BGH,
Urt. v. 22.10.2004 - 1 StR 248/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 248/04
vom
22. Oktober 2004
in der Strafsache
gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung
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Der 1. Strafsenat des Bundesger ichtshofs hat aufgrund der Verhandlung
vom
20. Oktober 2004 in der Sitzung am 22. Oktober 2004, an denen
teilgenommen
haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesger ichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt und
Rechtsanwalt
als Verteidiger
- in der Verhandlung vom 20. Oktober 2004 -,
Rechtsanwalt
als Verteidiger
- in der Sitzung am 22. Oktober 2004 -,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landge-
richts Stuttgart vom 29. Januar 2004 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverlet-
zung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs
Monaten verurteilt. Die
auf den Strafausspruch beschränkte Revision des Angeklagten
greift mit einer
Verfahrensrüge und der Sachrüge die Verneinung
erheblich verminderter
Schuldfähigkeit an. Sie bleibt ohne Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte begann im Alter von 13 Jahren mit dem Trinken von Al-
kohol. Ber eits mit 17 Jahren befand er sich in einer Entziehungskur,
die ebenso
ergebnislos blieb wie spätere Entgiftungen und Therapien.
Am 25. Juli 2003 tranken der Angeklagte und seine
Lebensgefährtin
R. , die Geschädigte, in ihrer gemeinsamen Wohnung
ab etwa
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16.00 Uhr zusammen mit dem Mitangeklagten S. in
erheblichem
Umfang Wein. Als R. gegen 21.00 Uhr, nur mit einem
Achselshirt und
einem Slip bekleidet, aufreizend vor S. tanzte,
entschloß sich der
Angeklagte aus Wut und Verärgerung hierüber sowie
aufgrund bereits in der
Vergangenheit erfolgter Demütigungen seitens der
Geschädigten, seine Le-
bensgefähr tin zu töten. Er holte, verborgen vor der
Geschädigten, aus der Kü-
che ein Fleischermesser und stachelte den S.
mehrfach leise mit
den Wor ten "Komm, die stechen wir jetzt ab; sie hat es verdient" an.
S.
ergriff schließlich das Messer und stieß es der auf
dem Sessel sitzenden Ge-
schädigten wuchtig in den Unterbauch. Sodann verließ
er fluchtartig die Woh-
nung. Der Angeklagte zog das Messer aus der Wunde und wusch es in der
Spüle ab. Anschließend verständigte er per
Notr uf das DRK.
Eine 45 Minuten nach der Tat entnommene Blutprobe des Angeklagten
ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,92 o/oo. Seine Einsichts- und
Steuer ungsfähigkeit war zum Tatzeitpunkt jedoch nicht
erheblich einge-
schränkt.
2. Mit einer Aufklärungsr üge macht der Angeklagte
geltend, das Landge-
richt hätte den Arzt Dr. L. , der auf dem
Polizeirevier bei dem Ange-
klagten die Blutpr obe entnommen und ein Protokoll über den
Zustand des An-
geklagten gefer tigt hatte, als sachverständigen Zeugen
vernehmen müssen.
Die Rüge ist unbegründet. Durch das Unterlassen der
Einver nahme des
Arztes hat das Landgericht nicht gegen seine
Aufklärungspflicht verstoßen. Es
hat zwar die Feststellungen in dem Pr otokoll der Blutentnahme u.a. mit
der Be-
gründung in Frage gestellt, derartige Feststellungen
geschähen "zumeist unter
Zeitdruck und lediglich oberflächlich", was im vorliegenden
Fall durch die hohe
Zahl der ausgelassenen Untersuchungen bestätigt werde. Es hat
aber rechts-
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fehler frei den Angaben des Protokolls keinen wesentlichen Indizwert
beige-
messen. Die in dem Protokollsformular vorgesehenen Untersuchungen
bezüg-
lich Puls, Blutdruck, Romberg-Test, Drehnystagmus, Gang geradeaus und
plötzliche Kehrtwendung wurden bei dem Angeklagten
überhaupt nicht vorge-
nommen. Auch deuten einige der getroffenen Feststellungen eher auf eine
nicht eingeschränkte Steuerungsfähigkeit des
Angeklagten hin. So wird das
Befinden des Angeklagten als "normal", der Alkoholeinfluß auf
den Angeklag-
ten nur als "deutlich" und nicht als "stark" oder "sehr stark"
gekennzeichnet. Bei
dieser Sachlage mußte das Landgericht sich nicht zu der
ergänzenden Ver-
nehmung des Arztes gedrängt sehen.
3. Auch die Sachrüge ist nicht begründet. Ohne
Rechtsfehler hat das
Landgericht angenommen, daß die Steuerungsfähigkeit
des Angeklagten nicht
alkoholbedingt erheblich vermindert war.
a) Bei einer Blutalkoholkonzentration in der festgestellten
Höhe ist die
Möglichkeit einer krankhaften seelischen Störung
durch einen akuten Alkohol-
rausch zu erörtern. Einen Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach
ab einer be-
stimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration
regelmäßig vom Vor liegen dieses
Merkmals auszugehen ist, gibt es jedoch nicht. Entscheidend ist
vielmehr eine
Gesamtschau aller wesentlichen objektiven und subjektiven
Umstände aus der
Persönlichkeitsstruktur des Täters, seinem
Erscheinungsbild vor , während und
nach der Tat und dem eigentlichen Tatgeschehen. Die
Blutalkoholkonzentrati-
on ist in diesem Zusammenhang ein zwar gewichtiges, aber keinesfalls
allein
maßgebliches oder vorrangiges Beweisanzeichen, wobei deren
Bedeutung
auch von der - hier sehr hohen - Alkoholgewöhnung des
Täters beeinflußt sein
kann (vgl. BGHSt 43, 66, 70; BGH NStZ 2002, 532).
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Ob die Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer
krankhaften
seelischen Störung bei Begehung der Tat "erheblich" im Sinne
des § 21 StGB
verminder t war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne
Bindung an
Äußerungen von Sachverständigen in eigener
Verantwortung zu beantworten.
Hierbei fließen normative Gesichtspunkte ein. Entscheidend
sind die Anforde-
rungen, die die Rechtsordnung auch an einen berauschten Täter
stellt (vgl.
BGHSt 43, 66, 77; BGH NStZ- RR 1999, 295, 296). Diese Anfor derungen
sind
um so höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt
ist (BGH NStZ
2004, 437).
b) Diesen Grundsätzen ist die sachverständig beratene
Strafkammer ge-
recht geworden (zum Maßstab revisionsrechtlicher
Überprüfung tatrichterlicher
Entscheidungen zum Einfluß von Alkohol auf die
Schuldfähigkeit vgl. auch
Maatz/Wahl BGH-FS S. 531, 553).
Der Revision ist zwar einzuräumen, daß der
Blutalkoholwert hier sehr
tatzeitnah - 45 Minuten nach der Tat - gemessen wurde und deshalb eine
zu-
verlässige Aussage mit nicht geringer Beweisbedeutung
darstellt. Das Landge-
richt war gleichwohl aus Rechtsgründen nicht gehindert, trotz
dieses Blutalko-
holwer tes die festgestellten psychodiagnostischen Beweisanzeichen
dahin zu
würdigen, daß eine krankhafte seelische
Störung nicht vor gelegen hatte.
Die psychodiagnostischen Beweisanzeichen sind hier sogar besonders
aussagekräftig. Der alkoholabhängige Angeklagte ist
in hohem Maße trinkge-
wohnt. Sein Verhalten vor, während und nach der Tat hat in
sich schlüssige
Handlungssequenzen mit motorischen Kombinationsleistungen gezeigt, die
so
nicht möglich gewesen wären, wenn diese
Fähigkeiten erheblich beeintr ächtigt
gewesen wären. Er br achte das Messer mit dem Unterarm
verdeckt in das
Wohnzimmer, verbarg es dort vor der Geschädigten und sprach
bewußt so lei-
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se auf den Mitangeklagten S. ein, daß der
Geschädigten seine Worte
verborgen blieben. Er rief unmittelbar nach der Tat bei der
Polizeidirektion an
und erfragte die Telefonnummer des DRK. Auf dem Notrufband des DRK ist
die
Stimme des Angeklagten - wie die Strafkammer aufgrund eigener Wahrneh-
mung festgestellt hat - deutlich und ohne Anzeichen einer verwaschenen
Aus-
sprache zu ver nehmen. Er antwortete schnell und angepaßt auf
Nachfragen
und legte bei der Angabe seiner Telefonnummer sogar bewußt
Pausen ein, um
das Mitschreiben zu erleichtern. Die Geschädigte wie der
Mitangeklagte S.
schilderten den Angeklagten als "ganz normal", und auch der
am Tatort ein-
treffende Polizeibeamte Polizeihauptmeister Ri. stellte bei
dem Angeklag-
ten "keinerlei Ausfallerscheinungen" fest. Hinzu kommt das genaue, auch
die
Motivationslage einschließende Erinnerungsvermögen
des Angeklagten.
Soweit das kontrollierte Vorgehen des Angeklagten, das über
"einge-
schliffenes" Verhalten und schlichte Verhaltensmuster hinausging, nach
der
Tat geschah, brauchte das Landgericht angesichts seines Verhaltens vor
und
bei Ausführung der Tat auch keinen relevanten
Ernüchterungseffekt in Rech-
nung zu stellen. Er hat die Tat weder in einem Zustand der Erregung
oder in
einem seelischen Ausnahmezustand noch unüberlegt begangen. Er
hat sie
vielmehr im einzelnen geplant und das Tatwer kzeug besorgt. Er hat die
Lage,
in der die Geschädigte sich aufgrund der entspannten
Atmosphäre keines An-
griffs auf ihr Leben versah, bewußt zur Tat ausgenutzt. Diese
- das Mordmerk-
mal der Heimtücke erfüllende - Vorgehensweise
läßt die Annahme, das diffe-
renzierte Ver halten des Angeklagten nach der Tat sei auf einen
Ernüchte-
rungseffekt zurückzuführen, als fer nliegend
erscheinen.
Das Landgericht durfte daher - "nach eingehender Prüfung" -
die Indiz-
wirkung der gemessenen hohen Blutalkoholkonzentr ation als entkr
äftet anse-
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hen, ohne den ihm insoweit zustehenden Beurteilungsspielraum (BGHR StGB
§ 21 Ursachen, mehrere 13) zu überschreiten.
Da das Landgericht damit das Vorliegen einer krankhaften seelischen
Störung rechtsfehlerfrei ver neint hat, kommt es auf die Frage
der "Erheblich-
keit" einer verminderten Steuerungsfähigkeit nicht mehr an.
c) Der von der Revision hilfsweise beantragten Vorlage der Sache an
den Großen Senat für Strafsachen nach § 132
Abs. 2, 3 GVG bedarf es nicht,
da kein Strafsenat des Bundesgerichtshofs an der Auffassung
festhält, es gebe
einen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz, wonach ab
einem
bestimmten Grenzwert des Blutalkoholgehalts die
Steuerungsfähigkeit in aller
Regel erheblich vermindert ist (vgl. BGHSt 43, 66, 76). Dementsprechend
hat
der Senat auch bereits entschieden, daß in einem Fall, in dem
die Blutalkohol-
konzentration bis zu 3,54 o/oo betragen haben kann, eine erhebliche
Vermin-
der ung der Steuerungsfähigkeit aufgrund des
körperlichen und geistigen Lei-
stungsvermögens kurz nach der Tat zu Recht ausgeschlossen
wurde (BGH
NStZ 2002, 532). Gleichermaßen hat z.B. auch der 4. Str
afsenat für den Fall
einer maximalen Blutalkoholkonzentration von 3,23 o/oo den
Ausschluß einer
erheblich verminderten Schuldfähigkeit aufgrund
psychodiagnostischer Beur-
teilungskriterien für möglich erklärt ( BGH,
Urteil vom 11. September 2003 - 4
StR 139/03). Soweit in den Entscheidungen der einzelnen Senate
möglicher-
weise Unterschiede in der auf den jeweiligen Einzelfall bezogenen
Bewertung
und Gewichtung einzelner psychodiagnostischer Kriterien aufgetreten
sind,
nötigt dies nicht zur Vorlage dieser Sache an den
Großen Senat für Strafsa-
chen, da es sich insoweit nicht um verbindliche Entscheidungen eines
anderen
Senats in einer Rechtsfrage im Sinne von § 132 Abs. 2 GVG
handelt.
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Es bestehen schließlich keine Anhaltspunkte dafür,
die der Rechtspr e-
chung des Senats zugrundeliegenden medizinischen
Erfahrungssätze in Frage
zu stellen, so daß es auch der von der Revision ebenfalls
hilfsweise beantrag-
ten Anhörung eines Sachverständigen nicht bedarf.
Nack
Wahl Kolz
Elf Graf
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