BGH,
Urt. v. 21.9.2000 - 1 StR 257/00
StPO § 247 Satz 1, § 338 Nr. 5
BGB § 1896, § 1897
Eine Entfernung des Angeklagten gemäß § 247
Satz 1 StPO kann nicht darauf gestützt werden, daß
ein gemäß § 1897 BGB bestellter Betreuer
der Vernehmung des Betreuten in Anwesenheit des Angeklagten
widersprochen hat.
BGH, Urteil vom 21. September 2000 - 1 StR 257/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 257/00
vom
21. September 2000
in der Strafsache gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs widerstandsunfähiger
Personen u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung
vom 19. September 2000 in der Sitzung am 21. September 2000, an denen
teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Dr.
Schäfer und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Maul, Nack,
Dr. Wahl, Schluckebier, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt Rechtsanwalt - in der Hauptverhandlung
vom 19. September 2000 - als Verteidiger, Rechtsanwältin - in
der Hauptverhandlung vom 19. September 2000 - als Vertreterin der
Nebenklägerin G. , Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Mosbach vom 8. Dezember 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine Strafkammer des
Landgerichts Karlsruhe zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs Widerstandsunfähiger in drei
Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch von Hilfsbedürftigen, zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Nach den
Feststellungen des Landgerichts hat der die Vorwürfe
bestreitende Angeklagte im November 1997 und im April 1998 an insgesamt
drei geistig behinderten Heimbewohnerinnen - an L. , K. und der
Nebenklägerin G. -, die ihm zur Betreuung anvertraut waren,
sexuelle Handlungen vorgenommen. Die Revision des Angeklagten hat mit
der Verfahrensrüge Erfolg.
1. Das Landgericht hat während der Vernehmung der
Nebenklägerin G. gegen seine Pflicht verstoßen, in
Anwesenheit des Angeklagten zu verhandeln (§ 230 Abs. 1 StPO).
Dieser Rechtsfehler stellt einen absoluten Revisionsgrund nach
§ 338 Nr. 5 StPO dar.
Dem liegt folgendes zugrunde: Die Strafkammer hat den Angeklagten
während der Vernehmung der Nebenklägerin aus dem
Sitzungssaal entfernt. Dies wurde damit begründet,
daß die Eltern dieser geistig behinderten (erwachsenen)
Zeugin als deren Betreuer einer Vernehmung in Anwesenheit des
Angeklagten widersprochen hätten; dies führe dazu,
daß ohne die Entfernung die Wahrheitsermittlung behindert
wäre, weil eine Vernehmung ansonsten überhaupt nicht
möglich sei. Auf eine Gefahr für die Gesundheit der
Zeugin stellt der Beschluß nicht ab.
Nach der danach angewandten Bestimmung § 247 Satz 1 StPO ist
eine vorübergehende Entfernung des Angeklagten aus dem
Sitzungssaal zulässig, "wenn zu befürchten ist, ...
ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die
Wahrheit nicht sagen." Diese Voraussetzung für einen
Angeklagtenausschluß ist z.B. auch erfüllt, wenn ein
zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigter Zeuge erklärt,
daß er nur in Abwesenheit des Angeklagten aussagen wolle; ein
solcher Zeuge, der unter dem Druck der Anwesenheit des Angeklagten von
seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen droht, will dann
überhaupt nichts mehr, also auch die Wahrheit nicht sagen
(BGHSt 22, 18, 21).
Hier sind die Voraussetzungen des § 247 Satz 1 StPO aber nicht
gegeben. Ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht stand der Zeugin
G. nicht zu, so daß auch das Zustimmungserfordernis der
Eltern bzw. Betreuer nach § 52 Abs. 2 StPO nicht eingreift.
Auch aufgrund ihrer Stellung als Betreuer, die u.a. das
Aufenthaltsbestimmungsrecht umfaßt, hatten die Eltern keine
rechtliche Möglichkeit, eine Zeugenaussage ihrer Tochter zu
verhindern. Für die Besorgung durch einen Betreuer kommen
nämlich solche höchstpersönliche
Angelegenheiten nicht in Betracht, die nicht durch einen Vertreter
vorgenommen werden können, wie z.B. die Vernehmung als Zeuge
(Bienwald, Betreuungsrecht 3. Aufl. § 1896 BGB Rdn. 216 und
§ 1902 BGB Rdn. 27).
Die Vernehmung geistig erkrankter Zeugen in der Hauptverhandlung ist
auch nicht generell ausgeschlossen. Wollen sie nicht zur Verhandlung
kommen, so können sie notfalls gemäß
§ 51 Abs. 1 Satz 2 StPO zwangsweise vorgeführt
werden, da die Vorführung nicht die Ahndung eines
Verstoßes gegen einen Gesetzesbefehl bezweckt, sondern dazu
dient, das Erscheinen des Zeugen vor Gericht sicherzustellen (Dahs in
LR 25. Aufl. vor § 48 Rdn. 23 und § 51 Rdn. 2;
Eisenberg, Beweisrecht der StPO 3. Aufl. Rdn. 1001). Für die
Nebenklägerin gelten mithin die allgemeinen Regelungen, wonach
Zeugen die Pflicht haben, vor Gericht zu erscheinen und
wahrheitsgemäß auszusagen (Dahs aaO vor §
48 Rdn. 6).
Zwar hat der Bundesgerichtshof bei einer lediglich mangelhaften
Begründung für die Entfernung des Angeklagten aus dem
Sitzungssaal eine Revisionsrüge nach §§ 338
Nr. 5, 247 StPO nicht durchgreifen lassen, wenn mit Sicherheit
festgestellt werden kann, daß die sachlichen Voraussetzungen
des § 247 StPO vorgelegen haben und vom Gericht nicht verkannt
worden sind (BGH StV 1987, 5, 6). Aber zum einen liegt hier weder eine
Gefährdung der Wahrheitsfindung noch eine Gesundheitsgefahr
für die Zeugin klar auf der Hand. Die Zeugin beschreibt die
dem Angeklagten vorgeworfene sexuelle Handlung nämlich als
für sie angenehm und sie hat den Angeklagten immer noch "sehr
gern". Zum anderen ist § 247 Satz 1 StPO als
Ausnahmevorschrift eng auszulegen und sein Anwendungsbereich streng auf
den Wortlaut des Gesetzes zu beschränken; der zeitweise
Ausschluß des Angeklagten ist stets durch
Gerichtsbeschluß anzuordnen, der sich nicht auf eine
bloß förmliche Begründung
beschränken darf; bleibt - wie hier - wegen des Fehlens einer
ausreichenden Begründung zweifelhaft, ob das Gericht von
zulässigen Erwägungen ausgegangen ist, so ist der
unbedingte Revisionsgrund nach § 338 Nr. 5 StPO gegeben (BGHSt
22, 18, 20).
2. Zudem beanstandet der Angeklagte zu Recht seine Entfernung aus der
Hauptverhandlung während der Vernehmung der Zeugin K. .
Insoweit hat die Strafkammer die Entfernung des Angeklagten aus dem
Sitzungssaal zum einen damit begründet, daß sie
erforderlich sei, um die Gefahr einer Gesundheitsschädigung
der Zeugin auszuschließen. Zum anderen stünde zu
befürchten, daß anderenfalls die Wahrheitsfindung
beeinträchtigt wäre. Die für die
Gesundheitsfürsorge und Aufenthaltsbestimmung
zuständige Betreuerin der Zeugin habe darum gebeten,
daß der Angeklagte während der Vernehmung den Saal
verlasse. Ohne Ausschluß des Angeklagten sei danach die
Wahrheitsfindung gefährdet, weil mit rechtlichen Mitteln nicht
verhindert werden könne, daß die Betreuerin
anderenfalls eine Vernehmung der Zeugin vollständig verhindere.
Hinsichtlich der Gefährdung einer wahren Aussage stellt die
Kammer - wie oben dargestellt - zu Unrecht auf eine angeblich
erforderliche Mitwirkung der Betreuerin ab. Zudem reicht eine
bloße Bitte, daß die Vernehmung in Abwesenheit des
Angeklagten vorgenommen wird, in keinem Fall aus (BGH NStZ 1999, 419,
420).
Die Kammer stützt den Ausschluß zusätzlich
auf eine Gesundheitsgefährdung der Zeugin (§ 247 Satz
2 Fall 2 StPO). Eine weitere Begründung, insbesondere zur
Dringlichkeit der Gefahr und zur Schwere der drohenden gesundheitlichen
Nachteile enthält der Beschluß aber nicht. Die
erforderliche substantiierte Begründung wäre
allenfalls dann entbehrlich gewesen, wenn
- anders als im vorliegenden Fall - evident gewesen wäre,
daß die Voraussetzungen des § 247 StPO vorgelegen
haben (BGH StV 2000, 120). Trotz der im Regelfall für das
Opfer mit psychischen Beeinträchtigungen verbundenen
vorliegenden Deliktsart (Sexualdelikt) und der geistigen Behinderung
der Zeugin kann das Vorliegen einer "dringenden" Gefahr eines
"schwerwiegenden" Nachteils für die Gesundheit der Zeugin hier
vom Revisionsgericht nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Dabei
ist zu bedenken, daß die dem Angeklagten vorgeworfene Tat zum
Nachteil dieser Zeugin auch ausweislich des Strafmaßes
(Geldstrafe) kein sehr großes Gewicht hatte (über
der Kleidung Griff an die Brust) und bereits zwei Jahre
zurücklag.
3. Zwar betreffen die vorstehenden Verfahrensfehler unmittelbar
lediglich die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten zum Nachteil der
K. und der G. . Eine bloße Teilaufhebung des Urteils (vgl.
BGH, Beschluß vom 30. März 2000 - 4 StR 80/00,
insoweit nicht abgedruckt in NStZ 2000, 440; Kuckein in KK-StPO
§ 338 Rdn. 6) kam hier aber nicht in Betracht, weil nicht
ausgeschlossen werden kann, daß die Verurteilung auch
hinsichtlich der Tat zum Nachteil der L. auf den vorgenannten
Verfahrensfehlern beruht. Eine Überführung oder ein
Freispruch des Angeklagten hinsichtlich der beiden Fälle aus
dem November 1997 haben auch eine Indizfunktion hinsichtlich des
weitgehend gleichgelagerten dritten Tatvorwurfs.
4. Eines näheren Eingehens auf die weiteren
Verfahrensrügen bedarf es daher nicht. Doch besteht
Anlaß zur Behandlung des Antrags auf Einholung eines weiteren
Glaubhaftigkeitsgutachtens durch das Landgericht auf folgendes
hinzuweisen:
Hinsichtlich der Begutachtung der Glaubhaftigkeit der Angaben der
Zeuginnen L. und K. stützt die Strafkammer ihre Entscheidung
ersichtlich - eine ausdrückliche Erörterung fehlt in
dem Beschluß - auf § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO, indem
sie davon ausgeht, daß durch das frühere Gutachten
das Gegenteil der in dem Beweisantrag behaupteten Tatsache bereits
erwiesen sei. Mit den gegen die Sachkunde des gehörten
Gutachters vorgebrachten Einwänden hat sich das Landgericht
eingehend und ohne Rechtsfehler auseinandergesetzt. Hinsichtlich der
Begutachtung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin G. hatte der
gehörte Sachverständige dagegen ausgeführt,
daß aus aussagepsychologischer Sicht nicht mehr mit der
erforderlichen Gewißheit davon ausgegangen werden
könne, daß G. die von ihr geschilderten Handlungen
des Angeklagten tatsächlich selbst erlebt hat. Auch
hinsichtlich dieser Beurteilung hat das Landgericht die Sachkunde des
Sachverständigen rechtsfehlerfrei nicht in Frage gestellt.
5. Es erschien dem Senat angemessen, die Sache gemäß
§ 354 Abs. 2 Satz 1 Fall 2 StPO an ein anderes Landgericht
zurückzuverweisen.
Schäfer Maul Nack
Wahl Schluckebier |