BGH,
Urt. v. 24.10.2006 - 1 StR 44/06
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 44/06
BGHSt: ja
BGHR: ja
____________________
StGB § 266a Abs. 1 und 2, § 5 Abs. 1; SGB IV
§ 6
1. Eine von einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen
Union erteilte Entsendebescheinigung (E 101) bindet auch die deutschen
Organe der Strafrechtspflege.
2. Die Durchführung eines Strafverfahrens wegen Vorenthaltens
von Sozialversicherungsbeiträgen (§ 266a Abs. 1 StGB)
ist ebenso gehindert wie eine Strafverfolgung in Zusammenhang mit
Erklärungen gegenüber den Behörden des
Entsendestaates zur Erlangung der E 101-Bescheinigung jedenfalls
solange die erteilte Bescheinigung nicht zurückgenommen ist.
BGH, Urteil vom 24.10.2006 - 1 StR 44/06 - LG München I
vom
24.10.2006
in der Strafsache
gegen
1.
2.
- 2 -
wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
24.10.2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Kolz,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten F. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten H. ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 4 -
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
München I vom 14.07.2005 aufgehoben. Die Angeklagten werden
freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der
Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
3. Die Entscheidung über die Entschädigung der
Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen
bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht München I hat den Angeklagten F. durch Urteil
vom 14.07.2005 wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt
in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und
sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu
diesen Taten unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer
früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei
Jahren verurteilt; daneben hat es eine Gesamtgeldstrafe von 200
Tagessätzen zu jeweils 10,-- € verhängt. Die
Vollstreckung beider Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht zur
Bewährung ausgesetzt.
1
- 5 -
Die Angeklagten machen mit ihren auf die Sachrüge
gestützten Revisionen geltend, dass den Angeklagten F. wegen
Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes keine Pflicht zur
Abführung von Beiträgen zur deutschen
Sozialversicherung treffe, eine Strafbarkeit nach § 266a StGB
daher für beide Angeklagte ausscheide. Die Rechtsmittel haben
Erfolg.
2
I.
1. Das Landgericht hat festgestellt: Der Angeklagte F. war
Geschäftsführer der „A. GmbH“ mit
Sitz in M. (fortan: A. GmbH), die auf Baustellen in Deutschland als
Subunternehmerin Aufträge im Bereich der Fassadenmontage
ausführte und dabei portugiesische Arbeiter einsetzte. Um die
Arbeiter der deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, wurden
sie auf Veranlassung des Angeklagten F. zum Schein bei zwei
portugiesischen Bauunternehmen angestellt. Die portugiesischen
Unternehmen traten formell auch in die Bauaufträge der A. GmbH
ein. Tatsächlich hatten die portugiesischen Firmen keinerlei
Geschäftsbeziehungen nach Deutschland, insbesondere weder
Kontakt zu den Auftraggebern der A. GmbH noch zu den portugiesischen
Arbeitnehmern. Diese blieben faktisch bei der A. GmbH
beschäftigt, von der sie auch ihren - auf Konten der
portugiesischen Unternehmen überwiesenen und von dort
ausgezahlten - Arbeitslohn erhielten. Der Angeklagte H. , ein
ehemaliger Rechtsanwalt, hatte zusammen mit dem Angeklagten F. die
Verhandlungen mit den portugiesischen Firmen geführt, die
abgeschlossenen Scheinarbeitsverträge entworfen und die
Organisation der umgeleiteten Lohnzahlungen übernommen.
3
Die Angeklagten beabsichtigten, durch die angeblichen
Arbeitsverhältnisse in Portugal den Anschein einer nur
vorübergehenden Entsendung der Ar-
4
- 6 -
beiter von Portugal nach Deutschland zu erwecken. Das deutsche und das
europäische Sozialversicherungsrecht sehen für einen
derartigen Fall vor, dass die entsandten Arbeitnehmer nur in ihrem
Herkunftsstaat zu versichern sind, im Gastland dagegen beitragsfrei
beschäftigt werden können. Die
Geschäftsführer der portugiesischen Gesellschaften
stellten nach Absprache mit den Angeklagten daher bei den
portugiesischen Sozialversicherungsträgern Anträge
auf Erteilung so genannter E 101-Bescheinigungen, welche daraufhin auch
ausgestellt wurden. In den Bescheinigungen bestätigten die
portugiesischen Behörden, dass die eingesetzten Arbeiter nach
der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 aufgrund von
Werkverträgen für nicht länger als ein Jahr
ins Ausland entsandt wurden mit der rechtlichen Folge, dass sie in
Portugal sozialversicherungspflichtig blieben. Tatsächlich
lagen die Voraussetzungen hierfür - wie das Landgericht
feststellt - nicht vor, da die Arbeitnehmer bereits zum Zeitpunkt ihrer
angeblichen Entsendung durch die portugiesischen Unternehmen
länger als ein Jahr in Deutschland tätig und
vollständig in den Betrieb der A. GmbH eingegliedert waren.
Bei den deutschen Sozialversicherungsbehörden meldeten die
Angeklagten die Arbeiter nicht an und führten auch keine
Beiträge für sie ab. Nach der Berechnung des
Landgerichts entzogen sie dadurch im Zeitraum zwischen Juli 2001 und
Juni 2002 in Deutschland Beiträge in Höhe von
insgesamt 112.132,40 €. In Portugal sollten Beiträge
nach Vorstellung der Angeklagten aus dem an die dortigen Unternehmen
überwiesenen Arbeitslohn entrichtet werden. Ob dies
tatsächlich geschah, hat das Landgericht nicht festgestellt.
5
Zur behördlichen Handhabung der E 101-Bescheinigungen teilt
das Urteil mit, dass die deutschen Sozialversicherungsträger
aufgrund von Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
darin übereingekommen seien, den Bescheinigungen bindende
Wirkung beizumessen. Die Landesversicherungsan-
6
- 7 -
stalt Oberbayern hob daher in einem das Vorgängerunternehmen
der A. GmbH betreffenden Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt -
die Arbeitnehmer wurden bei zu diesem Zweck eigens gegründeten
portugiesischen Briefkastenfirmen angestellt und erlangten auf diesem
Weg E 101-Bescheinigungen - einen bereits ergangenen Leistungsbescheid
wieder auf, nachdem die portugiesischen Behörden die
Richtigkeit der von ihnen ausgestellten Bescheinigungen
bestätigt hatten. Im laufenden, gegen den Angeklagten F.
gerichteten so- zialversicherungsrechtlichen Verfahren wurden
Beitragsforderungen gar nicht erst erhoben. Nach Aussage von
Mitarbeitern der befassten deutschen Sozialbehörden ist dies
auch für die Zukunft nicht beabsichtigt, sofern die
vorliegenden Bescheinigungen Bestand haben.
2. Das Landgericht ist der Auffassung, dass die portugiesischen
Arbeiter ungeachtet der vorgelegten E 101-Bescheinigungen in
Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, da die Voraussetzungen
für eine versicherungsfreie Tätigkeit nicht gegeben
waren. Den Bescheinigungen misst es eine nur formale Bedeutung zu. Sie
entfalten nach Auffassung des Landgerichts bindende Wirkung nur im
Sozialversicherungsrecht, begründen auch dort aber nur eine
widerlegbare Vermutung dafür, dass der betroffene Arbeitnehmer
in das Sozialversicherungssystem eines anderen Landes eingebunden ist.
Die deutschen Sozialversicherungsträger seien bis zur
Rücknahme der auf falschen Annahmen beruhenden Bescheinigungen
durch die ausstellende Behörde zwar gehindert,
Beiträge einzuziehen. Am Bestehen eines darauf gerichteten
materiellen Anspruches und an der strafrechtlichen Bedeutung
unterlassener Beitragsabführung ändere dies aber
nichts.
7
- 8 -
II.
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach
den Kollisionsvorschriften des europäischen
Sozialversicherungsrechtes in der ihnen nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes zukommenden Reichweite und Wirkung
findet deutsches Sozialversicherungsrecht auf die dem Urteil des
Landgerichts zugrunde liegenden
Beschäftigungsverhältnisse keine Anwendung. Eine
Strafbarkeit der Angeklagten nach § 266a StGB scheidet
infolgedessen aus.
8
1. Gegenstand einer Beitragsstraftat nach § 266a StGB sind
fällige Arbeitnehmerbeiträge, die aufgrund einer
versicherungspflichtigen Beschäftigung nach den Vorschriften
des Sozialgesetzbuches geschuldet sind. § 266a StGB ist
insoweit sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet (vgl. BGHSt 47, 318 f.;
Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 266a Rdn. 9a, 10;
Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 202). Auch das Landgericht geht
zutreffend davon aus, dass eine sozialversicherungsrechtliche
Beitragspflicht die Voraussetzung für eine Beitragsstraftat
bildet.
9
2. In Fällen mit Auslandsbezug ist daher von vorrangiger
Bedeutung, ob der betroffene Arbeitnehmer der inländischen
Sozialversicherungspflicht unterliegt oder davon ausgenommen ist.
§ 266a StGB knüpft hierbei nicht allein an die
deutschen Sozialgesetze, sondern auch an zwischen- und
überstaatliche Bestimmungen an, soweit sie in Deutschland
gelten und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht bestimmen. Danach
ergibt sich Folgendes:
10
a) Nach den Bestimmungen des deutschen Sozialgesetzbuches
führt eine inländische Beschäftigung zur
Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers (§ 2 Abs. 2,
§ 3 Nr. 1 SGB IV); maßgeblich ist dabei der Ort, an
dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt
wird (§ 9 Abs. 1 SGB IV). Die Versicherungs-
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- 9 -
pflicht entfällt gem. § 5 Abs. 1 SGB IV bei Personen,
die im Rahmen eines ausländischen
Beschäftigungsverhältnisses in das Inland entsandt
werden, sofern die Entsendung im Voraus zeitlich begrenzt ist.
Nach diesem Maßstab unterlagen die portugiesischen Arbeiter
in der zugrunde liegenden Fallkonstellation der deutschen
Sozialversicherungspflicht. An einer zur Versicherungsfreiheit
führenden Entsendung fehlte es bereits deshalb, weil ein
ausländisches Beschäftigungsverhältnis im
Sinne des § 5 Abs. 1 SGB IV nicht bestand, die Arbeiter
vielmehr allein von der inländischen A. GmbH
beschäftigt wurden. Sie waren insbesondere weder an Weisungen
der nur nach außen als Arbeitgeber auftretenden
portugiesischen Unternehmen gebunden noch in deren Arbeitsorganisation
eingegliedert (vgl. § 7 Abs. 1 SGB IV).
12
b) Die Vorschriften der §§ 2 ff. SGB IV stehen jedoch
unter dem Vorbehalt über- und zwischenstaatlichen Rechtes
(§ 6 SGB IV). Als derartige, nach Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag
mit unmittelbarem Geltungsvorrang ausgestattete Regelung
enthält die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971
(sog. „Wanderarbeitnehmerverordnung“, ABl. L 149
vom 5. Juli 1971 S. 2; fortan: VO 1408/71) für Fälle
grenzüberschreitender Beschäftigung in
Ländern der europäischen Union
Kollisionsvorschriften, die das anwendbare nationale
Sozialversicherungsrecht bestimmen.
13
Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 sollen
grenzüberschreitend beschäftigte Personen dem
Sozialversicherungsrecht nur eines Mitgliedstaates unterliegen. Art. 13
Abs. 2 lit. a) der VO 1408/71 bestimmt insoweit, dass auf einen
Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt
ist, unabhängig von seinem Wohnsitz und dem Sitz seines
Arbeitgebers das Recht dieses Staates Anwendung findet. Als Ausnahme
hierzu findet
14
- 10 -
im Falle einer Entsendung von voraussichtlich nicht mehr als
zwölf Monaten nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 a) der VO 1408/71
weiterhin das Sozialversicherungsrecht des Herkunftsstaates Anwendung,
aus dem der Arbeitnehmer entsandt wird, sofern der Arbeitnehmer einem
dortigen Unternehmen gewöhnlich angehört und
für Rechnung dieses Unternehmens entsandt wird. Voraussetzung
für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung ist eine auch
während der Entsendung fortbestehende arbeitsrechtliche
Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer, die
sich in der Zahlung des Entgeltes, der Erhaltung eines
Abhängigkeitsverhältnisses, der Verantwortung
für Anwerbung, Arbeitsvertrag, Entlassung und der
Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit ausdrückt
(vgl. die Beschlüsse der - nach Art. 80, 81 der VO 1408/71 zu
Fragen der Auslegung und Durchführung der Verordnung
eingesetzten - Verwaltungskommission Nr. 128 vom 17. Oktober 1985, ABl.
C 141 vom 7. Juni 1986, S. 6; Nr. 162 vom 31. Mai 1996, ABl. L 241 vom
21. September 1996, S. 28; Nr. 181 vom 13. Dezember 2000, ABl. L 329
vom 14. Dezember 2001, S. 73).
Auch nach diesem Maßstab lagen die Voraussetzungen einer zur
inländischen Versicherungsfreiheit führenden
Entsendung auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht vor;
denn die portugiesischen Arbeitnehmer befanden sich in keiner
arbeitsrechtlichen Bindung zu den portugiesischen Unternehmen. Sie
waren auch nicht für deren Rechnung tätig, da ihre
Arbeitskraft allein zur Durchführung der tatsächlich
bei der A. GmbH verbliebenen Bauaufträge diente und sie
faktisch auch ihren Lohn von der GmbH bezogen.
15
3. Dem Landgericht war es gleichwohl verwehrt, seiner Beurteilung die
Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechtes zugrunde zu legen. Nach
den zur Durchführung der VO 1408/71 ergangenen
europäischen Rechtsvorschriften war es an die Bescheinigung
des portugiesischen Sozialversiche-
16
- 11 -
rungsträgers gebunden, wonach die Arbeiter der A. GmbH
portugiesischem Sozialversicherungsrecht unterliegen. Die Strafkammer
war daher gehindert, entgegen der Bewertung der portugiesischen
Behörde dennoch zu einer bestehenden
Sozialversicherungspflicht in Deutschland zu gelangen.
a) Die VO 1408/71 wird ergänzt durch
Durchführungsvorschriften in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72
vom 21. März 1972 (ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1;
fortan: VO 574/72). Für die Fälle einer Entsendung
nach Art. 14 Abs. 1 der VO 1408/71 sieht Art. 11 der VO 574/72 ein
Verfahren vor, in dem der zuständige
Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates auf Antrag des
betroffenen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers die Entsendung
bestätigt und für einen begrenzten Zeitraum
bescheinigt, dass der Beschäftigte den Rechtsvorschriften des
Herkunftsstaates unterstellt bleibt. Die Bescheinigung erfolgt auf
einem gemäß Art. 2 der VO 574/72 von der
Verwaltungskommission entworfenen einheitlichen Formblatt mit der
Bezeichnung „E 101“.
17
Über die Rechtsnatur und Wirkung einer derartigen E
101-Bescheinigung verhält sich die VO 574/72 nicht
unmittelbar. Ihr ist insbesondere nicht zu entnehmen, welche Wirkung
der Bescheinigung in einem das Sozialversicherungsverhältnis
eines entsandten Arbeitnehmers betreffenden Verwaltungs- oder
Gerichtsverfahren im Gastland zukommt, ob sie dort etwa nur
verfahrensrechtliche Bedeutung im Sinne einer Beweiserleichterung oder
widerleglichen Vermutung für das Vorliegen des bescheinigten
Entsendetatbestandes erlangt, oder ob sie materielle Bindungswirkung
dahingehend entfaltet, dass sie die sich aus der bescheinigten
Entsendung ergebende Anwendung des Sozialversicherungsrechtes des
Entsendestaates verbindlich festschreibt.
18
b) Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen,
denen Vorlagefragen aus arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren der
Mitgliedsstaa-
19
- 12 -
ten zugrunde lagen, zur Wirkung einer E 101-Bescheinigung
ausgesprochen, dass die nationalen Behörden des Gastlandes und
dessen Gerichte an die bescheinigte Anwendbarkeit des
Sozialversicherungsrechtes des Herkunftslandes gebunden sind (Urteil
vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380; Urteil vom 30.
März 2000 - Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005, 2040 ff.; Urteil
vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05, AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr.
13.).
Der Gerichtshof begründet seine Auffassung mit dem Zweck der
Verordnungen, dass ein Arbeitnehmer nur an ein einziges System der
sozialen Sicherheit angeschlossen werden soll, der damit verbundenen
Rechtssicherheit und der mit der Verordnung und der Bescheinigung
beabsichtigten Förderung von
Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Er
führt darüber hinaus aus, dass der Grundsatz der
vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 10 (alt: Art. 5) EG-Vertrag
den ausstellenden Träger verpflichte, den Sachverhalt
ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die
Richtigkeit der Bescheinigung zu gewährleisten. Umgekehrt
würde der zuständige Träger des
Aufnahmestaates seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verletzen, wenn
er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden
sähe und den Betroffenen (zusätzlich) seinem eigenen
Sozialversicherungssystem unterstellen würde. In
Konfliktfällen habe der Träger des Aufnahmestaates
sich vielmehr zunächst an den Träger des
Entsendestaates zu wenden, dann an die Verwaltungskommission. Gelinge
dieser keine Vermittlung, könne der Träger des
Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein
Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 (alt: Art. 170) EG-Vertrag
einleiten.
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Zur Reichweite der Bindung führt der Europäische
Gerichtshof aus, dass eine E 101-Bescheinigung notwendig zur Folge
habe, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen
Mitgliedstaates nicht angewandt werden kann. Hieran seien auch die
nationalen Gerichte gebunden (Urteil vom 26. Januar
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- 13 -
2006 - Rs. C-2/05; AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13). Der
Gerichtshof hatte insoweit über die Vorlagefrage zu befinden,
ob ein Gericht des Gaststaates das Fortbestehen einer
arbeitsrechtlichen Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und
dem entsandten Arbeitnehmer prüfen darf, weiterhin, ob es die
E 101-Bescheinigung unbeachtet lassen darf, wenn nach den ihm
vorliegenden tatsächlichen Umständen feststeht, dass
während des Entsendungszeitraums eine solche Bindung nicht
bestand. Der Europäische Gerichtshof hat dies abgelehnt und
ausgeführt, ein Gericht des Gaststaates sei „nicht
befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick
auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine
solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer
arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a
der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (…) zu
überprüfen“ (EuGH aaO Rdn. 33).
c) Der Senat sieht vor diesem Hintergrund auch die an einem
innerstaatlichen Strafverfahren beteiligten Behörden und
Gerichte an eine von einem ausländischen
Sozialversicherungsträger ausgestellte E 101-Bescheinigung
gebunden, soweit sich das Strafverfahren auf eine Verletzung der
Beitragspflicht des Arbeitgebers bezieht.
22
Er hält zunächst für nicht zweifelhaft, dass
der Europäische Gerichtshof trotz einzelner Formulierungen,
die der Bescheinigung lediglich Beweiskraft oder die Wirkung einer
Vermutung zuschreiben (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs.
C-202/97, EuZW 2000, 380, 384), eine behördliche oder
gerichtliche Auseinandersetzung über die
tatsächlichen Verhältnisse, aufgrund derer die
Bescheinigung erteilt wurde, im Gastland für ausgeschlossen
hält. Die seitens des Gerichtshofes betonte Bindung
lässt sich nicht anders verstehen, als dass eine derartige
Sachprüfung durch dortige Behörden nicht stattfinden
darf.
23
- 14 -
Dies betrifft auch die Organe der Strafrechtspflege. Der
Europäische Gerichtshof hat in seiner - erst nach dem Urteil
des Landgerichts ergangenen - Entscheidung vom 26. Januar 2006 (Rs.
C-2/05) bereits die Vorlagefragen weitreichend im Hinblick auf eine
Bindung der „innerstaatlichen Rechtsordnung des
Gaststaates“ verstanden und eine Bindung der nationalen
Gerichte ohne Unterscheidung nach Gerichtsbarkeit ausgesprochen. Ein
solches Verständnis entspricht dem Zweck der
europäischen Kollisionsvorschriften und der
Entsendebescheinigung. Denn ein strafrechtliches Urteil, das sich auf
von der Bescheinigung abweichende Feststellungen stützt,
hätte wegen der einschneidenden Sanktionsfolge tiefergreifende
Auswirkungen als eine von der Bescheinigung abweichende
Beitragserhebung durch die Sozialversicherungsbehörden des
Gastlandes.
24
Im Hinblick auf § 266a StGB ergibt sich eine Bindung auch
mittelbar aus der sozialrechtsakzessorischen Natur der Strafvorschrift.
Da die strafrechtliche Beitragsvorenthaltung eine sozialrechtlich
begründete Beitragspflicht voraussetzt, lässt eine
Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes infolge der
bindenden Bewertung der Entsendebehörde zugleich die
Strafbarkeit nach § 266a StGB entfallen (zutreffend
Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 204; a.A. Heitmann in
Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl.
§ 36 Rdn. 70 f., 76, der einer Entsendebescheinigung
allerdings auch für das sozialrechtliche Verfahren nur eine
Beweisfunktion zuschreibt). Dies zeigt auch die Struktur von §
266a StGB als echtes Unterlassungsdelikt. Dem Unterlassen steht bei
Vorliegen einer Entsendebescheinigung eine erfüllbare
Rechtspflicht nicht gegenüber; da mangels eines
Sozialversicherungsverhältnisses kein Anspruch eines
inländischen Sozialversicherungsträgers besteht, ist
dem Täter die von § 266a StGB abverlangte Handlung -
rechtzeitige Beitragsabführung - rechtlich und
tatsächlich unmöglich. Eine strafrechtliche
Feststellung fehlender Entsendungsvoraussetzungen, wie von dem
Landgericht vorgenommen, ver-
25
- 15 -
mag hieran nichts zu ändern, da sie eine
Sozialversicherungspflicht nicht begründen kann.
d) Der Senat hat erwogen, ob die Bindungswirkung der E
101-Bescheinigung in Fallgestaltungen wie der vorliegenden in Frage
steht, in denen die Bescheinigung durch Manipulation erschlichen worden
ist. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit in anderem
Zusammenhang mehrfach ausgesprochen, dass das Gemeinschaftsrecht die
missbräuchliche oder betrügerische Anwendung von
Vorschriften nicht gestatte (vgl. Urteil vom 2. Mai 1996 - Rs.
C-206/94, BB 1996, 1116, 1117 m.w.N.).
26
Sollte der Verdacht von Manipulationen eine
Überprüfungsmöglichkeit des
Entsendetatbestandes durch die Behörden und Gerichte des
Gaststaates eröffnen, würde dies allerdings die von
den Verordnungen bezweckte und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes
als wesentliche Zielsetzung betonte eindeutige Rechtszuordnung
unterlaufen, da eine auf den Missbrauchsverdacht gestützte
Ermittlungs- und Eingriffsbefugnis keine trennscharfen Konturen
aufweist und zu Konflikten zwischen den Versicherungsträgern
der beteiligten Mitgliedstaaten Anlass geben würde.
27
Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof eine Ausnahme
von der Bindungswirkung nicht vorgesehen und an der Richtigkeit der
Bescheinigung zweifelnde Gastlandbehörden ausnahmslos auf eine
Überprüfungsanregung bei der
Ausstellungsbehörde verwiesen. Dies betrifft auch das vom
Gerichtshof mit Urteil vom 30. März 2000 (- Rs. C-178/97, Slg.
2000 I, 2005) entschiedene Vorlageverfahren, dem die Problematik einer
Scheinselbständigkeit zugrunde lag. In den im Verfahren
eingeholten Stellungnahmen der deutschen und niederländischen
Regierungen wurde der Befürchtung Ausdruck verliehen, dass mit
einer allzu großzügigen Handhabung der Verordnungen
und der auf
28
- 16 -
ihrer Grundlage ergangenen Bescheinigungen einem Missbrauch durch
erschlichene Rechtswahl der Sozialrechtsordnung eines Mitgliedsstaates,
dessen Sozialabgaben niedriger als jene im tatsächlichen
Beschäftigungsstaat ausfallen, Vorschub geleistet
würde (vgl. Slg. 2000 I, 2005, 2016). Der Gerichtshof hat
gleichwohl auch in diesem Fall keine Veranlassung gesehen, die
Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung unter einen
Missbrauchsvorbehalt zu stellen.
Nach Auffassung des Senats liegt daher eine gesicherte Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofes vor, die vernünftige
Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechtes im vorliegenden Fall
nicht zulässt; hiermit entfällt zugleich eine
Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag, § 1 Abs. 2
EuGHG zur Klärung der Rechtsfrage (vgl. hierzu Kokott, JZ
2006, 633).
29
4. Eine Beitragsvorenthaltung zu Lasten der portugiesischen
Sozialbehörden kommt nach den Feststellungen des Landgerichts
gleichfalls nicht in Betracht. Angesichts des durch die
Entsendebescheinigung festgestellten Arbeitsverhältnisses
trifft eine Beitragspflicht allein die portugiesischen Unternehmen und
ihre Organe. Darüber hinaus ergeben die Feststellungen des
Landgerichts, dass nach Absicht der Angeklagten aus den von ihnen an
die portugiesischen Firmen überwiesenen Lohnzahlungen
Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten.
Es kann daher dahinstehen, ob § 266a StGB allein die
Nichtabführung von Beiträgen aufgrund einer
inländischen Sozialversicherungspflicht betrifft oder aufgrund
der Verknüpfung der europäischen Sozialsysteme auch
das gesamteuropäische Beitragsaufkommen schützt.
30
- 17 -
III.
Der Senat hat weiterhin erwogen, ob das Landgericht - gegebenenfalls
nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO
- der Frage hätte nachgehen müssen, ob sich die
Angeklagten aufgrund der Beantragung der Entsendebescheinigungen eines
Beitragsbetruges nach § 263 StGB schuldig gemacht haben. Die
vom Landgericht getroffenen Feststellungen legen nahe, dass die E
101-Bescheinigungen von den portugiesischen
Sozialversicherungsbehörden infolge einer - von den
Angeklagten zumindest veranlassten - Täuschung über
die tatsächlichen Voraussetzungen des Entsendetatbestandes
ausgestellt worden sein könnten. Die Ausstellung der
Bescheinigungen könnte in diesem Fall eine irrtumsbedingte
Verfügung darstellen, da sie aufgrund ihrer Bindungswirkung
die Erhebung höherer Sozialversicherungsbeiträge in
Deutschland hindern.
31
Eine Zurückverweisung der Sache zur ergänzenden
Sachaufklärung war gleichwohl nicht veranlasst.
Unabhängig davon, ob die einem etwaigen Beitragsbetrug
zugrunde liegenden Tathandlungen von der zugelassenen Anklage und damit
der Kognitionspflicht des Landgerichts umfasst sind, steht einer
solchen Prüfung gleichfalls die Bindungswirkung der erteilten
Entsendebescheinigungen entgegen. Nach der - für den Senat
bindenden - Auffassung des Europäischen Gerichtshofes sind die
Gerichte des Gaststaates nicht befugt, die der Entsendebescheinigung
zugrunde liegenden Tatsachen einer eigenständigen
Überprüfung zu unterziehen (vgl. Urteil vom 26.
Januar 2006, Rs. C-2/05 Rdn. 32 f.). Die Annahme eines Beitragsbetruges
widerspräche einer solchen Bindung. Denn sie setzt die
Bewertung voraus, dass es an den tatsächlichen Voraussetzungen
einer Entsendung fehlt, diese dem ausländischen
Versicherungsträger vielmehr nur vorgetäuscht wurden
und die von ihm ausgestellte Bescheinigung auf einer fehlerhaften
Tatsachengrundlage beruht.
32
- 18 -
Der Senat braucht vorliegend nicht zu entscheiden, welche Rechtsfolgen
ein möglicher Widerruf der erteilten E 101-Bescheinigungen
durch die ausstellende Behörde hätte, doch
könnte bei erschlichenen Bescheinigungen Betrug zum Nachteil
deutscher Sozialversicherungsträger nahe liegen.
33
Da mithin lediglich ein Mangel der rechtlichen Würdigung
vorliegt und weitergehende Feststellungen ausscheiden, kann der Senat
in der Sache selbst entscheiden. Die Entscheidung über die
Verpflichtung zur Entschädigung für
Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist vom
Landgericht zu treffen, weil Art und Umfang der
entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere
Feststellungen und ohne weitere Anhörung der Beteiligten nicht
zu bestimmen sind (vgl. BGH StV 2002, 422, 423). Der Senat weist im
übrigen klarstellend darauf hin, dass die in die Gesamtstrafe
gegenüber dem Angeklagten H. gem. § 55 StGB
einbezogenen Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung von
dem Freispruch nicht berührt werden. Insoweit verbleibt es bei
der in dem früheren Erkenntnis gebildeten Gesamtstrafe, deren
Auflösung mit Aufhebung des landgerichtlichen Urteils
entfallen ist.
34
Nack Kolz Hebenstreit
Elf Graf |