinbar, liegt dem eine
Überbewertung des formalen Wortsinns und eine unzureichend
konkretisierende Auslegung dieser Formulierung zu Grunde. Es bleibt
schon offen, ob der Angeklagte selbst seine Motivation so beschrieben
hat oder ob es sich um eine interpretierende Formulierung des Gerichts
handelt; im Übrigen ist zu berücksichtigen, dass vage
umschreibenden, allgemeinen Formulierungen, namentlich im Zusammenhang
mit Gewalthandlungen in aggressiv aufgeladener Situation, meist nur
geringe Bedeutung als präzise Beschreibung von Handlungszielen
oder Absichten zukommt. Das gilt im Übrigen
gleichermaßen für den Ruf des Bruder des Angeklagten
("Wir stechen Euch ab!"), der in der Beweiswürdigung des
Landgerichts nicht mehr erwähnt ist.
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Soweit das Landgericht ausgeführt hat, der Angeklagte habe
keinen Tötungsvorsatz gehabt, "weswegen" er von weiteren ihm
möglichen Stichen abgesehen habe, bleibt auch dies unklar, da
nicht festgestellt ist, ob der Angeklagte nach dem Stich mit der
Möglichkeit rechnete, den Nebenkläger
tödlich verletzt zu haben.
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b) Rechtsfehlerhaft ist weiterhin die Erwägung, es habe sich
bei dem aus vollem Lauf geführten wuchtigen Stich neben das
rechte Schulterblatt um einen "herzfernen Stich" gehandelt, dessen
Lebensgefährlichkeit sich dem Angeklagten als medizinischem
Laien nicht erschlossen habe. Diese Wertung widerspricht der
Lebenserfahrung. Es ist eine allgemeinkundige Tatsache, dass
Messerstiche in den oberen Rückenbereich in hohem
Maße lebensgefährlich sind; Gründe, warum
dies der offenbar geistig normal entwickelte und mit einem Klappmesser
ausgerüstete Angeklagte nicht gewusst haben sollte, sind nicht
ersichtlich.
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c) Eher fern liegend erscheint die weitere Erwägung des
Landgerichts, gegen einen bedingten Tötungsvorsatz spreche der
Umstand, dass die Tat in der Nähe des Krankenhauses H.
begangen wurde, wo rasch medizinische Hilfe erlangt werden konnte. Dies
lässt außer Acht, dass es sich um eine aus Rache und
Wut motivierte Spontantat handelte und der Angeklagte den Tatort daher
ersichtlich nicht unter dem Gesichtspunkt einer nahe liegenden
Rettungsmöglichkeit ausgewählt hatte.
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Schließlich ergibt sich auch aus der Feststellung des "hohen
Maßes an Unreife" des Angeklagten nicht das vom Landgericht
angenommene Indiz gegen einen bedingten Tötungsvorsatz.
Unreife im Zusammenwirken mit der vom Landgericht festgestellten
"fehlenden Impulskontrolle und Sozialisation" (UA S. 13) kann vielmehr
bei einem in momentaner Wut aus nichtigem Anlass ausgeführten
bedenkenlosen Einsatz eines lebensgefährlichen Werkzeugs gegen
ein argloses Opfer gerade auch für ein Überwinden der
Hemmschwelle vor der Inkaufnahme des Todes eines anderen Menschen
sprechen. Zutreffend hat die Revision im Übrigen darauf
hingewiesen, dass schon der festgestellte Handlungsablauf,
nämlich das wuchtige Stechen eines Messers von oben nach unten
aus schnellem Lauf in den Rücken eines ahnungslosen Opfers das
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winden einer hohen Hemmschwelle voraussetzt. Auch dies hat das
Landgericht nicht erkennbar in seine Überlegungen einbezogen.
3. Die genannten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des
Urteils, da sich nicht ausschließen lässt, dass der
Tatrichter bei zutreffender Gewichtung der Indizien zu einem anderen
Ergebnis gelangt wäre. Von einer Aufrechterhaltung von
Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen hat der
Senat abgesehen, um dem neuen Tatrichter insgesamt umfassende neue
Feststellungen zu ermöglichen.
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Sollte der neue Tatrichter zur Feststellung eines zumindest bedingten
Tötungsvorsatzes gelangen, wären zum einen
nähere Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten
hinsichtlich der Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers sowie zur
Motivationslage im Einzelnen (vgl. UA S. 12) zu treffen; zum anderen
wäre dem konkreten Geschehensablauf vom Beginn des Angriffs
bis zum Eingreifen Dritter sowie gegebenenfalls der Frage des
subjektiven Rücktrittshorizonts des Angeklagten nach
Ausführen des (ersten) Stichs größere
Aufmerksamkeit zuzuwenden.
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Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Schmitt |