BGH,
Urt. v. 19.9.2000 - 1 StR 310/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 310/00
vom
19. September 2000
in der Strafsache gegen
wegen schweren Raubes
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 19.
September 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Wahl, Dr. Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof , Staatsanwalt als Vertreter
der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger, Justizangestellte
, Justizangestellte als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 14. Dezember 1999,
soweit es den Angeklagten B. betrifft,
a) im Schuldspruch dahin klargestellt, daß der Angeklagte des
schweren Raubes schuldig ist,
b) im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen (gemeinschaftlichen)
Raubes zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Der Angeklagte hatte mit dem ebenfalls verurteilten Angeklagten O. ein
Lokal überfallen und die Einnahmen weggenommen. Gegen dieses
Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer nur zuungunsten des
Angeklagten B. eingelegten und auf den Rechtsfolgenausspruch
beschränkten Revision. Das auf die Sachrüge
gestützte Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Beschwerdeführerin hat zwar den Schuldspruch nicht
angegriffen. Auf Antrag des Generalbundesanwalts war jedoch in der
Urteilsformel klarzustellen, daß der Angeklagte des schweren
Raubes schuldig ist. Diese Klarstellung ist geboten, weil die
Strafkammer selbst in der rechtlichen Würdigung und in der im
Anschluß an die Urteilsformel angeführten
Bezeichnung des zur Anwendung gebrachten Strafgesetzes von einem
schweren Raub nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB ausgegangen ist.
2. Der Strafausspruch kann allerdings keinen Bestand haben. Mit Recht
rügt die Beschwerdeführerin, daß das
Landgericht dem Angeklagten B. verminderte Schuldfähigkeit
nach § 21 StGB zugebilligt hat.
a) Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, er sei seit
längerer Zeit rauschgiftabhängig. Er konsumiere
regelmäßig Amphetamin oder "Speed", auch Kokain und
gelegentlich Haschisch. Alkohol trinke er eigentlich weniger. Am Tage
vor der Tat habe er etwa 1 1/2 Gramm "Speed" geraucht. Durch die
Einnahme von "Speed" habe er sich wie ein "Supermann" gefühlt.
Danach habe er keine Drogen mehr gehabt. Außerdem habe er bis
gegen 24.00 Uhr Chantré und Bier getrunken; die Menge
könne er nicht mehr angeben.
b) Die Strafkammer stützt ihre
Schuldfähigkeitsbeurteilung auf die Angaben des Angeklagten
und das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten
des Medizinaloberrats S. . Dieser hatte den Angeklagten nicht
untersucht und nicht exploriert. Der Sachverständige hat
ausgeführt, aus den Akten und aufgrund des Eindrucks in der
Beweisaufnahme hätten sich keine Hinweise auf eine schwere
psychische Auffälligkeit ergeben. Die Angaben des Angeklagten
zum Drogenkonsum seien glaubhaft, weil er die Symptome der
verschiedenen Betäubungsmittel zutreffend beschrieben habe, er
kenne sie also. Er habe auch glaubhaft einen Zustand geschildert, in
den sich ein Drogenabhängiger durch die
regelmäßige Einnahme versetze. Dabei habe er sich in
einer gewissen Ausgeglichenheit befunden, aus der er sowohl durch
Entzug oder durch die Einnahme größerer Drogenmengen
herausfalle. Es sei denkbar, daß der Angeklagte nach der
Einnahme von Drogen sich einerseits wie ein "Supermann"
gefühlt habe, andererseits im Bewußtsein,
daß er keine Betäubungsmittel und auch kein Geld
mehr besaß, in einen Zustand geraten sei, den er als
Sachverständiger "als erhebliche Verminderung der
Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen
könne".
Die Strafkammer hat den Ausführungen des
Sachverständigen entnommen, daß der Angeklagte "mit
Sicherheit" für seine Tat im Sinne des § 20 StGB
strafrechtlich verantwortlich war. Allerdings vermochte die Kammer
nicht auszuschließen, daß beim Angeklagten im
Zeitpunkt der Tat die Voraussetzungen verminderter
Schuldfähigkeit nach § 21 StGB vorlagen. Dieser
Schluß ist nach den bisher getroffenen Feststellungen
über den behaupteten Drogenkonsum des Angeklagten und den
mitgeteilten Ausführungen des Sachverständigen nicht
gerechtfertigt.
3. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
können der Betäubungsmittelkonsum, aber auch die
Abhängigkeit von Betäubungsmitteln nur ausnahmsweise
erheblich verminderte Schuld begründen, wenn
langjähriger Betäubungsmittelmißbrauch
namentlich unter Verwendung "harter" Drogen zu schwersten
Persönlichkeitsveränderungen geführt hat
oder der Täter durch starke Entzugserscheinungen oder bei
Heroinabhängigen aus Angst davor dazu getrieben wird, sich
durch eine Straftat Drogen zu verschaffen oder wenn er die Tat im
Zustand eines aktuellen Drogenrausches begeht (BGH StV 1997, 517
m.w.Nachw.). Ob eine hierauf beruhende Beeinträchtigung der
Steuerungsfähigkeit erheblich ist, ist eine Rechtsfrage, die
der Tatrichter in eigener Verantwortung zu entscheiden hat (BGHSt 8,
113, 124; BGH NStZ 1997, 485; Jähnke in LK 11. Aufl.
§ 21 Rdn. 8 m.w.Nachw.).
a) Bei langjährig Rauschgiftabhängigen kann die
Anwendung des § 21 StGB dann erfolgen, wenn schwerste
Persönlichkeitsveränderungen erkennbar sind (BGHR
StGB § 21 BtM-Auswirkungen 8). Fehlen objektive
Beweisanzeichen über das Ausmaß der
Drogenabhängigkeit, muß der Tatrichter das Vorliegen
der medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungspunkte mit Hilfe
des Sachverständigen selbständig und
eigenverantwortlich prüfen.
Die Urteilsgründe teilen genauere Einzelheiten über
die Art der gebrauchten Drogen, die Dauer des Konsums, die Dosierung,
die Hinweise auf das Ausmaß der Drogenabhängigkeit
des Angeklagten geben könnten, nicht mit. Der
Mittäter hat ausgesagt, er könne über den
Rauschgiftkonsum des Angeklagten keine näheren Angaben machen,
allerdings habe dieser "sich im Zeitraum vor der Tat"
gegenüber früher verändert.
Die Urteilsgründe legen nicht dar, ob der
Sachverständige beim Angeklagten überhaupt die
allgemeinen psychiatrischen Kriterien einer
Substanzabhängigkeit gemäß ICD-10
(Internationale Klassifikation psychischer Störungen,
Dilling/Mombour/Schmidt (Hrsg.) 3. Aufl. [1999]) oder DSM-IV
(Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen
[1996]) als erfüllt angesehen hat. Sind diese nicht gegeben,
so sind in der Regel keine forensisch-psychiatrischen Folgerungen
möglich (vgl. Venzlaff/Förster, Psychiatrische
Begutachtung, 3. Aufl. S. 175 ff.). Zwar besagt das Vorliegen eines
bestimmten Zustandsbildes nach der Klassifikation ICD-10 noch nichts
über das Ausmaß drogeninduzierter psychischer
Störungen (vgl. BGH NStZ 1997, 383). Gleichwohl weist eine
solche Zuordnung in der Regel auf eine nicht ganz geringfügige
Beeinträchtigung hin, dem der Tatrichter mit Hilfe des
Sachverständigen nachgehen muß (BGH NStZ 1999, 630;
StV 1998, 342).
Da hierzu nähere Darlegungen fehlen, kann der Senat nicht
nachprüfen, ob der Tatrichter sich bei seiner Entscheidung
über die Erheblichkeit der Einschränkung der
Steuerungsfähigkeit zu Recht auf die "seit längerer
Zeit" bestehende Rauschgiftabhängigkeit gestützt hat.
b) Den Urteilsgründen ist ebenso wenig zu entnehmen, ob der
Angeklagte den schweren Raub im Zustand eines akuten Rausches
verübt hat (vgl. BGH JR 1987, 206 m. zust. Anm. Blau; BGHR
StGB § 21 BtM-Auswirkungen 12) oder ob eine Entzugssymptomatik
oder eine Angst vor Entzugserscheinungen vorlag.
aa) Gegen eine akute Drogenintoxikation zum Tatzeitpunkt - dazu
hätte es der Feststellung einer massiven psychopathologischen
Symptomatik im Sinne von Realitätsverlust, Halluzinationen
oder Wahnvorstellungen (Venzlaff/Foerster aaO S. 176) bedurft -
sprechen die eigenen Angaben des Angeklagten zu seinem Konsum vor der
Tat. Der Konsum von 1 1/2 Gramm Amphetamin erfolgte am Tag vor der Tat.
Dabei fühlte er sich wie ein "Supermann". Andererseits hatte
er danach keine Drogen mehr, sondern nur bis gegen Mitternacht eine
nicht näher bestimmbare Menge Alkohol konsumiert. Damit bleibt
letztlich offen, ob die Strafkammer annimmt, der Angeklagte
könnte den Überfall im Zustand eines akuten
Amphetaminrausches begangen haben und sei deshalb in seiner
Steuerungsfähigkeit eingeschränkt gewesen.
bb) Der Bundesgerichtshof hat zu Beschaffungsdelikten
Heroinabhängiger ausgesprochen, daß die
Anwendbarkeit des § 21 StGB nicht in jedem Fall "akute
körperliche" Entzugserscheinungen des Täters zur
Tatzeit voraussetzt (BGHR StGB § 21 BtM-Auswirkungen 2). Es
ist rechtlich nicht ausgeschlossen, daß die Angst des
Heroinabhängigen vor Entzugserscheinungen, die er schon als
äußerst unangenehm erlebt hat und als nahe
bevorstehend einschätzt, seine Steuerungsfähigkeit
erheblich beeinträchtigen kann.
Ob bei Abhängigkeit oder nach Konsum von Amphetamin
vergleichbare Entzugserscheinungen auftreten oder Angst vor
Entzugserscheinungen hervorrufen können und ob gegebenenfalls
deshalb eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht
kommt, ist eine Frage, die der Tatrichter nach dem oben dargelegten
Maßstab zu entscheiden hat. Bei Amphetamin sind die
Suchtfolgen ohnehin nicht so schwer wie bei Heroin (BGHSt 33, 169, 171;
BGH StV 1997, 227).
Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, ob die Strafkammer
angenommen hat, der Angeklagte habe unter "akuten und schwerwiegenden"
Entzugserscheinungen gelitten oder seine Handlung sei
maßgeblich von der Angst vor Entzugserscheinungen bestimmt
gewesen. Der Mittäter hat über schwere
Entzugserscheinungen des Angeklagten bei der Ausführung der
Tat nichts berichtet. Die Kammer teilt auch nichts darüber
mit, ob im Zusammenhang mit der kurze Zeit später erfolgten
Festnahme Entzugssymptome festgestellt wurden. Der
Sachverständige sieht es aufgrund der Angaben des Angeklagten
als "durchaus denkbar" an, daß diesem - während oder
nach der Wirkung des Amphetamins - bewußt war, es
könne zu Entzugserscheinungen kommen, wenn er keine
Betäubungsmittel mehr bekäme. Die mitgeteilten
Ausführungen des Sachverständigen legen nahe,
daß er beim Angeklagten diesen Zustand der Angst vor
Entzugserscheinungen für möglich gehalten hat. Diese
mehr allgemeinen Erörterungen reichen indes nicht aus.
c) Nicht hinreichend dargelegt ist schließlich der
Schluß auf das Vorliegen der Voraussetzungen des §
21 StGB aufgrund der Möglichkeit - auf diese stellt die
Verteidigung ab - , beim Angeklagten hätten zum Tatzeitpunkt
ein "Hochgefühl" nach der Einnahme von Amphetamin und ein
"drogenbedingtes Zukunftsbedenken" nebeneinander vorgelegen. Diese
Annahme ist weder auf hinreichende Ausführungen des
Sachverständigen gestützt noch ist sie bisher
wissenschaftlich belegt.
4. Da die wesentlichen Anknüpfungstatsachen für die
Beurteilung der Schuldfähigkeit nach § 21 StGB
fehlen, bedarf die Sache insoweit erneuter Prüfung. Der
Tatrichter wird in der neuen Verhandlung auch zu erwägen
haben, ob eine Unterbringung des Angeklagten nach § 64 StGB in
Betracht kommt.
Schäfer Wahl Boetticher Schluckebier Hebenstreit |