BGH,
Urt. v. 21.10.2008 - 1 StR 292/08
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 292/08
vom
21. Oktober 2008
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
- 2 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 21.
Oktober 2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
Staatsanwältin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt - in der Verhandlung -
als Verteidiger,
Justizangestellte - in der Verhandlung - und
Justizangestellte - bei der Verkündung -
als Urkundsbeamtinnen der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Stuttgart vom 21. Januar 2008 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts Stuttgart zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der
gefährlichen Körperverletzung aus
tatsächlichen Gründen freigesprochen. Gegen diesen
Freispruch richtet sich die Revision der Staatsanwaltschaft, welche vom
Generalbundesanwalt vertreten wird, mit der Sachrüge.
1
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
I.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
3
Der Angeklagte bewohnte gemeinsam mit dem Geschädigten S. das
Doppelzimmer Nr. 24 des Männerwohnheims der C. in Stutt-
4
- 4 -
gart. Zwischen ihnen bestand ein freundschaftliches
Verhältnis. Der Angeklagte unterstützte S. in
privaten sowie behördlichen Angelegenheiten und hat ihm auch
den Platz im Wohnheim beschafft. Beide sind dem Trinkermilieu
zuzurechnen.
Am Vormittag des 2. Juni 2007 erhielten sie Besuch von dem Mitbewohner
K. , der ebenfalls "russlanddeutscher Aussiedler" war und sich mit S.
angefreundet hatte. Das Verhältnis des Angeklagten zu K. war
dagegen aufgrund nicht aufgeklärter Vorfälle
belastet. Die drei Personen tranken im Zimmer eine 0,7 Liter fassende
Flasche Wodka aus.
5
Um die Mittagszeit - nach 11.30 Uhr - verließen S. und K. das
Wohnheim, während der Angeklagte allein im Zimmer 24
zurückblieb. Die beiden suchten eine Tankstelle auf, wo sie
eine weitere Flasche Wodka und einige Flaschen Bier konsumierten, die
S. , der am Tag zuvor sein Arbeitslosengeld II erhalten hatte,
bezahlte. Im Laufe des Nachmittags - der genaue Zeitpunkt
ließ sich nicht feststellen - kehrten sie ins Wohnheim
zurück. S. war so betrunken, dass er nur von K.
gestützt sein Zimmer erreichen konnte. Die dem später
Geschädigten um 19.30 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine
Blutalkoholkonzentration von 4,2 ‰. Es konnte nicht
festgestellt werden, ob der Angeklagte bei der Rückkehr S. s
sich in ihrem Zimmer aufhielt. K. ging in sein eigenes Zimmer Nr. 20.
6
Der Angeklagte kaufte sich um 15.37 Uhr in einem Kiosk am Stuttgarter
Hauptbahnhof zwei Schachteln der von ihm gerauchten Zigarillos der
Marke "Basic Blue". Die Uhrzeit ergibt sich aus den Aufzeichnungen der
Registrierkasse. Der Weg vom Wohnheim dorthin beträgt ca. zehn
Gehminuten.
7
Am Nachmittag des 2. Juni 2007 vor 17.45 Uhr wurde der Zeuge S. von
einer unbekannten Person in seinem Zimmer angegriffen und schwer
8
- 5 -
verletzt. Es bestand akute Lebensgefahr. Er erlitt eine stark blutende,
doppelte offene Unterkiefer- sowie Nasenbeinfraktur und verschiedene
Schürfwunden. Außerdem wurde er am Hals mit einem
kabelartigen Gegenstand, dessen Adern teilweise freilagen, gedrosselt,
wodurch im Halsbereich deutlich sichtbare Strangmarken entstanden. Ein
Stahldraht - ein Teil des Tatwerkzeugs - wurde am 5. Juni 2007 in der
Nähe des Bettes des Angeklagten unter dort abgestellten
Badezimmerpantoffeln aufgefunden.
Der verletzte S. wurde am Tattag gegen 17.45 Uhr vom Pförtner
L. in nicht ansprechbarem, blutverschmiertem Zustand, auf einem
Treppenabsatz liegend, vorgefunden. Mit Hilfe eines weiteren Bewohners
brachte dieser ihn zurück in sein Zimmer. Herbeigerufene
Polizeibeamte, Rettungssanitäter und Notarzt hielten sich dort
von ca. 18.00 Uhr bis 19.05 Uhr auf. In diesem Zeitraum war der
Angeklagte nicht im gemeinsam bewohnten Zimmer. Der
Geschädigte wurde ins Krankenhaus verbracht und auf der
Intensivstation behandelt.
9
Um 20.20 Uhr versuchten Kriminalbeamte, die inzwischen den Fall
übernommen hatten, die Tür zum Zimmer 24 mit einem
überlassenen Schlüssel zu öffnen. Sie trafen
in dem von innen verschlossenen Raum den Angeklagten an und nahmen ihn
mit zur Kriminalwache. Die Beamten hatten mehrere
blutverdächtige Antragungen an Hemd und Hose des Angeklagten
festgestellt. Die sachverständig beratene Kammer gelangt auf
der Grundlage eines molekular-genetischen Gutachtens zu der
Überzeugung, dass diese Blutspuren vom Geschädigten
S. herrühren.
10
2. Der gegen den Angeklagten sprechende Tatverdacht beruht auf
folgenden Erkenntnissen:
11
- 6 -
a) Die wechselnden Einlassungen des einschlägig vorbestraften
Angeklagten:
12
Gegenüber KOK T. gab er am Tattag um 20.20 Uhr an, er habe
gegen 18.00 Uhr das Wohnheim verlassen. Zu dem Zeitpunkt sei es S. noch
gut gegangen. Vor dem Haftrichter führte er aus, als er gegen
16.30 Uhr das Wohnheim verlassen habe, seien S. und K. bereits
zurück gewesen. In der Hauptverhandlung ließ er sich
dahin ein, er habe S. am Tattag nicht mehr gesehen, nachdem dieser mit
K. fortgegangen sei. Er selbst habe das Wohnheim gegen 15.00 Uhr
verlassen, habe nach dem Zigarillokauf noch zwei Bekannte getroffen und
sei um 18.30 Uhr in das Zimmer zurückgekehrt. Zu dem Zeitpunkt
sei niemand darin gewesen. Beim Haftrichter sei er falsch verstanden
worden.
13
b) Die Blutspuren des Geschädigten auf Hemd und Hose des
Angeklagten:
14
In der Hauptverhandlung hat der Angeklagte sich ferner dahin
eingelassen, das Blut des Geschädigten auf seiner Kleidung sei
dadurch zu erklären, dass S. am Vormittag des Tattages in
einem Krampfanfall mit dem Kopf auf den Tisch geschlagen sei und
Nasenbluten bekommen habe. Hierbei müsse er selbst mit dem
Blut des Geschädigten in Kontakt gekommen sein. Nach den
Ausführungen des Sachverständigen B. sind die
Blutspuren nicht mit einem Nasenbluten zu vereinbaren, weil es sich um
Spritzspuren handele.
15
3. Das Landgericht hat sich nicht von der Täterschaft des
Angeklagten zu überzeugen vermocht.
16
a) Die wechselnden Einlassungen des Angeklagten sieht es zwar
hinsichtlich der zeitlichen Einordnung seines Verlassens und seiner
Rückkehr zum
17
- 7 -
Wohnheim als widerlegt an, zumal auch die benannten Bekannten sich an
ein Treffen mit dem Angeklagten nicht erinnern konnten. Gleichwohl ist
das Landgericht der Auffassung, dass nicht ausgeschlossen werden
könne, die Tat sei in der Abwesenheit des Angeklagten von
mindestens einer halben Stunde, die er zum Zigarillokauf um 15.37 Uhr
gebraucht habe, begangen worden.
b) Die Blutspuren, bei denen auch das Landgericht von Spritzspuren
ausgeht, die nicht von einem Nasenbluten herrühren, seien
"nicht geeignet die volle Überzeugung der Kammer von der
Täterschaft des Angeklagten zu begründen, da das
Alter dieser Blutantragungen nicht geklärt werden konnte". In
diesem Zusammenhang führt die Kammer u.a. aus, im
Trinkermilieu, dem der Angeklagte und S. zuzuordnen seien,
stünden Sauberkeit und Hygiene nicht an erster Stelle, sodass
nicht damit gerechnet werden könne, dass
Kleidungsstücke regelmäßig gewaschen
werden. Deshalb sei "es nicht nur nicht auszuschließen,
sondern sogar zu einem gewissen Grad wahrscheinlich", dass die auf der
Kleidung des Angeklagten gefundenen Blutspuren des
Geschädigten schon älter seien.
18
c) Den aufgefundenen Stahldraht hat der Sachverständige B. als
Teil des Tatwerkzeugs qualifiziert, weil sich mit diesem zwar nicht
alle am Hals des Geschädigten festgestellten Strangmarken
erklären ließen, jedoch ein großer Teil.
Die molekulargenetische Untersuchung dieses Stahldrahtstückes
hat eine Mischspur von zumindest zwei Personen ergeben, die im
Hauptspurenanteil dem Geschädigten zuzuordnen ist. Der
Angeklagte war aber als Mischspurenverursacher sicher
auszuschließen. Nach Meinung der Kammer liege es nicht fern,
dass der zweite Verursacher, eine unbekannte Person, der Täter
der Körperverletzung sei. Sie könne mit Sicherheit
ausschließen, dass nach der Tat jemand mit dem
Stahldrahtstück in Berührung gekommen sei, da das
Zimmer nach dem Antreffen des Angeklagten um 20.20 Uhr des Tattages von
den Kri-
19
- 8 -
minalbeamten verschlossen und danach von niemandem mehr betreten worden
sei.
d) Ein beim Angeklagten bestehendes Motiv "sei nicht zu erkennen". Es
spreche nichts dafür, dass es vor der Tat zu einem Bruch im
guten Verhältnis zwischen dem Angeklagten und S. gekommen sei.
Bei dieser Sachlage sei "das fehlende Motiv des Angeklagten als ein ihn
nicht unerheblich entlastender Gesichtspunkt zu bewerten".
20
II.
Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher
Prüfung nicht stand.
21
1. Spricht das Gericht einen Angeklagten frei, weil es Zweifel an
seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so ist
dies durch das Revisionsgericht in der Regel hinzunehmen. Die
Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht
darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders
würdigt oder Zweifel überwunden hätte. Daran
ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom Tatrichter
getroffene Feststellung "lebensfremd" erscheinen mag.
Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann
rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden
Ansatz ausgeht (z.B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des
Zweifelssatzes), wenn sie lückenhaft ist, namentlich
wesentliche Feststellungen nicht erörtert, wenn sie
widersprüchlich oder unklar ist, gegen Gesetze der Logik oder
gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder
wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit
überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl.
etwa Senat, Urt. vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06; BGH NJW 2005, 1727;
BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 33, jew. m.w.N.).
22
- 9 -
2. Das Landgericht hat umfänglich die den Angeklagten
belastenden Indizien sowie die ihn entlastenden Umstände
aufgelistet und gewürdigt. Gleichwohl werden die
Abwägungen den vorstehenden Grundsätzen nicht in
vollem Umfang gerecht. Insbesondere hat das Landgericht den
Zweifelssatz rechtsfehlerhaft angewendet.
23
Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu
Gunsten des Angeklagten Tatvarianten zu unterstellen, für
deren Vorliegen keine zureichende Anhaltspunkte erbracht sind (vgl. nur
BVerfG, Beschl. vom 8. November 2006 - 2 BvR 1378/06; BGH NStZ-RR 2003,
371; NStZ 2004, 35, 36; NJW 2007, 2274). Der Grundsatz "in dubio pro
reo" ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel, die das
Gericht erst dann zu befolgen hat, wenn es nach abgeschlossener
Beweiswürdigung nicht die volle Überzeugung von der
Täterschaft des Angeklagten zu gewinnen vermag. Auf einzelne
Elemente der Beweiswürdigung ist er grundsätzlich
nicht anzuwenden (Senat, Urt. vom 22. Mai 2007 - 1 StR 582/06).
Keinesfalls gilt er für entlastende Indiztatsachen (st. Rspr.;
vgl. nur BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 24 m.w.N.).
24
a) Das Landgericht hatte u.a. als besonders gewichtiges Belastungsindiz
zu prüfen, ob die dem Geschädigten zuzuordnenden
Blutspuren auf Hemd und Hose des Angeklagten dessen
Täterschaft belegen können. Soweit es eine vor der
Tat liegende Entstehung der Blutspuren in Form von Spritzspuren unter
Hinweis auf das Trinkermilieu und die in Augenschein genommenen Fotos
des Tatortes, die ein vermülltes und unaufgeräumtes
Zimmer zeigen, für wahrscheinlich hält, fehlt es an
jeglichen Anknüpfungstatsachen, zumal nicht festgestellt
werden konnte, wann die betreffenden Kleidungsstücke zuletzt
gewaschen oder gereinigt wurden. Das Landgericht hat
ausdrücklich dargelegt, dass sich frühere
Übergriffe des Angeklagten auf den Geschädigten nicht
feststellen ließen. Der Sachverständige hat Kontakt-
oder Tropfspuren ausgeschlossen, das
25
- 10 -
Blut müsse vielmehr auf die Kleidungsstücke gespritzt
sein. Das spricht für eine massive Gewalteinwirkung und nicht
etwa für eine bloße Verletzung im Alltag. Es gibt
keinen Erfahrungssatz dahin, dass im Trinkermilieu Blutanhaftungen in
Form von Spritzspuren üblicherweise entstehen. Bei der
früheren Entstehung handelt es sich daher um eine rein
denktheoretische Möglichkeit ohne verlässliche
Tatsachengrundlage. Der Angeklagte selbst hat sich auf eine Entstehung
vor dem Tattag nicht berufen. Seine Einlassung, die Ursache sei in
einem Nasenbluten des Geschädigten zu sehen, wurde widerlegt.
Allein das Landgericht hat zu Gunsten des Angeklagten eine
frühere Entstehung angenommen, was besorgen lässt,
dass der Zweifelssatz auf eine einzelne Indiztatsache angewendet wurde.
Dafür spricht auch die Formulierung, die Blutspuren seien
nicht geeignet, die volle Überzeugung der Kammer von der
Täterschaft des Angeklagten zu begründen.
b) Im Rahmen der Motivprüfung stellt die Kammer fest, ein
Motiv für einen Angriff auf S. sei beim Angeklagten "nicht zu
erkennen". Daraus zieht sie zu Gunsten des Angeklagten den Schluss, ein
Motiv "fehle", was sie als einen ihn nicht unerheblich entlastenden
Gesichtspunkt bewertet. Bei diesem Schluss wurde der Zweifelssatz - was
hier durchgreifend rechtsfehlerhaft ist - auf ein einzelnes Indiz, das
Tatmotiv, angewendet. Das Landgericht konnte nämlich ein
Tatmotiv lediglich "nicht erkennen", hat daraus aber gleichwohl den
Schluss gezogen, dass ein Tatmotiv "fehle". Ein bloß
unaufklärbares Motiv ist aber nicht gleichbedeutend mit einem
tatsächlich fehlenden Tatmotiv, welches in der Tat ein nicht
unerhebliches Entlastungsindiz wäre.
26
- 11 -
3. Im Übrigen wird zur weiteren Begründung auf die
Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift
Bezug genommen.
27
III.
Die Sache muss somit neu verhandelt und entschieden werden.
28
Nack Wahl Kolz
Hebenstreit Elf |