BGH,
Urt. v. 22.7.2004 - 5 StR 154/04
5 StR 154/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 22. Juli 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Körperverletzung mit Todesfolge u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 22. Juli
2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin
als Verteidigerin,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 20. November 2003 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten dadurch
entstandenen notwendigen Auslagen fallen der
Staatskasse zur Last.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen vorsätzlicher
Körperverletzung
(Einzelfreiheitsstrafe sechs Monate) und wegen
Körperverletzung mit
Todesfolge (Einzelfreiheitsstrafe ein Jahr und zehn Monate) zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe
von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung
ausgesetzt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat ihre dagegen zum
Nachteil der Angeklagten zunächst unbeschränkt
eingelegte Revision wirksam
auf die wegen der Körperverletzung mit Todesfolge
verhängte Strafe
beschränkt. Dem Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt
vertreten
wird, bleibt der Erfolg versagt.
I.
Das Landgericht hat im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
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Die 25 Jahre alte Angeklagte wuchs unter schwierigen Lebensbedingungen
ohne eine Halt gebende feste Bezugsperson auf und war nur vermindert
fähig, sozialen Belastungssituationen in der allgemein
üblichen Weise
zu begegnen. Im Februar 2002 lernte die Angeklagte ihren jetzigen
Lebensgefährten
kennen, während sich ihr Zuhälter in Haft befand.
Drei Monate
später wurde die Angeklagte schwanger. Am 2. März
2003 wurde ihr Sohn
M - drei Wochen zu früh - geboren. Obwohl er sich normal
entwickelte,
schrie er viel. Von ihrem Lebensgefährten erfuhr die
Angeklagte bei der
Betreuung ihres Kindes keine Unterstützung.
Am 23. Mai 2003 ertrug die Angeklagte das Schreien ihres Sohnes
nicht mehr. „Um das Kind zur Ruhe zu bringen, entschied sie
sich spontan,
einen Schmerz zu setzen. Sie packte M am linken Bein und drehte es
so grob nach außen, daß der Körper des auf
dem Wickeltisch liegenden Kindes
herumgeschleudert wurde“ (UA S. 11 f.). Durch die heftige
Drehung erlitt
M einen Spiralbruch des linken Oberschenkelknochens, der bis zum
6. Juni 2003 im Krankenhaus versorgt wurde. Die Angeklagte hegte
Schuldgefühle
gegenüber ihrem Sohn und vereinbarte beim
Jugendgesundheitsdienst
einen Hausbesuch. Eine Kinderärztin und eine Sozialarbeiterin
erklärten
der Angeklagten am 11. Juni 2003, daß der kleine M durch sein
Schreien die Mutter nicht ärgern wolle. Ihr Sohn
könne sich noch nicht anders
ausdrücken.
Am 13. Juni 2003 wollte die Angeklagte ihren schreienden und die
Nahrung verweigernden Sohn mit einer Spazierfahrt beruhigen. M
schrie weitere 20 Minuten, während derer sich die Angeklagte
auf die Ausfahrt
vorbereitete. „Die Angeklagte verstand erneut nicht, warum
das Kind
immer schrie, warum es nicht mit dem zufrieden war, was sie ihm bot,
warum
es sich nicht endlich anpaßte und aufhörte, seinen
Unwillen zu zeigen. Sie
war der Meinung, doch alles für ihr Kind zu tun, es gut zu
versorgen und zu
pflegen, und wußte nicht, was sie darüber hinaus
noch tun sollte. Weil es ihr
persönlichkeitsbedingt an
Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse des
Kin-
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des mangelte, fühlte sie sich durch das als Kritik empfundene
Schreien in
ihrer Lebenssituation als Hausfrau und Mutter, mit der sie sich ohnehin
nur
bedingt identifizieren konnte, irritiert und überfordert. Sie
wollte, daß ihr Sohn
aufhören möge zu schreien, und wollte ihn
‚zur Raison‘ bringen. Spontan und
unbeherrscht faßte sie das im Wagen liegende Kind an den
Oberarmen und
schüttelte es dort zwei- bis dreimal heftig vor und
zurück (...). Durch die ruckartigen
Bewegungen des Kopfes, der durch die noch nicht ausgebildete
Muskulatur des Säuglings bei den Schüttelbewegungen
keinen Halt fand,
rissen zahlreiche Brückenvenen im Gehirn“ (UA S. 13
f.). Es kam zu inneren
Einblutungen und wahrscheinlich zu einer Quetschung des
Rückenmarks,
wodurch das Atemzentrum geschädigt wurde. M wurde sofort
bewußtlos
und röchelte. Trotz sofortiger ärztlicher Hilfe
verstarb das Kind am 20. Juni
2003.
Das Landgericht hat für die vorsätzliche
Körperverletzung vom
23. Mai 2003 auf eine - inzwischen rechtskräftig gewordene -
Freiheitsstrafe
von sechs Monaten erkannt und die Freiheitsstrafe von einem Jahr und
zehn
Monaten wegen Körperverletzung mit Todesfolge dem Strafrahmen
des
§ 227 Abs. 2 StGB entnommen.
II.
Die vom Landgericht vorgenommene Bestimmung des Strafrahmens
und die Bemessung der Strafe halten rechtlicher Prüfung stand.
1. Die Strafzumessung, zu der auch die Frage gehört, ob ein
minder
schwerer Fall vorliegt, ist grundsätzlich Sache des
Tatrichters. Es ist seine
Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der
Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des
Täters gewonnen
hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände
festzustellen
und gegeneinander abzuwägen. Welchen Umständen er
bestimmendes Gewicht
beimißt, ist im wesentlichen seiner Beurteilung
überlassen (st. Rspr.;
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vgl. BGHSt 3, 179; 24, 268; BGHR StGB § 177 Abs. 5
Strafrahmenwahl 2
m.w.N.). Das Revisionsgericht darf die Gesamtwürdigung nicht
selbst vornehmen,
sondern nur nachprüfen, ob dem Tatrichter bei seiner
Entscheidung
ein Rechtsfehler unterlaufen ist (vgl. BGHSt 29, 319, 320; BGH StV
2002, 20;
BGH, Urt. vom 20. April 2004 - 5 StR 87/04). Das ist hier nicht der
Fall.
2. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei zahlreiche gewichtige
Strafmilderungsgründe
dargelegt und zu Gunsten der unbestraften Angeklagten ihr
Geständnis, ihre Betroffenheit und Erschütterung und
den Charakter der Tat
als eine spontane, aus einer Überforderungssituation
entstandene kurzzeitige
Überreaktion herangezogen, was die Revision auch nicht
beanstandet.
Das Schwurgericht hat zum Vorteil der Angeklagten keinen Erfahrungssatz
mißachtet. Solches sieht die Revision darin, daß
das Landgericht
als Motiv der Angeklagten deren Willen festgestellt hat, ihr Kind durch
Schmerzen dazu zu bringen, mit dem Schreien aufzuhören. Dies
widerspreche
der Lebenserfahrung, und es sei absolut fernliegend, daß eine
Mutter so
handle, weil ein Säugling noch nicht durch Einsicht zu einem
Verhalten veranlaßt
werden könne. Mit dieser Wertung vermag die Revision aber
keinen
allgemeinen Erfahrungssatz zu begründen, der keine Ausnahmen
zuläßt und
schlechthin zwingende Folgerungen ergibt (vgl. BGHSt 31, 86, 89; BGH
NStZ 2002, 656, 658). Vor dem Hintergrund vielfältiger, auf
Fehleinschätzungen
beruhender menschlicher Verhaltensweisen handelt es sich bei dem von
der Revision aufgezeigten Verhalten der - die weitverbreiteten
medizinischen
Erkenntnisse beachtenden - Mütter lediglich um
Wahrscheinlichkeitsbewertungen
(vgl. BGH NStZ aaO), die das Landgericht aber ersichtlich in die
Gesamtbewertung
der Beweise zur Feststellung der Motivation der Angeklagten
einbezogen hat.
Die Strafzumessungserwägungen des Landgerichts sind auch nicht
lückenhaft. Zwar hat das Landgericht den Umfang der
Gewaltanwendung
beim Festhalten des Kleinkindes an dessen Oberarmen und dem heftigen
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Schütteln des Körpers im Kinderwagen nicht
ausdrücklich erwogen. Dazu
war das Landgericht vor dem Hintergrund der ausführlichen
Tatschilderung
aber auch nicht verpflichtet, weil für die Tathandlung der
Angeklagten kein
die Tat prägender übermäßiger
Kraftaufwand erforderlich war.
Das Landgericht hat sich auch ausreichend und nachvollziehbar mit
der zu Lasten der Angeklagten zu berücksichtigenden
Besonderheit auseinandergesetzt,
daß es sich bereits um den zweiten Übergriff der
Angeklagten
gegen ihren Sohn handelte und sie die mit der Verletzung und der
Behandlung
des Kindes im Krankenhaus und der Intervention des
Jugendgesundheitsdienstes
verbundene Appellfunktion mißachtet hatte. Die
Schwurgerichtskammer
erachtet diesen Gesichtspunkt als dadurch relativiert, daß die
Angeklagte persönlichkeitsbedingt in ihrer Fähigkeit,
Konflikte zu erkennen
und zu lösen, eingeschränkt gewesen sei. An der
problematischen Grundsituation,
nämlich ihrem unterentwickelten
Einfühlungsvermögen, ihrer Unbeholfenheit
und Unsicherheit im Umgang mit einem Kind und ihrer Verschlossenheit
anderen gegenüber habe sich in der kurzen Zeitspanne nichts
geändert.
Soweit die Revision gegen diese - ersichtlich auch von dem Gutachten
des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Tänzer (UA
S. 6 f., 17) getragenen
- Ausführungen einwendet, das Landgericht habe die
Persönlichkeitsstruktur
der Angeklagten nicht berücksichtigen dürfen, handelt
es sich um
einen im Revisionsverfahren unbeachtlichen Versuch, die Wertung des
Tatrichters
durch eine eigene zu ersetzen.
Schließlich zeigt die Revision auch keine
Erörterungslücke auf, soweit
sie weitergehende Erwägungen über die
mißglückte Aufarbeitung der ersten
Körperverletzung vermißt. Die Wertung des
Landgerichts, die Erfahrungen
der Angeklagten im Zusammenhang mit der Verletzung ihres Sohnes vom
23. Mai 2003 hätte noch zu keiner nachhaltigen
Veränderung ihrer Persönlichkeit
geführt, ist vor dem Hintergrund der ausführlich
dargestellten Akzentuierung
ihrer Persönlichkeit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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Die so gefundene sehr maßvolle Strafe hat sich auch noch
nicht von
ihrer Bestimmung gelöst, gerechter Schuldausgleich zu sein
(vgl. BGHSt 34,
345, 349).
Harms Häger Gerhardt
Raum Brause |