BGH,
Urt. v. 24.3.2010 - 2 StR 10/10
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 10/10
vom
24. März 2010
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 24.
März 2010, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Rissing-van Saan,
Richter am Bundesgerichtshof
Prof. Dr. Fischer,
Richterin am Bundesgerichtshof
Roggenbuck,
Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Appl,
Cierniak,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Kassel vom 15. Juli 2009 mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in
der Sicherungsverwahrung abgelehnt worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen
Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten (Einzelstrafen:
ein Jahr neun Monate, ein Jahr neun Monate, ein Jahr sechs Monate sowie
zwei Jahre) verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die
Revision der Staatsanwaltschaft wendet sich mit der Sachrüge
allein dagegen, dass die Strafkammer von der Anordnung der
Sicherungsverwahrung abgesehen hat. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
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1. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision wirksam auf die Frage der
Sicherungsverwahrung beschränkt; denn zwischen der Strafe und
der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung besteht
grundsätzlich keine der
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Rechtsmittelbeschränkung entgegenstehende Wechselwirkung (vgl.
BGH NStZ 1994, 280, 281; 2007, 212, 213; Senatsurteil vom 24. Februar
2010 - 2 StR 509/09). Auch hier schließt der Senat aus, dass
die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe niedriger ausgefallen
wäre, wenn der Tatrichter die Unterbringung des Angeklagten in
der Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.
2. Das Landgericht hat von der Anordnung der Sicherungsverwahrung
gemäß § 66 Abs. 2 StGB gegen den
Angeklagten mit der Begründung abgesehen, die von diesem
begangenen und auch künftig zu erwartenden schweren sexuellen
Missbrauchshandlungen an Kindern seien nicht so erheblich, dass sie
eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen würden (UA 52 f.);
dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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a) Nach den Feststellungen ist der 1968 geborene Angeklagte seit Beginn
seiner Volljährigkeit mit Vorwürfen sexueller
Annäherungen gegenüber kleinen Jungen konfrontiert.
1992 wurde er erstmals wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei
Fällen jeweils in Tateinheit mit homosexuellen Handlungen zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt.
Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Angeklagte bei sich bietenden
Gelegenheiten zwei elf und zwölf Jahre alten Jungen in die
Hose gegriffen und an deren Geschlechtsteilen manipuliert hatte. Die
dem Angeklagten gewährte Bewährung wurde widerrufen,
weil er eine angeordnete therapeutische Behandlung verweigerte. Auch
ein während des Vollzugs unternommener Therapieversuch
scheiterte an seiner fehlenden Mitarbeit.
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Eine weitere Verurteilung wegen gleichgelagertem sexuellen Missbrauch
eines neunjährigen Jungen in zwei Fällen zu einer
vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr erfolgte im Jahr
1997.
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Letztmalig wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei
Fällen wurde der Angeklagte im Jahr 2000 zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die er bis zum 6.
Juni 2003 verbüßte; die sich anschließende
Führungsaufsicht endete im Juni 2006. Opfer war ein
13jähriger Junge, an dessen entblößtem
Glied der Angeklagte manipuliert hatte.
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Im Anschluss an seine Haftentlassung engagierte sich der Angeklagte in
Fußballvereinen als Betreuer von Kindermannschaften.
Gleichzeitig suchte er mit Erfolg die Nähe von allein
erziehenden Frauen mit Kindern vornehmlich männlichen
Geschlechts. Die dadurch bewusst geschaffenen Gelegenheiten nutzte er
aus, um im Zeitraum Januar bis April 2008 in vier Fällen zwei
elf- bzw. zwölfjährigen Jungen sowie einem
elfjährigen Mädchen in die Hose zu greifen und an
deren Geschlechtsteilen zu manipulieren.
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b) Das Landgericht hat - sachverständig beraten - zur Frage
der Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtsfehlerfrei
ausgeführt, dass die formellen Voraussetzungen für
eine Anordnung gemäß § 66 Abs. 2 StGB
vorliegen und dass bei dem Angeklagten gemäß
§ 66 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB ein Hang zur Begehung von
Straftaten besteht. Dem Angeklagten sind sexuelle Beziehungen zu
Erwachsenen nicht möglich. Bei ihm liegt eine narzisstische
dissoziale Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit
einer ausgeprägten und chronifizierten homosexuellen
Pädophilie vor. Er hat schon in der Vergangenheit und auch bei
den vorliegenden Taten gezeigt, dass er auch nach
Haftverbüßung wegen einschlägiger
Vorverurteilungen immer wieder in sein altes Verhaltensmuster
zurückfällt, indem er Lebenssituationen sucht oder
selber schafft, um die direkte Nähe zu Kindern zu erreichen.
Hinzu kommt, dass er - nach geständigen Einlassungen in den
früheren Verfahren - nunmehr die Begehung nicht nur der hier
abgeurteilten, sondern auch der vergangenen Taten leugnet und
ankündigt,
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auch künftig Kontakt zu Kindern haben zu wollen, da er sich
diesbezüglich nichts vorzuwerfen habe.
c) Soweit die Strafkammer jedoch meint, dass es sich bei den durch den
Angeklagten in der Zukunft zu befürchtenden Hangtaten um
solche handelt, welche die Erheblichkeitsschwelle nicht
überschreiten (UA 52 f.) und deshalb eine Sicherungsverwahrung
nicht rechtfertigen würden, begegnet dies - auch in Anbetracht
des dem Tatrichter insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums (BGH NJW
2000, 3015) - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Selbst wenn - wie
der Sachverständige meint - nicht zu vermuten wäre,
dass der Angeklagte seine pädophilen Neigungen
künftig mit gesteigerter Intensität in aggressiverer
Art und Weise als bisher ausleben werde, ist der daraus gezogene
Schluss, eine schwere körperliche und seelische
Schädigung künftiger Opfer sei nicht zu
befürchten, nicht haltbar. So ist es bereits mit den sonstigen
Urteilsgründen unvereinbar, wenn die Strafkammer darauf
abstellt, sie habe in der Hauptverhandlung von den betroffenen Kindern
den Eindruck gewonnen, die Missbrauchshandlungen des Angeklagten
hätten keine nachhaltigen erheblichen Auswirkungen verursacht
(UA 53). An anderer Stelle des Urteils (UA 29 f.) heißt es
nämlich:
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"Bei L. wurde bei ihrer Aussage deutlich, dass sie zuerst keine Angaben
zu den konkreten Vorfällen machen wollte, da sie das
vergangene Geschehen nachhaltig negativ beeindruckt hatte. Als sie vom
Gericht auf die konkrete Situation und die im Raum stehenden
Tathandlungen des Angeklagten angesprochen wurde, blockte sie
vollkommen ab, wurde nahezu apathisch und war für zwei bis
drei Minuten zu keiner weiteren Angabe mehr bereit. Die Sitzung musste
kurz unterbrochen werden, damit sich die Zeugin wieder sammeln konnte
… die Zeugin antwortete weiterhin stockend und sichtlich
bedrückt."
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Weiter berücksichtigt das Landgericht nicht hinreichend den
Schutzzweck der §§ 176, 176 a StGB, nämlich
die ungestörte Entwicklung von Kindern (BGHSt 45, 131, 132).
Mit sexuellem Missbrauch ist typischerweise die Gefahr schwerwiegender
psychischer Schäden verbunden. Hinsichtlich künftiger
Taten konkrete seelische Schäden bei kindlichen Opfern zu
prognostizieren, ist nahezu ausgeschlossen, weshalb auch die allgemeine
und abstrakte Gefährlichkeit von Delikten Grundlage von
Sicherungsverwahrung sein kann (BGH NJW 2000, 3015). So lagen auch hier
in der Hauptverhandlung und damit nur kurze Zeit nach dem Missbrauch -
wie die Strafkammer selbst einräumt - noch überhaupt
keine gesicherten Erkenntnisse über traumatische
Störungen in der weiteren Entwicklung der betroffenen sehr
jungen Kinder vor (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR
201/07). Die hier zu beurteilenden Missbrauchsfälle sind daher
grundsätzlich als erheblich i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3
StGB einzustufen (vgl. BGH, Beschluss vom 14. August 2007 - 1 StR
201/07; BGH NStZ-RR 2003, 73; Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl.
§ 66 Rdn. 149), was nicht zuletzt die Einordnung des schweren
sexuellen Missbrauchs als Verbrechen mit einem Strafrahmen von
Freiheitsstrafe von ein bis fünfzehn Jahren verdeutlicht. Dass
der Angeklagte darüber hinaus keine körperliche
Gewalt gegen seine Opfer angewandt hat, beseitigt nicht die
Erheblichkeit seines Tuns, sondern führt lediglich dazu, dass
er nicht auch noch der sexuellen Nötigung (§ 177
StGB) schuldig ist, kommt ihm aber nicht bei der Prüfung von
§ 66 StGB zugute (BGH NStZ 2007, 464, 465).
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3. Nach alledem muss über die Sicherungsverwahrung neu
entschieden werden. Zwar kann der Tatrichter nach seinem vom
Revisionsgericht nur begrenzt überprüfbaren Ermessen
von Sicherungsverwahrung auch absehen, wenn alle Voraussetzungen von
§ 66 Abs. 2 StGB vorliegen (BGH NStZ 2007, 464 m.w.N.). Hier
hat die Strafkammer jedoch schon die Erheblichkeit der vom Angeklagten
begangenen und künftig zu erwartenden Straftaten verkannt. Es
ist nicht ausgeschlossen, dass sie bei Zugrundelegung zutreffender
Maßstäbe und bei Abwägung aller
Erkenntnisse Sicherungsverwahrung angeordnet hätte.
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Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck
Appl Cierniak |