BGH,
Urt. v. 20.5.2003 - 5 StR 66/03
5 StR 66/03
StGB § 222
Wer infolge einer Täuschung durch das Opfer vorsatzlos aktive
Sterbehilfe leistet, nimmt nicht an einer tatbestandslosen
Selbstgefährdung teil.
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 20. Mai 2003
in der Strafsache gegen
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 20.
Mai 2003, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger, Richterin Dr. Gerhardt, Richter Dr. Brause,
Richter Schaal als beisitzende Richter, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger, Justizangestellte als
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Hamburg vom 10. Oktober 2002 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen,
einen Schwerstbehinderten getötet zu haben, den er als
Zivildienstleistender betreut hatte. Die dagegen mit der
Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft,
die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat Erfolg.
I.
Die Jugendkammer hat festgestellt:
Der 20 Jahre alte Angeklagte übernahm als
Zivildienstleistender am 13. Februar 2001 ohne besondere Vorbereitung
für die Dauer von zwei Wochen in der Z in Hamburg die
Tagesbetreuung (10.00 bis 16.30 Uhr) des 28 Jahre alten S . Dieser litt
an stark ausgeprägter progressiver Muskeldystrophie vom Typus
Duchenne und vermochte neben einzelnen Fingern - diese aber ohne Kraft
- nur noch Mund und Zunge zu bewegen. Seine Arme und Beine waren in
Beugestellung fixiert. Deformationen des Brustkorbes und der
Wirbelsäule und eine starke Reduzierung der Atemmuskulatur
ließen nur noch eine Atmungskapazität von zehn
Prozent eines Gesunden zu. Der Ausstoß von Kohlendioxyd wurde
durch ein zeitweise an die Nase angeschlossenes Beatmungsgerät
gefördert.
S verfügte über einen herausragenden Intellekt. Er
konnte seine Vorstellungen genau artikulieren und dank seiner guten
Menschenkenntnis einschätzen, an welche der
Pflegekräfte er sich zu wenden hatte, um auch ausgefallene
Wünsche zu verwirklichen. Schon im Dezember 1999 hatte er in
einem elektronischen Brief einer ihm nahe stehenden Pflegehilfe eine
Selbsttötungsphantasie mitgeteilt. Er hatte geschildert,
dadurch sexuell erregt zu werden, daß er in zwei miteinander
verklebten Müllsäcken verpackt mit zugeklebtem Mund
in einen Behälter geworfen würde, um sodann - mit
weiteren Müllsäcken bedeckt - anschließend
durch die Müllabfuhr in die Verbrennungsanlage gebracht und
dort verbrannt zu werden.
Er griff im Februar 2001 diese Gedanken auf und wollte sie mit Hilfe
des Angeklagten verwirklichen. Zunächst hatte er diesen
gebeten, ihm statt einer Hose eine Plastiktüte über
den Unterleib bis zur Hüfte zu ziehen. Nachdem er dem
Angeklagten erläutert hatte, gern Plastik auf der Haut zu
spüren, kam der Angeklagte diesem Verlangen nach. Am 22.
Februar 2001 gegen 12.15 Uhr äußerte S den Wunsch,
ihn in Müllsäcke verpackt in einen
Müllcontainer zu legen. Auf Nachfragen des Angeklagten
versicherte er, dies schon öfter gemacht zu haben, und
daß seine Bergung aus dem Container am Nachmittag sicher sei.
Der Angeklagte erfüllte in dem Bestreben, dem ihm anvertrauten
Schwerstbehinderten so gut wie möglich zu helfen, alle
bestimmt vorgebrachten Anweisungen, ohne sie kritisch zu hinterfragen.
Er packte S nackt in zwei Müllsäcke, schnitt eine
Öffnung für den Kopf in den oberen Müllsack
und verklebte beide Säcke. Bis auf eine kleine
Öffnung verschloß er ferner - auf besonderen Wunsch
S - dessen Mund mit Klebeband und legte ihn bei
Außentemperaturen um den Gefrierpunkt in einen teilweise
gefüllten Container. Weisungsgemäß stellte
der Angeklagte den Rollstuhl in den Abstellraum, räumte die
Wohnung auf und verließ die Pflegeeinrichtung durch einen
Seiteneingang. Diese Maßnahmen hatte S angeordnet, um eine
gegenüber anderen Pflegekräften wahrheitswidrig
mitgeteilte Abwesenheit zu belegen. Eine deshalb erst am Abend erfolgte
Suche nach ihm blieb ergebnislos. Am nächsten Morgen wurde
sein Leichnam im Container entdeckt. Der Tod war durch Ersticken,
möglicherweise in Kombination mit Unterkühlung
eingetreten. Entweder hatte der obere Müllsack die Atemwege
verlegt oder die ohnehin nur flache Atmung war durch einen auf den
Brustkorb gelangten weiteren Müllsack unmöglich
geworden. 19
II.
In der rechtlichen Würdigung führt die Jugendkammer
aus:
Das zu Tode führende Geschehen sei wegen der
gemeinschaftlichen Tatherrschaft des Angeklagten und des Opfers nicht
mehr als Beteiligung an einer Selbstgefährdung, sondern als
einverständliche Fremdgefährdung zu werten. Die
Gefährdung sei ausschließlich von dem Angeklagten,
wenn auch auf alleinige Veranlassung des Geschädigten,
ausgegangen, der sich dieser im Ergebnis lediglich ausgesetzt habe.
Allerdings ergebe eine wertende Betrachtung aller Umstände,
daß die einverständliche Fremdgefährdung
entsprechend der Auffassung von Roxin (NStZ 1984, 411, 412) "unter
allen relevanten Aspekten" einer Selbstgefährdung gleichstehe.
Dafür spreche die umfassende und sorgsame Planung des
Geschehens durch das Opfer, die besondere, von Überforderung,
Naivität, Vertrauensseligkeit und unzureichender Vorbereitung
geprägte Situation des Angeklagten und dessen vorherrschendes
Bestreben, alle Wünsche des Schwerstbehinderten zu
erfüllen. Der Angeklagte sei letztendlich dazu benutzt worden,
den Selbsttötungsplan zu verwirklichen, ohne darüber
informiert gewesen zu sein. Damit sei die Zurechnung des Handelns des
Angeklagten zum objektiven Tatbestand ausgeschlossen.
III.
Der Freispruch hält der sachlich-rechtlichen Prüfung
nicht stand. Die Feststellungen des Landgerichts tragen nicht dessen
Wertung, der Angeklagte habe im Ergebnis an einer straflosen
Selbstgefährdung teilgenommen.
1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist als Folge des
Grundsatzes der Selbstverantwortung des sich selbst eigenverantwortlich
gefährdenden Tatopfers anerkannt, daß gewollte und
verwirklichte Selbstgefährdungen nicht dem Tatbestand eines
Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts unterfallen,
wenn das mit der Gefährlichkeit bewußt eingegangene
Risiko sich realisiert. Wer lediglich eine solche
Selbstgefährdung veranlaßt, ermöglicht oder
fördert, macht sich nicht wegen eines vorsätzlichen
oder fahrlässigen Körperverletzungs- oder
Tötungsdelikts strafbar (BGHSt 32, 262, 263 f.; BGH NStZ 1985,
25, 26 und 319, 320; 1986, 266, 267; 1987, 406; BGH NJW 2000, 2286;
BGHSt 46, 279, 288). Diese Rechtsprechung gründet in erster
Linie auf Sachverhalte, denen gemein ist, daß die den
Verletzungs- oder Tötungserfolg verursachende
schädigende Handlung - die Einnahme von
Betäubungsmitteln (BGHSt 32, 262 f.; BGH NStZ 1985, 319; BGH
NJW 2000, 2286; BGHSt 46, 279, 283), Stechapfeltee (BGH NStZ 1985, 25)
oder Alkohol (BGH NStZ 1986, 266; 1987, 406) - durch das Opfer selbst
erfolgt und erfährt dann eine Ausnahme, wenn der sich
Beteiligende etwa kraft überlegenen Sachwissens das Risiko
besser erfaßt als der sich selbst Gefährdende (BGHSt
32, 262, 265; BGH NStZ 1985, 25 f.; 1986, 266; 1987, 406; BGH NJW 2000,
2286; vgl. auch BayObLG JZ 1997, 521). Maßgebendes Kriterium
zur Abgrenzung strafloser Selbstgefährdung ist in diesen
Fällen somit - wie auch bei der Anwendung des § 216
StGB anerkannt (vgl. BGHSt 19, 135, 139 f.; BGH, Beschl. vom 25.
November 1986 - 1 StR 613/86 insoweit nicht in NStZ 1987, 365 f.
abgedruckt; Eser in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl.
§ 216 Rdn. 11) - der Sache nach die Trennungslinie zwischen
Täterschaft und Teilnahme (vgl. Jähnke in LK 11.
Aufl. Vor § 211 Rdn. 22; ders. aaO § 216 Rdn. 11;
ders. aaO § 222 Rdn. 21 sub Selbstgefährdung;
Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor §§ 211
bis 216 Rdn. 10; Neumann in NK-StGB 12. Lfg. Vor § 211 Rdn.
45). Deren Grundsätze werden von der Rechtsprechung auch
herangezogen, sowet eine ausschließlich von dem Beteiligten
ausgehende Gefährdung, wie sie etwa bei einer durch
Täuschung bewogenen Vornahme der Tötungshandlung
(vgl. BGHSt 32, 38, 41 f.) oder beim Geschlechtsverkehr eines
HIV-Infizierten mit einem gesunden Menschen entsteht, zu beurteilen ist
(vgl. BGHSt 36, 1, 17 f.; BayObLG NStZ 1990, 81 f.).
2. Diese Grundsätze sind auch bei dem hier vorliegenden Fall
eines vom Angeklagten verursachten Tötungserfolges bei
eigenverantwortlicher Planung und Durchführung nach den
Wünschen des sich selbst Gefährdenden
zugrundezulegen. Danach ist in wertender Betrachtung zu entscheiden, ob
der Angeklagte im Vollzug des Gesamtplans des zum Tode
führenden Geschehens über die
Gefährdungsherrschaft verfügte oder als Werkzeug des
Suizidenten handelte (vgl. BGHSt 19, 135, 140; Jähnke aaO
§ 216 Rdn. 11; Roxin NStZ 1987, 345, 347; Neumann aaO Rdn.
51). Letzteres wäre angesichts der eigenhändigen
Ausführung der Gefährdungshandlungen durch den
Angeklagten nur anzunehmen, falls der Lebensmüde den
Angeklagten über das zum Tode führende Geschehen
getäuscht und ihn mit Hilfe des hervorgerufenen Irrtums zum
Werkzeug gegen sich selbst gemacht hätte (vgl. BGHSt 32, 38,
41 zur spiegelbildlichen Situation einer Täuschung des sich
selbst Tötenden; vgl. auch OLG Nürnberg NJW 2003, 454
f.).
So liegt es hier aber nicht. Der Angeklagte wurde über die
konkreten Umstände der von ihm allein verursachten extremen
Gefährdung nicht getäuscht. Zwar hatte der Suizident
erklärt, er habe solches Tun schon öfter
veranlaßt. Diese Äußerung
begründete aber keinen Irrtum des Angeklagten hinsichtlich der
konkreten Tatumstände. Der Angeklagte hat seine
Gefährdungshandlungen bewußt vorgenommen und dabei
in extremer Weise im Widerspruch zu jedem medizinischen Alltagswissen
gehandelt, indem er die wesentlich reduzierten
Atmungsmöglichkeiten weiter verringerte und das
spätere Opfer lediglich mit Plastik eingekleidet
gefährlicher Kälte preisgab. Auch die Vorspiegelung
des Lebensmüden, von einem (unbekannten) Dritten am Nachmittag
gerettet zu werden, begründet keinen die Tatherrschaft des
Angeklagten in Frage stellenden Irrtum. Die darin enthaltene Aussicht,
es werde alles gut gehen, beseitigt nicht das Bewußtsein von
den über Stunden wirksam werdenden Gefährdungen, zu
denen der fehlende Einsatz des Beatmungsgeräts und die
naheliegende Gefahr einer weiteren Verringerung der
Atmungskapazität durch einen auf die Brust des
Lebensmüden auftreffenden Müllsack zu zählen
waren, auch vor dem Hintergrund eines bewußt
herbeigeführten verringerten Entdeckungsrisikos.
3. Allerdings werden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum mit den
Lehren der Risikoübernahme (vgl. Roxin, Strafrecht AT Bd. 1 3.
Aufl. S. 343 f.), der Anerkennung einer "quasi
mittäterschaftlichen Herrschaft" (vgl. Neumann in NK-StGB 12.
Lfg. Vor § 211 Rdn. 56; Lenckner in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. Vorbemerkung
§§ 32 ff. Rdn. 52a und 107 m. w. N. aus der
Literatur; BayObLG NStZ 1990, 81, 82; vgl. auch
Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. § 222 Rdn. 3) und des
Vorrangs des Willens zur Selbstgefährdung (vgl. Otto in FS
für Tröndle S. 157, 171, 175) Auffassungen vertreten,
die in einem weiteren Umfang zu einer straflosen Mitwirkung an einem
Selbsttötungsgeschehen führen. Indes bestehen hier
schon Bedenken, begrifflich noch eine Selbsttötung anzunehmen,
falls die Tatherrschaft nicht uneingeschränkt beim Suizidenten
verbleibt. Einer Anerkennung strafloser aktiver Sterbehilfe
stünde zudem der sich aus der Werteordnung des Grundgesetzes
ergebende vorrangige Schutz menschlichen Lebens entgegen (vgl. BGHSt
46, 279, 285 f.), der auch die sich aus § 216 StGB ergebende
Einwilligungssperre legitimiert (vgl. BGHSt aaO S. 286).
Änderungen des Rechtsgüterschutzes bleiben vor diesem
Hintergrund allenfalls dem Gesetzgeber vorbehalten.
Der Senat verkennt nicht, daß die bestehende Rechtslage es
einem vollständig bewegungsunfähigen, aber
bewußtseinsklaren moribunden Schwerstbehinderten - wie hier -
weitgehend verwehrt, ohne strafrechtliche Verstrickung Dritter aus dem
Leben zu scheiden, und für ihn dadurch das Lebensrecht zur
schwer erträglichen Lebenspflicht werden kann. Dieser Umstand
kann aber nicht ein auch in Art. 1 Abs. 1 GG angelegtes Recht auf ein
Sterben unter menschenwürdigen Bedingungen begründen
(vgl. BGHSt aaO, 285; BGHSt 42, 301, 305). Die dafür
erforderlichen Voraussetzungen einer indirekten Sterbehilfe (vgl. BGHSt
42 aaO; Tröndle/Fischer, StGB 51. Aufl. Vor
§§ 211 bis 216 Rdn. 18) sind vorliegend nicht
gegeben. Ein verfassungsrechtlich verbürgter Anspruch auf
aktive Sterbehilfe, der eine Straflosigkeit des die Tötung
Ausführenden zur Folge haben könnte, ist dagegen
nicht anerkannt (vgl. BVerfGE 76, 248, 252; Tröndle/Fischer
aaO Rdn. 17 m. w. N.).
IV.
Der Freispruch kann danach keinen Bestand haben. Sollte der neue
Tatrichter zu den gleichen Feststellungen gelangen, werden diese in
erster Linie hinsichtlich einer fahrlässigen Todesverursachung
gemäß § 222 StGB zu würdigen sein
(vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.; BGH NStZ 2002, 315, 316 f.). Bei etwaiger
Feststellung eines Körperverletzungs- oder
Aussetzungsvorsatzes kämen die Vorschriften der
§§ 221, 223 ff. StGB in Betracht. Die besondere, von
Überforderung, Naivität, Vertrauensseligkeit und
unzureichender Vorbereitung geprägte Tatsituation des
Angeklagten wird der neue Tatrichter bei der Beurteilung der
Gleichstellung des heranwachsenden Angeklagten mit einem Jugendlichen
nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG im Hinblick darauf zu
würdigen haben, ob in dem Angeklagten noch in
größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam
waren (vgl. BGHSt 36, 37, 40).
Harms Häger Gerhardt Brause Schaal
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