BGH,
Urt. v. 19.6.2008 - 4 StR 105/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 105/08
vom
19. Juni 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19.
Juni 2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien
und die Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Athing,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Dessau-Roßlau vom 6. November 2007 im Strafausspruch
aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts
Halle zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision der Angeklagten und die Revision der
Staatsanwaltschaft werden verworfen.
4. Die Staatskasse trägt die Kosten der Revision der
Staatsanwaltschaft und die der Angeklagten insoweit entstandenen
notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer
Freiheitsstrafe von elf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen
wenden sich die Angeklagte und - zu ihren Ungunsten - die
Staatsanwaltschaft mit ihren jeweils auf die Rüge der
Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revisionen; die
Angeklagte erhebt darüber hinaus die nicht
ausgeführte Verfahrensrüge. Während die
Angeklagte mit ihrem Rechtsmittel insbesondere die Nichtannahme
erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit beanstandet und
eine niedrigere Strafe erstrebt, möchte die Staatsanwaltschaft
mit ihrer Revision eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes
erreichen. Das Rechtsmittel der Angeklag-
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ten hat zum Strafausspruch Erfolg; dagegen bleibt der - vom
Generalbundesanwalt vertretenen - Revision der Staatsanwaltschaft der
Erfolg versagt.
I.
Das Landgericht hat festgestellt:
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Die zur Tatzeit 27-jährige Angeklagte war von 2001 bis 2005
mit Enrico W. fest liiert. Aus dieser Beziehung stammt eine Tochter.
Zwei weitere Schwangerschaften während ihrer Beziehung zu
Enrico W. brach sie ab. Seit dem Sommer 2005 unterhielt sie eine
Beziehung zu dem verheirateten Tino H. Als sie erstmals vom ihm
schwanger wurde, ließ sie auch diese Schwangerschaft
abbrechen. Die Beziehung zu Tino H. endete im Juli 2006. Im Dezember
2006 stellte die Angeklagte fest, dass sie von Tino H. erneut schwanger
geworden war. Inzwischen hatte sie aber bereits die Verbindung zu
Enrico W. wieder aufgenommen, der zwar zwischenzeitlich geheiratet
hatte, aber von seiner Ehefrau getrennt lebte und bei dem es sich um
den Mann handelte, den sie "immer wollte".
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Die Angeklagte verbarg ihre erneute Schwangerschaft erfolgreich vor
anderen und traf auch keinerlei Vorbereitungen für die
bevorstehende Geburt. Auch ihrer Mutter, die ihre wichtigste
Bezugsperson ist, erzählte sie nichts, weil sie
Vorwürfe bezüglich ihrer Lebensführung
fürchtete. Ebenso setzte sie auch Tino H. von ihrer
Schwangerschaft nicht in Kenntnis, da ihr aufgrund seines
früheren Verhaltens klar war, dass er das Kind nicht
würde haben wollen.
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Am Tattag, dem 28. Februar 2007, spürte die Angeklagte morgens
Bauchschmerzen, dachte aber noch nicht an eine bevorstehende Geburt,
mit der sie erst im April rechnete. Im Laufe des Vormittags
fühlte sie jedoch, dass
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es sich bei den Bauchschmerzen um Geburtswehen handelte. Wenig
später brachte sie im Bad problemfrei ein gesundes
Mädchen zur Welt. Sie durchtrennte die Nabelschnur und
säuberte das Kind. Dann reinigte sie das Bad. Während
sie damit beschäftigt war und anschließend
überlegte sie über einen Zeitraum von drei bis vier
Stunden nach der Geburt unentschieden hin und her, ob sie das Kind
umbringen oder behalten solle. Das Aufsuchen eines Krankenhauses oder
die Abgabe des Kindes in eine so genannte Babyklappe zog sie nicht in
Betracht, weil sie glaubte, dass hierbei sie als Mutter des Kindes und
Tino H. als dessen Erzeuger bekannt würden. Das wollte sie
aber wegen der befürchteten Vorwürfe ihrer Mutter,
der Ablehnung von Tino H. sowie ihres eigenen Interesses an der wieder
aufgenommenen Beziehung zu Enrico W. vermeiden. Sie verspürte
Angst, Ratlosigkeit und Verzweiflung und war von der Geburt auch
körperlich erschöpft. Als nunmehr das Kind zu
schreien begann, nahm sie es auf den Arm und entschied sich dann, es zu
töten. Sie drückte es mit Mund und Nase so gegen
ihren Oberkörper, dass das Kind nicht mehr atmen konnte, legte
es sodann auf dem Boden ab und überzeugte sich davon, dass es
kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Anschließend steckte
sie die Kindesleiche in einen Plastiksack, den sie zunächst in
einem Schrank im Bad versteckte. In der folgenden Nacht brachte sie den
Sack mit der Kinderleiche zu einem nahe gelegenen See.
II.
Das Landgericht hat die geständige Angeklagte des Totschlags
(§ 212 Abs. 1 StGB) für schuldig befunden. Mit dem
gehörten psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr.
M. hat es eine Aufhebung (§ 20 StGB) oder auch nur erhebliche
Verminderung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des §
21 StGB ver-
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neint. Zwar weise die Angeklagte eine selbstunsichere
Persönlichkeit mit schizoiden und emotional instabilen
Elementen auf. Gerade der mehrstündige Prozess des Hin- und
Herüberlegens zeige aber, dass sie den Tatanreizen in ganz
beträchtlichem Maße Widerstand entgegenzusetzen
vermocht habe. Eine Verurteilung der Angeklagten wegen Mordes hat das
Schwurgericht abgelehnt, weil das allein in Betracht zu ziehende
mordqualifizierende Merkmal der Tötung aus niedrigen
Beweggründen nicht vorliege. Gegen eine solche Wertung
sprächen die Angst der Angeklagten vor Vorwürfen
ihrer Mutter, die sie dabei bewegenden Gefühle der Angst,
Ratlosigkeit und Verzweiflung und auch ihre mögliche Sorge um
den Bestand der Ehe des Erzeugers. Zudem spreche das
mehrstündige Hin- und Herüberlegen vor der
endgültigen Entscheidung zur Tötung gegen eine
besondere Geringschätzung des fremden Lebens.
III.
Revision der Staatsanwaltschaft
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Die Staatsanwaltschaft dringt mit ihrer Beanstandung, die
Schwurgerichtskammer habe zu Unrecht das mordqualifizierende Merkmal
der Tötung aus niedrigen Beweggründen verneint, nicht
durch.
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Die Beurteilung der Frage, ob Beweggründe zur Tat "niedrig"
sind und - in deutlich weiter reichendem Maße als ein
Totschlag - verachtenswert erscheinen, hat aufgrund einer
Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren
für die Handlungsantriebe des Täters
maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der
Tat, der Lebensverhältnisse des Täters, und seiner
Persönlichkeit zu erfolgen (st. Rspr.; vgl. BGHSt 47, 128,
130; BGHR StGB § 211 Abs. 2 niedrige Beweggründe 47;
jew. m.w.N.). Die Ablehnung niedriger Beweggründe
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im angefochtenen Urteil ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu
beanstanden. Das Landgericht hat alle wesentlichen für die
Beurteilung maßgebenden Umstände in seine
Abwägung mit einbezogen. Mit ihren Einwänden
unternimmt die Beschwerdeführerin lediglich den Versuch, die
in erster Linie dem Tatrichter vorbehaltene Wertung durch eine eigene
Würdigung zu ersetzen. Damit kann sie angesichts des
eingeschränkten revisionsgerichtlichen
Prüfungsmaßstabes nicht gehört werden. Dass
die Angeklagte bei ihren stundenlangen Überlegungen, ob sie
das Kind leben lassen oder es töten solle, auch ihre Beziehung
zu ihrer Mutter und zu Enrico W. und die Haltung des Kindesvaters Tino
H. im Blick hatte, hat das Landgericht nicht verkannt. Die Verfolgung
eigener Interessen und ein Missverhältnis zwischen Anlass und
Tat sind der Regelfall der vorsätzlichen rechtswidrigen
Tötung eines anderen. Dass die Tat der Angeklagten
demgegenüber von besonders krasser Selbstsucht
geprägt war, die allein die Qualifizierung der Tat als mit
lebenslanger Freiheitsstrafe statt als mit zeitiger Freiheitsstrafe
bedrohter Totschlag rechtfertigen könnte, ist nicht
ersichtlich. Jedenfalls liegt ein die Revision begründender
Rechtsfehler nicht darin, dass das Landgericht der von Angst,
Ratlosigkeit, Verzweiflung geprägten psychischen Verfassung
der Angeklagten, zu der die körperliche Erschöpfung
nach der Geburt hinzukam, ein solches Gewicht beigemessen hat, dass
deswegen die Mordqualifikation zu verneinen war.
IV.
Revision der Angeklagten
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Dagegen führt die Revision der Angeklagten auf die
Sachrüge zur Aufhebung des Strafausspruchs.
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1. Ohne Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin, dass das
Landgericht eine erhebliche Verminderung ihrer
Steuerungsfähigkeit im Tatzeitpunkt im Sinne von § 21
StGB verneint hat. Bei Kindstötungen wird selbst unter den
engeren Voraussetzungen des früheren § 217 StGB (zu
den Gründen der Aufhebung dieser Vorschrift durch das 6. StrRG
vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 34 zu Nr. 26 und S. 81/82 zu Nr. 15) eine
erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit
kaum in Betracht kommen, wenn bei der Täterin außer
der Belastung durch die Geburt keine unabhängig hiervon
bestehenden rechtlich relevanten körperlichen und
geistig-seelischen Beeinträchtigungen vorliegen (vgl. BGH,
Urt. vom 5. Juni 2003 - 3 StR 55/03). Dies gilt erst recht, wenn die
Tat wie hier - anders als im früheren § 217 StGB
vorausgesetzt - nicht „in oder gleich nach der
Geburt“ erfolgt. Danach hat das Landgericht ungeachtet der
Persönlichkeitsauffälligkeiten der Angeklagten zu
Recht - darin den gehörten psychiatrischen
Sachverständigen folgend - das Vorliegen der Voraussetzungen
des § 21 StGB verneint.
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2. Gleichwohl hat der Strafausspruch keinen Bestand.
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Ohne Rechtsfehler hat das Schwurgericht allerdings das Vorliegen eines
minder schweren Falls des Totschlags gemäß
§ 213 StGB verneint und die Strafe dem Strafrahmen des
§ 212 Abs. 1 StGB entnommen. Der Strafausspruch ist aber
aufzuheben, weil nach den Feststellungen, die das Landgericht zur
Schwere der Tat und zum Grad der persönlichen Schuld der
Angeklagten getroffen hat, bei Abwägung der strafmildernden
und der strafschärfenden Gesichtspunkte die verhängte
Freiheitsstrafe unvertretbar hoch ist, das für vergleichbare
Fälle übliche Maß erheblich
überschreitet, damit den Anforderungen an einen gerechten
Schuldausgleich nicht mehr entspricht und deshalb rechtsfehlerhaft ist
(vgl. BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen 9, 11, 12
m.w.N.). Nach den Erkenntnissen des Senats halten sich die in
einschlägigen
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Fällen gegen die Kindesmütter verhängten
Strafen deutlich unterhalb der hier erkannten Freiheitsstrafe. Dabei
steht außer Frage, dass solche Taten objektiv schwerstes
Unrecht darstellen. Angesichts einer sich in letzter Zeit ersichtlich
häufenden Zahl einschlägiger Fälle
dürfen bei der Findung des (noch) schuldangemessenen
Strafmaßes auch generalpräventive Gesichtspunkte
Berücksichtigung finden. In erster Linie hat sich die Strafe
indes nach dem Maß der Tatschuld im Einzelfall auszurichten.
Bei deren Gewichtung darf insbesondere die häufig verzweifelte
Situation der Kindesmütter nicht außer Betracht
bleiben. Zwar hätte die Mutter der Angeklagten ihre
Unterstützung nicht versagt und standen schon deshalb
für die Angeklagte - wie das auch sonst bei solcher Sachlage
regelmäßig der Fall ist - objektiv
Lösungsmöglichkeiten für die Versorgung des
Kindes zur Verfügung. Dass die Angeklagte davon keinen
Gebrauch gemacht und sich schließlich für die
Tötung des Kindes entschieden hat, ist aber nicht zuletzt den
Besonderheiten in ihrer Persönlichkeit zuzuschreiben. Zu Recht
hat das Landgericht der Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung im
engeren Sinne deshalb auch ihre "selbstunsichere
Persönlichkeitsstörung" mit schizoiden und emotional
instabilen Anteilen sowie ihre körperliche
Erschöpfung durch die zuvor überstandene Entbindung
zugute gehalten. Hinzu kommt, dass die psychische Verfassung der
Angeklagten in der Tatsituation von Gefühlen der Angst,
Ratlosigkeit und Verzweiflung geprägt war. Angesichts dieser
schuldmildernden Umstände von Gewicht wird das hier im
zweistelligen Bereich gefundene Strafmaß der Tatschuld der
Angeklagten nicht mehr gerecht.
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3. Der Senat hebt deshalb auf die Revision der Angeklagten das Urteil
im Strafausspruch auf. Die zugehörigen Feststellungen sind von
dem Aufhebungsgrund nicht betroffen und können deshalb
bestehen bleiben. Zugleich macht der Senat von der Möglichkeit
des § 354 Abs. 2 Satz 1 2. Alt. StPO Gebrauch und verweist die
Sache an ein anderes Landgericht zurück.
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Tepperwien Maatz Kuckein
Athing Solin-Stojanović |