BGH,
Urt. v. 21.10.2004 - 3 StR 226/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
3 StR 226/04
vom
21. Oktober 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags u. a.
- 2 -
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21.
Oktober
2004, an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesgerichtshof
Winkler
als Vorsitzender,
die Richter am Bundesgerichtshof
Pfister,
von Lienen,
Becker,
Hubert
als beisitzende Richter ,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wir d das Urteil des Land-
gerichts Hannover vom 30. Oktober 2003, soweit es den Ange-
klagten S. betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Dem Angeklagten liegt zur Last, zwei Menschen vorsätzlich
erschossen
und sich deshalb wegen Totschlags in zwei rechtlich zusammentreffenden
Fäl-
len strafbar gemacht zu haben. Das Landgericht hat die
tödlichen Schüsse als
dur ch Notwehr gerechtfer tigt angesehen und den Angeklagten wegen
Besitzes
einer halbautomatischen Kurzwaffe zu einer Freiheitsstrafe von einem
Jahr mit
Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Hiergegen wendet
sich die Staats-
anwaltschaft mit ihrer - vom Generalbundesanwalt vertretenen -
Revision, die
mit der Rüge der Verletzung sachlichen Rechts die
Beweiswürdigung bean-
standet.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Die Strafkammer hat folgende Feststellungen getroffen:
- 4 -
Der Angeklagte sowie der frühere Mitangeklagte Sh.
verabredeten
mit J. und R. ein Treffen am Goetheplatz in Hannover. Da er zuvor
von J. und R. beleidigt und mit dem Tode bedroht worden war, be-
waffnete sich der Angeklagte aus Angst mit einer halbautomatischen
Kurzwaf-
fe. Am Treffpunkt zog J. beim Aussteigen aus einem Pkw Audi eine halbau-
tomatische Selbstladepistole, richtete sie auf den Angeklagten und ging
ge-
meinsam mit R. schnellen Schrittes auf diesen zu. Der Angeklagte, der
die Waffe in der Hand des J. bemerkte und sah, daß R. in
seine Klei-
dung griff, ging davon aus, diese würden sogleich auf ihn
schießen. Er zog
deshalb seine Schußwaffe, entsicherte sie und richtete sie
auf J. und
R. , die unbeeindruckt weitergingen. Als sie den vorausgehenden Sh.
passiert und sich dem Angeklagten bis auf eine Entfernung von zwei
Metern
genähert hatten, gab dieser innerhalb von ca. zehn Sekunden in
Verteidi-
gungsabsicht sieben Schüsse ab, um J. und R. zu
töten. Der durch
einen Rückenschuß verletzte J. flüchtete
und warf seine Schußwaffe in der
Nähe des Tatortes unter einen geparkten Pkw, bevor er kurz
danach zusam-
menbrach. Der von zwei Schüssen in die Brust und den
Unterbauch getroffene
R. brach am Heck des Pkw Audi zusammen. Beide Tatopfer verstarben
an den Folgen der erlittenen Schußverletzungen.
Der Angeklagte und Sh. haben den Sachverhalt im wesentlichen
so
geschildert, wie er festgestellt worden ist. In der
Beweiswürdigung hat das
Landgericht ausgeführt, die Einlassung, die sich durch die
weiteren Ergebnisse
der Beweisaufnahme nicht widerlegen lasse, habe sich jedenfalls
insoweit be-
stätigt, daß J. eine Schußwaffe bei sich
gehabt habe. Daraus lasse sich der
Schluß ziehen, J. habe - wie vom Angeklagten und Sh.
geschildert - die
Schußwaffe gezogen und damit den Angeklagten bedroht. Zur
Abwehr dieses
- 5 -
Angriffs seien die mit direktem Tötungsvorsatz abgegebenen
Schüsse auf R.
und J. erforder lich und geboten gewesen.
2. Die von der Strafkammer angenommene Notwehrlage wird von
den
Feststellungen nicht getragen.
a) Ein tatsächlich bevorstehender
lebensgefährlicher Angriff des R.
auf den Angeklagten scheidet schon deshalb aus, weil dieser -
wie sich aus
dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ergibt - unbewaffnet
war. Die
Befürchtung des Angeklagten, R. werde sogleich aus seiner
Kleidung
eine Schußwaffe hervorholen und auf ihn schießen,
begründet keine objektive
Notwehrlage. Vielmehr kommt beim äußeren Anschein
eines Angriffs lediglich
Putativnotwehr in Betracht, zu deren Voraussetzungen und Folgen sich
das
Urteil nicht verhält.
Die Urteilsgründe belegen nicht, daß der
Angeklagte bei der Schußab-
gabe - dem entscheidenden Zeitpunkt (vgl. BGHR StGB § 32 Abs.
2 Angriff 2) -
irrig von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff des R. auf sein Le-
ben ausging und die lebensgefährlichen Schüsse zur
Abwehr des Angriffs als
letztes Mittel der Verteidigung für erforderlich und geboten
hielt. Nach den
Feststellungen gründete sich die Furcht des Angeklagten, R.
werde so-
gleich eine Schußwaffe ziehen und auf ihn schießen,
auf dessen Griff in die
Kleidung in dem Moment, als er und J. nach Verlassen des Pkw Audi be-
gannen, schnellen Schrittes auf ihn zuzugehen. Das weitere Ver halten
des
R. bei der Annäherung an den Angeklagten, insbesondere ob er
die
Hand weiter in der Kleidung beließ oder - ohne eine Waffe zu
ziehen - wieder
her ausnahm, wird nicht mitgeteilt. Damit bleibt offen, ob der
Angeklagte auch
- 6 -
noch im Zeitpunkt der Schußabgabe mit einem bewaffneten
Angriff des R.
r echnen mußte.
b) Eine objektive Notwehrlage gegenüber J. ist wegen
fehlender
Feststellungen zum Ladezustand der von ihm geführten Pistole
nicht belegt.
Wenn die Waffe ungeladen gewesen sein sollte, hätte J. den
Angeklagten
tatsächlich nicht in lebensbedrohlicher Weise angegriffen.
Dann käme auch
insoweit lediglich Putativnotwehr in der Form eines Irrtums
über das Maß der
erforder lichen Verteidigung in Betracht, mit der sich die
Urteilsgründe nicht be-
fassen.
3. Darüber hinaus er weist sich die
Beweiswürdigung zum festgestellten
Tatgeschehen als rechtsfehlerhaft.
An die Bewertung der Einlassung eines Angeklagten sind die
gleichen
Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel.
Der
Tatrichter darf eine Einlassung, für deren Wahrheitsgehalt
keine zureichenden
Anhaltspunkte bestehen, nicht ohne weiteres als unwiderlegt seiner
Entschei-
dung zugrunde legen. Vielmehr muß er sich seine
Überzeugung von deren
Richtigkeit oder Unrichtigkeit aufgrund des gesamten Ergebnisses der
Beweis-
aufnahme bilden (vgl. BGHSt 34, 29, 34; BGHR StPO § 261
Einlassung 6;
Überzeugungsbildung 29; BGH NStZ 2002, 48). Diesen
Anforderungen wird
das angefochtene Urteil nicht gerecht.
a) Bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit und
Schlüssigkeit der Einlassung
hat die Strafkammer mehr ere Indizien, die auf einen von der Einlassung
des
- 7 -
Angeklagten abweichenden Geschehensablauf hinweisen, nicht oder nur
lückenhaft erörtert.
aa) Den Rückenschuß des J. hat die Strafkammer
pauschal mit sei-
nen möglichen Bewegungen im Rahmen des Tatablaufs
erklärt. Dabei hat es
die naheliegende Möglichkeit nicht ausr eichend
berücksichtigt, daß sich J.
aufgrund der Bedrohung durch den Angeklagten mit der
Schußwaffe oder nach
vorausgegangenen Schüssen auf R. bereits zur Flucht gewendet
haben
könnte und deshalb im Rücken getroffen wurde. In
diesem Fall hätte J. den
vom Angeklagten zunächst befürchteten
lebensgefährlichen Angriff erkennbar
aufgegeben, so daß zum Zeitpunkt der Schußabgabe
keine (Putativ-) Notwehr-
lage mehr bestanden hätte (vgl. BGH NJW 1979, 2053;
Lenckner/Perron in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 32 Rdn.
16). Auf einen solchen Gesche-
hensablauf könnte auch hindeuten, daß J. nach den
Feststellungen von
seiner Schußwaffe keinen Gebrauch gemacht hat.
bb) Auch den Fundort der Leiche des R. , der gegen den vom An-
geklagten geschilderten Geschehensablauf sprechen könnte, hat
die Straf-
kammer nicht erkennbar in ihre Überlegungen einbezogen.
Einerseits ist fest-
gestellt, daß J. und R. nach dem Aussteigen aus dem Pkw Audi
schnellen Schrittes - wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der
Urteilsgrün-
de ergibt eine nicht unerhebliche Wegstr ecke - auf den Angeklagten
zugegan-
gen waren, bevor dieser schoß. Andererseits brach R. , der
nach dem
Gutachten des Sachverständigen Dr. G. infolge seiner
Schußverletzun-
gen sehr schnell handlungsunfähig war, am Heck des Fahrzeugs
zusammen,
wo er kurze Zeit später verstarb. Dies hätte
Anlaß zur Er örter ung geben müs-
sen, ob R. noch in der Lage war, vom angenommenen Schußort
zum
Pkw zurückzugelangen und ob der Lageort der Leiche nicht eher
mit einem
- 8 -
Geschehensablauf vereinbar ist, bei dem auf ihn geschossen wurde, als
er sich
in der Nähe des Pkw Audi befand. Dafür
könnte auch die Zerstörung der hinte-
ren rechten Seitenscheibe des Fahrzeugs durch einen Schuß
sprechen.
cc) Das Landger icht erörtert ferner nicht, ob sich Zweifel an
der Richtig-
keit der Einlassung des Angeklagten aus der Position des Mitangeklagten
Sh.
zum Zeitpunkt der Schußabgabe ergeben. Danach ging
der unbewaffnete
Sh. - leicht versetzt vor dem Angeklagten laufend - auf J. und R.
zu. Der Angeklagte schoß erst, nachdem Sh. diese passiert
hatte und sich
hinter den Tatopfern in deren Nähe befunden haben
muß. Damit befand sich
der mit dem Angeklagten befreundete Sh. im Schußfeld und war
durch die in
schneller Folge abgegebenen Schüsse im höchsten
Maße gefährdet.
dd) Nach den Feststellungen flüchtete der im
Rücken getr offene J.
in Richtung Goetheplatz. Weil er dabei an dem Angeklagten, der zuvor
auf ihn
geschossen hatte, vorbeigehen mußte, hätte sich das
Landgericht damit aus-
einandersetzen müssen, daß ein solcher
Geschehensablauf wenig plausibel
ist.
b) Die Strafkammer durfte sich bei ihr er
Beweiswürdigung nicht dar auf
beschränken, einzelne Belastungsindizien nur gesondert zu
erörtern und auf
ihren jeweiligen Beweiswer t zu überprüfen. Denn
Belastungsindizien, die für
sich genommen nicht geeignet sind, die Einlassung des Angeklagten zu
wider-
legen, können doch in ihrer Gesamtheit dem Gericht die
Überzeugung eines
bestimmten, von der Einlassung abweichenden Geschehensablaufs
vermitteln
(vgl. BGHR StPO § 261 Einlassung 6 und
Beweiswürdigung, unzureichende 1;
BGH NStZ 2000, 86). Deshalb bedarf es einer Gesamtschau aller
für und ge-
gen den Angeklagten sprechenden Umstände.
- 9 -
- 10 -
4. Da ein Tötungsdelikt zum Nachteil von J. und R. mit dem
Besitz einer halbautomatischen Kurzwaffe in Tateinheit stehen
würde, war das
Urteil insgesamt mit den Feststellungen aufzuheben.
Winkler Pfister von Lienen
Becker Hubert
|