BGH,
Urt. v. 18.5.2000 - 4 StR 29/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
U r t e i l
4 StR 29/00
vom
18. Mai 2000
in der Strafsache gegen
wegen versuchten Totschlags u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 18. Mai
2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Maatz, Athing, die Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanovic, der Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann als
beisitzende Richter, Bundesanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt aus Uelzen als Verteidiger, Justizangestellte als
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Magdeburg vom 5. Juli 1999 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit er
wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit unerlaubter
Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine
halbautomatische Selbstladekurzwaffe verurteilt worden ist.
2. Die Sache wird insoweit sowie zur Festsetzung einer (Einzel-) Strafe
hinsichtlich der Verurteilung wegen unerlaubten Erwerbs einer
halbautomatischen Selbstladekurzwaffe nebst Munition in Tateinheit mit
unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt
über die Waffe und mit deren unerlaubtem Führen zu
neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere als Schwurgericht
zuständige Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen, die auch über die Kosten des
Rechtsmittels zu entscheiden hat.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb einer halbautomatischen
Selbstladekurzwaffe nebst Munition in weiterer Tateinheit mit
unerlaubter Ausübung der tatsächlichen Gewalt
über die Waffe und deren unerlaubtem Führen zu
fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Hiergegen wendet sich
der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er das Verfahren
beanstandet und die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das
Rechtsmittel hat mit der Sachrüge weitgehend Erfolg.
Die Verfahrensbeschwerden greifen nicht durch. Die
Besetzungsrüge ist unzulässig, weil der
Beschwerdeführer es unterläßt, den
vollständigen Wortlaut des Schreibens des entpflichteten
Schöffen vom 26. Mai 1999 (SA Bd. V Bl. 88) mitzuteilen, und
auch nicht darlegt, daß dieser Schöffe
tatsächlich nicht wegen Unzumutbarkeit der Diensthandlung
(vgl. dazu Kissel GVG 2. Aufl. § 54 Rdn. 5 ff.) verhindert war
(§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Im übrigen wäre
sie auch unbegründet, weil die Entscheidung des Vorsitzenden
über die Entpflichtung des Hauptschöffen nach
§ 54 Abs. 3 Satz 1 GVG mit der Folge des § 336 Satz 2
StPO unanfechtbar ist. Auf die Rüge der Verletzung des
§ 244 StPO kommt es nicht an. Sie betrifft nur das als
versuchter Totschlag gewertete Geschehen; insoweit ist das Urteil schon
auf die Sachrüge hin aufzuheben.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte gehörte zumindest in den Jahren 1995 und 1996
"der Drogenszene im Raum Schönebeck und Calbe" an. Seit er
sich auf Veranlassung seiner Verlobten Steffi G. daraus gelöst
hatte, lebte er "in Angst vor Repressalien aus der Szene" in einer
"latenten Bedrohungssituation". Am 9. Oktober 1998 fand er am
Stellplatz seines Pkw eine anonyme Nachricht "Andor, melde dich, wir
wissen Bescheid", die er als Drohung auffaßte. Daraufhin
kaufte er noch am selben Tag eine Pistole Walther mit zwei mit Patronen
gefüllten Magazinen, die er fortan in geladenem und
entsichertem Zustand bei sich führte, "um dadurch zu jedem
Zeitpunkt Angriffen der ihn bedrohenden Personen wirkungsvoll begegnen
zu können". Diese Waffe hatte der Angeklagte bei sich, als er
am Abend des folgenden Tages seinen Bekannten Norman L. aufsuchte. Dort
kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung mit einer
gegnerischen Gruppe, von der Silvio H. und Michael K.
lebensgefährlich verletzt wurden. Hintergrund der
Auseinandersetzung war, daß die Gruppe um die
Geschädigten von einem Bekannten des Angeklagten "offenbar ...
Geldschulden eintreiben" wollte.
In der Nacht zum 12. Oktober 1998 legte der Angeklagte die Pistole
neben sein Kopfkissen, als er sich auf der Couch im Wohnzimmer seiner
Wohnung zusammen mit seiner Verlobten zum Schlafen legte. Die Waffe war
geladen und entsichert, aber nicht durchgeladen. Gegen 4.20 Uhr
stürmte ein Sondereinsatzkommando (SEK) der Polizei die
Wohnung, in der die Polizei den Freund des Angeklagten, Klaus-Dieter
H., vermutete. Dieser stand in Verdacht, an der tätlichen
Auseinandersetzung zwei Tage zuvor aktiv beteiligt gewesen "und im
Besitze scharfer Waffen, u.a. Handgranaten" zu sein.
Zunächst wurde durch das SEK die Wohnungstür
aufgebrochen, wobei erheblicher Lärm entstand. Beim Betreten
der Wohnung rief einer der Polizeibeamten "laut und vernehmlich" das
Wort "Polizei". Sodann trat der Polizeibeamte Ulf G. die vier Meter von
der Wohnungseingangstür entfernte Tür zum Wohnzimmer
auf. Während er mit seiner an der vorgehaltenen Dienstwaffe
befindlichen Taschenlampe das Zimmer ausleuchtete, rief er noch einmal
laut und vernehmlich "Polizei". Bis zu diesem Zeitpunkt waren "nur
wenige Sekunden" vergangen. Der Angeklagte war durch die lauten
Geräusche beim Aufbrechen der Wohnungstür "sofort
erwacht". Er nahm an, daß ihn "nunmehr die Personen, die ihn
bedrohten", überfielen. In "panische(r) Angst" lud er die
neben ihm liegende Pistole durch und gab "in seiner Erregung und
Furcht" aus ca. 90 cm Entfernung einen gezielten Schuß auf
den Oberkörper des "für ihn sichtbaren Beamten G. "
ab, und zwar zeitgleich mit der letzten Silbe des von Ulf G.
ausgesprochenen Wortes "Polizei". Diesen sowie den vorangehenden Ausruf
"Polizei" hatte der Angeklagte gehört. Die vom Angeklagten
abgefeuerte Kugel blieb in der Schutzweste des Polizeibeamten
hängen, der dem Angeklagten die Waffe entwinden und ihn
überwältigen konnte.
2. Der Angeklagte räumt den äußeren
Sachverhalt ein. Er beruft sich jedoch darauf, er sei bis zur
Schußabgabe davon ausgegangen, daß es sich "bei den
eingedrungenen Personen um Angreifer handeln würde, die ihm
und Steffi G. nach dem Leben trachteten", die Rufe "Polizei" habe er
nicht gehört. Die Beweiswürdigung, mit der das
Landgericht diese Einlassung für widerlegt erachtet, weist
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Das Landgericht
geht zwar davon aus, daß der Angeklagte "zunächst
tatsächlich glaubte, daß es sich um einen
nächtlichen Angriff der ihn bedrohenden Person handelte". Es
hat aber aufgrund des nach den überstimmenden Bekundungen der
vernommenen Polizeibeamten jeweils lauten und vernehmlichen Ausrufs
"Polizei" und des Umstands, daß der Angeklagte - wie er
selbst eingeräumt hat - "in dem Moment, als der
Schuß fiel, ... gesehen (hat), daß die ihm
gegenüberstehende Person ein Polizist sei", die
Überzeugung gewonnen, daß der Angeklagte auch die
"vorausgegangenen ´Polizei´-Rufe vernommen hat".
Dies ist ein möglicher, und deshalb vom Revisionsgericht
hinzunehmender Schluß. Hiervon ausgehend hat das Landgericht
zu Recht angenommen, daß "aus der Sicht des Angeklagten bei
Abgabe des Schusses keine Putativnotwehrsituation mehr gegeben" war.
3. Gleichwohl kann die Verurteilung keinen Bestand haben, weil die
Beweiswürdigung - wie die Revision und der Generalbundesanwalt
übereinstimmend beanstanden - zur subjektiven Tatseite und zur
Schuldfähigkeit lückenhaft ist und an einem
unauflösbaren Widerspruch leidet.
Das Landgericht folgt den Ausführungen des
Sachverständigen Dr. Sch., bei der Tat sei die
Fähigkeit des Angeklagten, "das Unrecht seiner Tat einzusehen
bzw. nach dieser Einsicht zu handeln, weder aufgehoben noch erheblich
vermindert" gewesen. Es hat die Schuldfähigkeit aber nur unter
dem Gesichtspunkt "des vorherigen Drogenkonsums des Angeklagten
(´Joint´)" geprüft. Dies genügte
hier nicht, weil das Landgericht dabei das Gewicht des festgestellten
affektiven Ausnahmezustands beim Angeklagten zur Tatzeit
außer Betracht gelassen hat.
Das Landgericht ist davon ausgegangen, daß der Angeklagte den
Schuß "aus Angst und in großer Erregung abgegeben
hat". Daß er dabei - wie das Landgericht festgestellt hat -
"wußte", daß es sich bei der Person um einen
Polizeibeamten handelte, beschreibt nur die Wissensseite, belegt aber
nicht auch das Willenselement. Darauf kommt es hier aber an; denn das
Landgericht nimmt selbst an, die Abgabe des Schusses sei eine
"Fehlreaktion" des Angeklagten gewesen. Insoweit geht es aber nicht nur
davon aus, daß der Angeklagte "mit der konkreten Situation
... offensichtlich überfordert war"; vielmehr stellt es fest,
"aufgrund der kurzen Zeitspanne von dem ersten
´Polizei´-Ruf bis zur Schußabgabe,
nämlich ca. zwei bis drei Sekunden, (sei) es dem Angeklagten
unter Berücksichtigung seines Angst- und Erregungszustandes
nicht möglich (gewesen), seine Handlungsweise auf den neuen
Erkenntnisstand abzustellen" (Hervorhebung durch den Senat). Ob sich
das Landgericht hierbei allein auf die eigene Sachkunde
gestützt oder auch insoweit sachverständige Hilfe in
Anspruch genommen hat, kann den Urteilsgründen nicht entnommen
werden. Jedenfalls hat es damit Umstände beschrieben, die auf
ein für die Beurteilung der - von der
Handlungsfähigkeit abzugrenzenden (vgl. BGH StV 1994, 229) -
Schuldfähigkeit bedeutsames tiefgreifendes Schreckerleben
hindeuten. Dies wird im psychiatrischen Schrifttum beschrieben als
"Erleben eines Affektzustandes bei plötzlicher Bedrohung ...
oder plötzlichem und starkem Sinnesreiz ..., welche einen
überfallen, ohne daß man darauf vorbereitet ist, so
daß man nicht in der Lage ist, sich zu schützen oder
die Situation zu beherrschen (...) Schreck kann das psychische Leben
für eine Weile lahmlegen und eine adäquate
Verarbeitung des Erlebten ... verhindern" (Peters Wörterbuch
Psychiatrie 5. Aufl. S. 501). Eine Auseinandersetzung mit der
Auswirkung dieses sog. asthenischen Affekts, der unter den
Voraussetzungen des § 33 StGB - von
planmäßigem Verhalten abgesehen (vgl. BGHSt 39, 133,
139 f.) - zur Straflosigkeit führt, wäre hier unter
dem Gesichtspunkt tiefgreifender Bewußtseinsstörung
im Sinne der §§ 20, 21 StGB auch deshalb
veranlaßt gewesen, weil der Angeklagte noch am Tatort
gegenüber den Polizeibeamten äußerte: "Wenn
ich gewußt hätte, daß ihr das seid,
hätte ich nicht geschossen", und das Vorgehen des Angeklagten
angesichts der offensichtlichen Überzahl der Polizeibeamten
auch nach Auffassung des Schwurgerichts "völlig sinnlos" war.
4. Der aufgezeigte Rechtsfehler nötigt zur Aufhebung des
Urteils hinsichtlich der Verurteilung wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit unerlaubter Ausübung der tatsächlichen
Gewalt über eine halbautomatische Selbstladekurzwaffe (vgl.
BGH NStZ 1981, 299 mit krit.Bspr. Maatz MDR 1985, 881; BGH NStZ 1999,
347). Demgegenüber kann die Verurteilung wegen unerlaubten
Erwerbs einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe nebst Munition in
Tateinheit mit unerlaubtem Ausüben der tatsächlichen
Gewalt über die Waffe und mit deren unerlaubtem
Führen (Tat vom 9./10. Oktober 1998) bestehen bleiben.
Insoweit hat das Landgericht allerdings zu Unrecht das Vorliegen einer
Tat mit dem Geschehen vom 12. Oktober 1998 angenommen (vgl. BGHSt 36,
151; BGH NStZ 1999, 347). Für diese Straftat ist deshalb eine
gesonderte Strafe festzusetzen, wobei im Falle einer erneuten
Verurteilung wegen versuchten Totschlags (in Tateinheit mit dem
Verstoß gegen das Waffengesetz) die neu zu bildende
Gesamtstrafe fünf Jahre nicht übersteigen
dürfte (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO). Der Senat weist
aber darauf hin, daß - sollte der neue Tatrichter in Bezug
auf den Einsatz der Schußwaffe wiederum voll
schuldfähiges vorsätzliches und rechtswidriges
Handeln des Angeklagten annehmen - die Bemessung der Strafe
eingehenderer Begründung bedarf. Angesichts der psychischen
Ausnahmesituation, in der sich der Angeklagte nach den bisherigen
Feststellungen im Tatzeitpunkt befand, kommt der Warnfunktion der
Vorverurteilung jedenfalls hinsichtlich des versuchten
Tötungsdelikts (entgegen den Erwägungen des
Schwurgerichts auf UA 25) nur geringe Bedeutung zu. Schon deshalb ist
nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, daß die
im oberen Bereich des angewandten Strafrahmens liegende Strafe "tat-
und schuldangemessen" ist.
Meyer-Goßner Maatz Athing
Solin-Stojanovic Ernemann |