BGH,
Urt. v. 18.10.2007 - 3 StR 226/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 226/07
vom
18.10.2007
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
18.10.2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Tolksdorf,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
von Lienen,
Hubert,
Dr. Schäfer
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
in der Verhandlung,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
1. Auf die Revisionen des Angeklagten und der Nebenklägerin
wird das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 22. Dezember 2006 mit
den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum
äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel und die
den Beschwerdeführern dadurch entstandenen notwendigen
Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer
Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und gegen ihn ein
fünfjähriges Berufsverbot verhängt.
Hiergegen wenden sich der Angeklagte und die Nebenklägerin mit
ihren Revisionen. Der Angeklagte beanstandet das Verfahren und
rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Die
Nebenklägerin erstrebt mit der Rüge der Verletzung
sachlichen Rechts insbesondere eine Verurteilung des Angeklagten wegen
versuchten Mordes. Beide Rechtsmittel haben mit der Sachrüge
den aus der Urteilsformel ersichtlichen Erfolg. Die vom Angeklagten
erhobenen Verfahrensrügen sind aus den Gründen der
Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet.
1
- 4 -
Das Landgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
2
Zum Tatzeitpunkt betreuten ein Arzt, der Angeklagte - ein ausgebildeter
Krankenpfleger - und vier weitere Pflegekräfte die Patienten
auf der chirurgischen Intensivstation eines Krankenhauses. Für
den schwerkranken M. der sich nach mehreren Operationen wegen einer
Krebserkrankung seit über zwei Wochen in einem
künstlichen Koma befand, war vorrangig die Krankenschwester T.
verantwortlich.
3
Der Angeklagte ging in das Krankenzimmer des Patienten M. und
verabreichte ihm über einen Venenkatheder ohne medizinische
Indikation und ohne die erforderliche ärztliche Verordnung
eine Überdosis eines Herzantiarrhythmikums. Etwa eine halbe
Stunde später begab er sich nochmals zu dem Schwerkranken und
stellte einen Perfusor ab, über den diesem ein für
seinen Kreislauf lebenswichtiges Medikament zugeführt wurde.
Dabei war ihm bewusst, dass der Patient durch jede der beiden
Handlungen in Lebensgefahr geraten würde.
Anschließend unterdrückte er noch einen akustischen
Alarm, der bei einem starken Blutdruckabfall auf dem
Überwachungsmonitor ausgelöst wurde.
4
In der Folgezeit konnte die Krankenschwester T. , die zufällig
im Krankenzimmer erschienen war, durch sofort eingeleitete
Gegenmaßnahmen die für das Tatopfer
lebensgefährliche Situation beseitigen. Während eines
Zeitraums von einigen Minuten war bei M. ein lebensbedrohliches
Herzkammerflattern aufgetreten. Der Patient verstarb am
nächsten Tag an den Folgen seines Grundleidens.
5
- 5 -
I. Revision des Angeklagten
6
Der Angeklagte beanstandet zu Recht, dass der Tötungsvorsatz
nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist.
7
1. Zur Motivation des Angeklagten und zum subjektiven Tatbestand des
Totschlags hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
8
Der Angeklagte habe entweder aus Mitleid das Sterben des Patienten
beschleunigen oder diesen - um seine Notfallkompetenz zu beweisen und
sich dadurch Anerkennung zu verschaffen -
reanimationsbedürftig machen wollen. Keinesfalls habe er
bezweckt, den Zustand des Tatopfers zu stabilisieren oder zu
verbessern. Jedes der festgestellten möglichen Motive lasse
für sich genommen und auch kumuliert nur den Schluss auf einen
Tötungswillen zu. Bei dem für ihn
günstigeren zweiten Motiv habe der Angeklagte mit bedingtem
Tötungsvorsatz gehandelt. Da ihm aufgrund seines medizinischen
Fachwissens der kritische Gesundheitszustand des Patienten und die
lebensbedrohlichen Auswirkungen seines Tuns bekannt gewesen seien, habe
er auf das Ausbleiben des Todes nicht vertrauen, sondern nur vage
hoffen können. Es sei für ihn erkennbar gewesen, dass
es allein vom Zufall abhänge, ob der Patient reanimiert werden
könne oder versterbe.
9
2. Die Darlegung des Landgerichts, der Angeklagte habe auf jeden Fall
mit Tötungswillen, also mit direktem Tötungsvorsatz
gehandelt, steht im Widerspruch zu den weiteren
Urteilsausführungen, wonach es bei dem möglichen
Motiv, sich durch eine bewiesene Notfallkompetenz Anerkennung zu
verschaffen, nur einen bedingten Vorsatz angenommen hat.
Unabhängig davon bestehen gegen die Begründung, mit
der das Landgericht einen bedingten Tötungsvorsatz bejaht hat,
durchgreifende rechtliche Bedenken.
10
- 6 -
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur
Abgrenzung von bedingtem Tötungsvorsatz und bewusster
Fahrlässigkeit ist das Willenselement des bedingten Vorsatzes
gegeben, wenn der Täter den von ihm als möglich
erkannten Eintritt des Todes billigt oder sich um des erstrebten Zieles
willen damit abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich
unerwünscht sein. Bewusste Fahrlässigkeit liegt
hingegen dann vor, wenn er mit der als möglich erkannten
Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft - nicht
nur vage - darauf vertraut, der Tod werde nicht eintreten. Da beide
Schuldformen im Grenzbereich eng beieinander liegen, ist eine
Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände
geboten (st. Rspr.; vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ-RR 2000, 165,
166). Dabei liegt die Annahme einer Billigung nahe, wenn der
Täter sein Vorhaben trotzt erkannter
Lebensgefährlichkeit durchführt (st. Rspr.; vgl. BGHR
StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 27, 35, 51).
11
Die im Urteil verwendete Formulierung, der Angeklagte habe auf das
Ausbleiben des Todes nicht vertrauen, sondern nur vage darauf hoffen
können, und die Wertung, es sei für ihn erkennbar
gewesen, dass es allein vom Zufall abhänge, ob der Patient
reanimiert werden könne oder versterbe, vermag - für
sich genommen - nur den Vorwurf der (bewussten) Fahrlässigkeit
zu begründen (vgl. BGH NStZ 2003, 259, 260;
Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 212 Rdn. 6). Sie
schließt nicht aus, dass der Angeklagte - trotz der von ihm
erkannten Lebensgefahr - auf die Beherrschung der für den
Patienten lebensgefährlichen Situation tatsächlich
vertraut hat. Wenn er mit der vom Landgericht als möglich
unterstellten, angesichts der objektiven Umstände indes fern
liegenden Motivation gehandelt haben sollte, seine Notfallkompetenz zu
beweisen, konnte er dies nur durch eine Rettung des Lebens von M. tun.
Hinzu kommt, dass auf der Intensivstation eines Krankenhauses schnell
lebenserhaltende
12
- 7 -
Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Diese
Gesichtspunkte, die für ein Vertrauen auf die Rettung des
Tatopfers sprechen könnten, hat das Landgericht bei der
erforderlichen Gesamtabwägung aller relevanten
Umstände des Einzelfalls nicht erkennbar
berücksichtigt.
II. Revision der Nebenklägerin
13
Die Nebenklägerin hat mit ihrer Rüge Erfolg, das
Mordmerkmal der Heimtücke sei nicht rechtsfehlerfrei
ausgeschlossen.
14
1. Das Landgericht hat hierzu ausgeführt:
15
Der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit des M. nicht ausgenutzt,
denn diesem habe wegen des Langzeitkomas die Fähigkeit zum
Argwohn gefehlt. Der Heimtückevorsatz lasse sich auch nicht
mit der Arglosigkeit der Krankenschwester T. begründen, weil
der Angeklagte die Krankenschwester nicht zielgerichtet von ihren
pflegerischen Aufgaben gegenüber dem Tatopfer abgelenkt oder
sonst in Sicherheit gewogen habe. Als Pfleger auf der Intensivstation
sei auch er selbst schutzbereiter Dritter gewesen. In einer solchen
Konstellation sei das bloße Ausnutzen einer Gelegenheit zur
Tötung für das Mordmerkmal Heimtücke nicht
ausreichend.
16
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher
Überprüfung nicht stand.
17
a) Rechtsfehlerfrei hat das Landgericht allerdings für die
Frage der Heimtücke nicht auf die Arg- und Wehrlosigkeit des
bewusstlosen Patienten M. selbst abgestellt. Denn dieser war - anders
als eine schlafende Person (vgl. BGHSt 23, 119, 120 f.) - wegen des
Komas, in dem er sich befand, zu keinerlei Argwohn und Gegenwehr
fähig. Es hat im Ausgangspunkt zutreffend erkannt,
18
- 8 -
dass beim Angriff auf das Leben eines bewusstlosen Erwachsenen
Heimtücke vorliegen kann, wenn der Täter die Arg- und
Wehrlosigkeit eines schutzbereiten Dritten zur Tatbegehung ausnutzt
(vgl. BGHSt 8, 216, 218; 18, 37, 38; 32, 382, 387 f.). Zutreffend ist
es auch von der Arg- und Wehrlosigkeit der Pflegekräfte,
insbesondere der Krankenschwester T. , ausgegangen, weil diese mit
einem Angriff auf das Leben des M. nicht rechneten und deshalb einem
solchen nicht wirksam entgegentreten konnten.
b) Der Begründung, mit der das Landgericht im Ergebnis das
Mordmerkmal der Heimtücke verneint hat, kann jedoch nicht
gefolgt werden.
19
Schutzbereiter Dritter ist jede Person, die den Schutz eines
Besinnungslosen vor Leib- und Lebensgefahr dauernd oder
vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick
der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb
nicht tut, weil sie dem Täter vertraut (vgl. BGHSt 8, 216,
219; BGH NStZ 2006, 338, 339 f.). Sie muss aufgrund der
Umstände des Einzelfalls allerdings den Schutz wirksam
erbringen können, wofür eine gewisse
räumliche Nähe und eine überschaubare Anzahl
der ihrem Schutz anvertrauten Menschen erforderlich sind.
20
Vor allem die Krankenschwester T. , aber auch die weiteren auf der
Intensivstation zum Tatzeitpunkt vorhandenen Pflegekräfte,
sind als schutzbereite Dritte in diesem Sinne anzusehen. Nach den
Feststellungen waren sie auf der Intensivstation nur für
wenige Patienten verantwortlich sowie speziell auch zu deren Schutz vor
Leib- und Lebensgefahr eingesetzt, hielten sich in der Nähe
des bewusstlosen M. auf und hatten tatsächlich die Betreuung
sowie regelmäßige Kontrolle des schwerkranken
Tatopfers entsprechend den ärztlichen Anordnungen
übernommen. Dabei wurden sie unterstützt durch
technische Geräte wie den Überwachungsmonitor,
über den bei einer Ver-
21
- 9 -
schlechterung des Gesundheitszustandes ein akustischer Alarm
ausgelöst wurde. Sie waren daher in der Lage, bei einer
Verschlechterung des Gesundheitszustandes des M. sofort einzugreifen
und ärztliche Hilfe herbeizuholen.
Entgegen der Auffassung des Landgerichts scheitert ein Ausnutzen nicht
daran, dass der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit der
schutzbereiten Pflegekräfte nicht gezielt
herbeiführte, sie also weder von ihren pflegerischen Aufgaben
gegenüber dem Tatopfer ablenkte noch sonst in Sicherheit wog
(vgl. E-ser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl.
§ 211 Rdn. 25 m. w. N.). Er musste die schutzbereiten Dritten
nicht ausschalten, um die Tötung des nicht mehr
behüteten Tatopfers ungehindert durchführen zu
können (so aber missverständlich BGH NStZ 2006, 338,
339; Schneider in MünchKomm § 211 Rdn. 135).
Für das Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit ist es - wie bei
der Heimtücke gegenüber dem Tatopfer selbst, bei der
es nicht darauf ankommt, ob der Täter die Arglosigkeit
herbeiführte oder bestärkte - ausreichend, dass der
Täter die von ihm erkannte Arglosigkeit eines schutzbereiten
Dritten bewusst zur Tatbegehung ausnutzt, und zwar unabhängig
davon, worauf diese beruht (vgl. BGHSt 8, 216, 219). Auch steht der
Annahme von Heimtücke nicht entgegen, dass dem Angeklagten
selbst eine besondere Schutzpflicht gegenüber dem Tatopfer
oblag (vgl. BGHSt 8, 216, 219). Im Gegenteil: Als Pflegekraft auf der
Intensivstation eines Krankenhauses missbrauchte er seine Kenntnisse
und seine Stellung zu einem Angriff auf das Leben einer auch seinem
Schutz unterliegenden Person und handelte daher in besonderer Weise
hinterhältig.
22
c) Das Mordmerkmal der Heimtücke ist auch nicht deshalb
zwangsläufig zu verneinen, weil der Angeklagte nach den
Urteilsfeststellungen den Tod des M. möglicherweise aus
Mitleid herbeiführen wollte. Zwar kann es ent-
23
- 10 -
fallen, wenn der Täter nicht aus einer feindseligen Haltung
gegenüber dem Opfer heraus, sondern aus Mitleid gehandelt hat,
um einem Todkranken schwerstes Leid zu ersparen. Es reicht jedoch nicht
jede Mitleidsmotivation aus, um eine die Heimtücke
prägende Gesinnung auszuschließen. Gerade in einer
oberflächlich vorhandenen Mitleidsmotivation kann sich
Feindseligkeit gegenüber dem Lebensrecht eines Schwerkranken
äußern (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2
Heimtücke 14), zumal wenn dieser - wie hier - im Koma liegt,
deshalb seinen Zustand nicht realisiert sowie keine Schmerzen erleidet
und seine Angehörigen um sein Leben kämpfen.
III. Umfang der Aufhebung
24
Wegen der aufgezeigten Rechtsfehler ist über den
Tötungsvorsatz und die subjektive Tatseite der
Heimtücke neu zu verhandeln und zu entscheiden. Die
Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei
getroffen worden und können deshalb bestehen bleiben
(§ 353 Abs. 2 StPO). Die ihnen zugrunde liegende
Beweiswürdigung lässt keinen Rechtsfehler zum Vor-
oder Nachteil des Angeklagten erkennen. Ergänzende
Feststellungen, die zu den bestehen bleibenden nicht in Widerspruch
stehen, sind zulässig.
25
Tolksdorf Pfister von Lienen Hubert Schäfer |