BGH,
Urt. v. 25.1.2006 - 2 StR 345/05
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL 2 StR 345/05
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
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StGB § 177 Abs. 1 Nr. 3
Der objektive Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt
voraus, dass das Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen
Ausgeliefertseins aus Furcht vor möglichen Einwirkungen des
Täters auf einen ihm grundsätzlich möglichen
Widerstand verzichtet. Der subjektive Tatbestand setzt zumindest
bedingten Vorsatz dahin gehend voraus, dass das Tatopfer in die
sexuelle Handlung nicht einwilligt und dass es gerade im Hinblick auf
seine Schutzlosigkeit auf möglichen Widerstand verzichtet (im
Anschluss an BGHSt 45, 253). BGH, Urt. vom 25.1.2006 - 2 StR 345/05 -
Landgericht Meiningen vom 25.01.2006
in der Strafsache gegen
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wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u. a.
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat aufgrund der Verhandlung
vom 11.01.2006 in der Sitzung am 25.01.2006, an denen teilgenommen
haben: Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan,
Richter am Bundesgerichtshof Dr. Bode, Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Otten, Richter am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Fischer, Richterin am
Bundesgerichtshof Roggenbuck, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,
Rechtsanwältin in der Verhandlung als
Nebenklägervertreterin, Justizangestellte als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
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1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Meiningen vom 6. April 2005 im Schuldspruch dahin geändert,
dass der Angeklagte des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in
vier Fällen schuldig ist. 2. Im Übrigen wird die
Revision verworfen. 3. Der Angeklagte hat die Kosten seines
Rechtsmittels sowie die der Nebenklägerin hierdurch
entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen. Von Rechts wegen
Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren
sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit Vergewaltigung
(Tat II.1: Einzelstrafe vier Jahre) unter Einbeziehung der
Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren sowie wegen schweren
sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen
(Fälle II.2 bis II.4; Einzelstrafen jeweils drei Jahre) zu
einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren
verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung angeordnet. Seine auf Verfahrensrügen
sowie die Sachrüge gestützte Revision führt
zur Änderung des Schuldspruchs; im Übrigen ist sie
unbegründet. 1 1. Die Verfahrensrügen sind aus den
vom Generalbundesanwalt zutreffend dargelegten Gründen
offensichtlich unbegründet. 2
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Die Sachrüge ist unbegründet, soweit sie sich gegen
die Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs
eines Kindes in den Fällen II.1 bis II.4 wendet. Insbesondere
begegnet auch die Annahme voller Schuldfähigkeit in allen
Fällen keinen rechtlichen Bedenken. Dagegen hält der
Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener Vergewaltigung im Fall
II.1 rechtlicher Überprüfung nicht stand. 3 2. a)
Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte seit 1999
mit der Mutter der im Februar 1996 geborenen Nebenklägerin M.
G. zusammen. Im Fall II.1 war der Angeklagte im Sommer 2001 mit seinem
einjährigen Sohn und der damals fünf Jahre alten
Nebenklägerin allein in der Wohnung. Er rief diese zu sich ins
Wohnzimmer, wo beide zunächst fernsahen. Dann legte er sich
mit dem Kind auf den Teppich, entkleidete die Nebenklägerin
sowie sich selbst und führte einen angefeuchteten Finger in
den Anus des Kindes ein. M. verspürte Schmerzen und sagte dem
Angeklagten, er solle aufhören. Dieser führte jedoch
nun, obgleich das Kind wegen der heftigen Schmerzen weinte und ihn bat
aufzuhören, Analverkehr bis zum Samenerguss durch. 4 In den
Fällen II.2 und II.3 rief der Angeklagte, der im Zeitraum bis
Oktober 2003 im Kinderzimmer übernachtete, M. jeweils zu sich
ins Bett und entkleidete ihren Unterkörper. Er befeuchtete
jeweils den Anus des Kindes mit Speichel und fragte die
Nebenklägerin, ob er den Analverkehr durchführen
dürfe. Obgleich das Kind dies verneinte, vollzog er sodann den
Analverkehr bis zum Samenerguss. Das Kind weinte in beiden
Fällen, da es Schmerzen verspürte. Da seine
Lebensgefährtin im Schlafzimmer der Wohnung schlief, hielt der
Angeklagte M. die Hand vor den Mund, um ihr Weinen zu dämpfen.
Er versprach ihr als Belohnung einen Puppenwagen. 5
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Im Fall II.4 schlich der Angeklagte in einer Nacht im November 2003 in
das Kinderzimmer, legte sich neben M. und vollzog sodann wiederum den
Analverkehr bis zum Samenerguss. Da das Kind vor Schmerzen weinte,
hielt er ihm die Hand vor den Mund, um nicht entdeckt zu werden. 6 7 b)
Der Angeklagte hat sich in der Hauptverhandlung dahin gehend
eingelassen, er habe bei M. die Nähe und körperliche
Wärme gesucht, die ihm seine Lebensgefährtin nicht
mehr gegeben habe. Die Nebenklägerin hat in ihrer Aussage den
Angeklagten nur zögerlich belastet und mehrfach betont, der
Angeklagte sei meist "sehr lieb" zu ihr gewesen. Der Angeklagte ist
durch Urteil vom 14. März 2003 wegen sexuellen Missbrauchs
eines Kindes in einem und wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines
Kindes in neun Fällen rechtskräftig zu Einzelstrafen
von einem Jahr und sechs Monaten und neun Mal neun Monaten
(Gesamtfreiheitsstrafe: drei Jahre) verurteilt worden; diese
Einzelstrafen sind in die vorliegend nachträglich gebildete
erste Gesamtfreiheitsstrafe einbezogen worden. Dem lag zu Grunde, dass
der Angeklagte zwischen November 1996 und September 1997 in mindestens
zehn Fällen ungeschützten Geschlechtsverkehr mit
einem 11-jährigen Mädchen aus der Nachbarschaft
ausgeführt hatte. Zwischen diesem Kind und dem Angeklagten
entwickelte sich eine quasi partnerschaftliche Beziehung, die sexuellen
Kontakte fanden einvernehmlich statt. 8 c) Das Landgericht hat in allen
vier Fällen die Voraussetzungen des schweren sexuellen
Missbrauchs eines Kindes gemäß §§
176 Abs. 1, 176a Abs. 1 Nr. 1 StGB als gegeben angesehen. Im Fall II.1
hat es den Angeklagten daneben auch wegen Vergewaltigung in der
Tatvariante des Ausnutzens einer schutzlosen Lage
gemäß § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 1 StGB
verurteilt. Das Kind sei hier den Einwirkungen des Angeklagten "mangels
sonstiger anwesen-9
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der Erwachsener" schutzlos ausgeliefert gewesen; diesen Umstand habe
der Angeklagte gekannt und ausgenutzt (UA S. 5). In den Fällen
II.2 bis II.4 habe dagegen eine schutzlose Lage nicht vorgelegen, da in
diesen Fällen die Mutter des Kindes in einem anderen Raum der
Wohnung geschlafen habe (UA S. 12). Auch Gewalt im Sinne von §
177 Abs. 1 Nr. 1 StGB sei in diesen Fällen nicht
festzustellen. 3. Die Verurteilung auch wegen Vergewaltigung im Fall
II.1 wird von den Feststellungen nicht getragen. 10 a) Zutreffend hat
das Landgericht hier die Voraussetzungen einer schutzlosen Lage im
Sinne von § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB als gegeben angesehen. Zwar
hat es diese Feststellung ohne weitere Erwägung allein auf den
Umstand gestützt, dass sich im Fall II.1 außer dem
Angeklagten und dem Tatopfer keine weitere (erwachsene) Person in der
Mietwohnung befand, während in den Fällen II.2 bis
II.4 jeweils die Mutter des Tatopfers in einem anderen Raum der Wohnung
schlief. Auf den Umstand des Alleinseins von zwei Personen in einer
Wohnung oder einer anderen nach außen abgegrenzten
Räumlichkeit kann aber, wie der Senat schon im Urteil vom
21.12.2005 - 2 StR 245/05 - ausgeführt hat, nicht schon ohne
weiteres die Feststellung gestützt werden, die betroffene
Person habe sich in einer Lage befunden, in welcher sie den
Einwirkungen der anderen Person schutzlos ausgeliefert war.
Hierfür kommt es vielmehr auf eine Gesamtwürdigung
aller tatbestandsspezifischen Umstände an. Eine Trennung
zwischen äußeren und inneren, etwa in der
körperlichen oder psychischen Konstitution des Tatopfers
liegenden Umständen, wie sie in Entscheidungen des 3. und 4.
Strafsenats vorgenommen worden ist (vgl. BGH NStZ 2003, 533; 2005, 267,
268), ist häufig kaum möglich und auch vom Tatbestand
des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht vorausgesetzt (vgl. BGHSt
45, 253, 256). Es kommt vielmehr allein darauf an, dass das Tatopfer
nach objektiver ex-11
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ante-Prognose möglichen nötigenden Gewalteinwirkungen
des Täters schutzlos ausgeliefert wäre, d. h. ihnen
weder mit Aussicht auf Erfolg körperlichen Widerstand entgegen
setzen noch sich ihnen durch Flucht entziehen noch auf die Abwendung
durch Hilfe dritter Personen hoffen könnte (vgl.
MüKo-Renzikowski § 177 Rdn. 40;
Laufhütte/Roggenbuck in LK 11. Aufl., Nachtrag zu §
177 Rdn. 2; Wolters/Horn in SK-StGB 6. Aufl., § 177 Rdn. 13a
f.; Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl., § 177 Rdn. 27
ff.; jeweils m.w.N.). Umstände in den
äußeren Gegebenheiten, in der Person des Opfers oder
des Täters können sich insoweit ergänzen,
sich aber auch entgegen stehen oder einander ausschließen.
Eine solche Gesamtwürdigung hat das Landgericht nicht
ausdrücklich vorgenommen. Für die Anwendung des
Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB kann aus
deliktstypischen Besonderheiten bei Taten des sexuellen Missbrauchs von
Kindern nicht die Folgerung gezogen werden, schon das objektive Merkmal
der Lage schutzlosen Ausgeliefertseins sei anhand isolierter Kriterien
(hier etwa: Anwesenheit einer schlafenden dritten Person in einem
anderen Raum der Wohnung) einzuschränken. Vielmehr kommt es
auf eine Gesamtwürdigung aller äußeren und
in der Person der Beteiligten liegenden Umstände an. 12 Bei
Anwendung zutreffender Maßstäbe ergeben sich
vorliegend aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe in
hinreichendem Umfang Umstände, welche jedenfalls im Fall II.1
die Feststellung einer schutzlosen Lage rechtfertigen. Dies
drängt sich insbesondere angesichts des Alters der
Nebenklägerin von nur fünf Jahren auf und bedurfte
daher hier keiner ausdrücklichen näheren Darlegung.
Ob bei umfassender Würdigung eine schutzlose Lage auch in den
Fällen II.2 bis II.4 anzunehmen gewesen wäre, kann
offen bleiben, da ihre Verneinung den Revisionsführer nicht
beschwert. 13
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b) Jedoch sind hier die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen des
§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht gegeben. 14 15 aa) Der Senat hat
entschieden, dass der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB
schon mit der Vornahme einer sexuellen Handlung ohne oder gegen den
Willen des Tatopfers gegeben sei, wenn der Täter hierbei eine
schutzlose Lage ausnutzt (vgl. Senatsentscheidungen BGHSt 45, 253, 260;
NStZ-RR 2003, 42; NStZ 2004, 440, 441; ebenso der 4. Strafsenat im
Urteil vom 25. Oktober 2001 - 4 StR 262/01, NStZ 2002, 199, 200). Im
Urteil vom 28. Januar 2004 - 2 StR 351/03 (NStZ 2004, 440) hat der
Senat für eine auf äußeren
Umständen beruhende schutzlose Lage eines Kindes weiter gehend
entschieden, es komme nicht darauf an, ob das Opfer selbst die objektiv
gegebene Schutzlosigkeit seiner Lage erkennt und ob es sich vor
Zwangshandlungen des Täters fürchtet; ausreichend sei
vielmehr, dass das Opfer die sexuelle Handlung nicht will und dass der
Täter dies mindestens billigend in Kauf nimmt und die Lage der
Schutzlosigkeit ausnutzt. Dies ist in Entscheidungen anderer Senate des
Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. vom 27. März 2003 - 3 StR 446/02
= NStZ 2003, 533; Beschl. vom 14. Februar 2005 - 3 StR 230/04 = StV
2005, 269; Beschl. vom 1. Juli 2004 - 4 StR 229/04 = NStZ 2005, 267;
Beschl. vom 9. August 2005 - 3 StR 464/05; Beschl. vom 26. August 2005
- 3 StR 260/05 = StV 2006, 15; vgl. auch Pfister NStZ-RR 2004, 356)
sowie in der Literatur auf Kritik gestoßen (vgl.
Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl. § 177 Rdn. 38 ff.,
Renzikowski in MüKo-StGB § 177 Rdn. 46 f.;
Lenckner/Perron in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl.
§ 177 Rdn. 11; Horn/Wolters in SK-StGB 7. Aufl., §
177 Rdn. 14 a; Gössel, Das neue Sexualstrafrecht, 2005,
§ 2 Rdn. 39; jew. m. w. Nachw.). Der Senat hat im Urteil vom
21.12.2005 - 2 StR 245/05 - offen gelassen, ob an der in der Ent-16
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scheidung vom 28. Januar 2004 - 2 StR 351/03 (NStZ 2004, 440)
dargelegten Rechtsansicht festzuhalten sei. 17 Der vorliegende Fall hat
Anlass zur nochmaligen Prüfung gegeben. Im Ergebnis
hält der Senat die Einwände für berechtigt,
soweit sie sich gegen den Verzicht auf eine subjektive
Verknüpfung zwischen der Zwangslage des Tatopfers und der
Nötigungswirkung der Täterhandlung richten. Er
hält daher an der Rechtsprechung nicht fest, wonach es
für die Vollendung des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht
darauf ankomme, ob das Tatopfer selbst die Schutzlosigkeit seiner Lage
erkennt und im Hinblick hierauf, d. h. aus Furcht vor
Gewalteinwirkungen des Täters, auf körperlichen
Widerstand verzichtet. Eine solche Auslegung des Tatbestands
überschreitet zwar nicht die Wortlautgrenze und
verstößt daher nicht gegen das Bestimmtheitsgebot
(BVerfG NJW 2004, 3768 mit Bespr. Güntge NJW 2004, 3750). Der
Wortlaut der Vorschrift legt sie aber auch nicht nahe. Sie entfernt
sich überdies von gesetzgeberischen Zwecken und führt
zu systematischen Problemen in der Abgrenzung zu anderen
Tatbeständen sowie zur Ungleichgewichtigkeit der Tatvarianten
des § 177 Abs. 1 StGB. bb) Aus den Gesetzesmaterialien (vgl.
BT-Drucks. 13/323, S. 1, 5; BT-Drucks. 13/2463, S. 1, 6; BT-Drucks.
13/7324, S. 1, 6; BT-Drucks. 13/4543, S. 2; BT-Drucks. 13/7663, S. 5)
ergibt sich kein nahe liegender Anhaltspunkt dafür, es komme
für den Tatbestand des Nötigens unter Ausnutzen einer
schutzlosen Lage gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht darauf an,
ob das Tatopfer selbst sein schutzloses Ausgeliefertsein bemerkt hat
und ob sein Verhalten in einem kausalen Zusammenhang hiermit steht.
Dies ergibt sich auch nicht aus Erwägungen des Gesetzgebers
zur Abgrenzung des Nötigungstatbestands des § 177
Abs. 1 Nr. 3 zu dem Missbrauchstatbestand des § 179 Abs. 1
StGB. Danach sollte die Einfügung des § 177 Abs. 1
Nr. 3 den Schutz geistig oder körperlich behinderter Menschen,
deren Widerstandsfähigkeit eingeschränkt ist, 18
- 11 -
vor erzwungenen sexuellen Übergriffen verbessern (BT-Drucks.
13/7663, S. 5). Daher sind von § 177 Fälle nicht
erfasst, in welchen die Widerstandsfähigkeit einer Person
gänzlich aufgehoben ist oder in denen ein eigenen oder fremden
sexuellen Handlungen entgegenstehender Wille des Tatopfers nicht
vorliegt. 19 Der Bundesgerichtshof hat daher mehrfach entschieden,
§ 177 Abs. 1 Nr. 3 erfasse solche Fälle, in denen das
Opfer sexuelle Handlungen über sich ergehen lässt,
weil es sich in hilfloser Lage befindet und Widerstand gegen den
überlegenen Täter aussichtslos erscheint, §
179 Abs. 1 StGB greife dagegen als Auffangtatbestand ein, wenn eine
Beugung eines entgegenstehenden Willens des Tatopfers nicht vorliegt
(vgl. BGHSt 45, 253, 260 f.; BGH, Beschl. vom 22. Februar 2005 - 4 StR
9/05, StraFo 2005, 344 f.; vgl. auch BGH, Beschl. vom 13. 11. 2002 - 4
StR 438/02, BGHR StGB § 179 Abs. 1
Widerstandsunfähigkeit 9). Ein vom Rechtsausschuss des
Bundestags geforderter Bericht der Bundesregierung (vgl. BT-Drucks.
13/7663, S. 5) ist auf der Grundlage einer bundesweiten Praxisbefragung
zu dem Ergebnis gelangt, dass § 179 StGB auch weiterhin einen
eigenständigen Anwendungsbereich neben § 177 Abs. 1
Nr. 3 StGB habe. Der Gesetzgeber hat dies zuletzt durch eine
Erweiterung der Vorschrift und eine Angleichung der Strafrahmen
für besonders schwere Fälle und Qualifikationen an
§ 177 StGB durch das Gesetz vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I S.
3007) bestätigt. cc) Nötigen ist das Beugen eines dem
Ansinnen des Täters entgegen stehenden Willens durch
Ausüben von Zwang. Auf eine bestimmte Form des
Täterhandelns oder den Einsatz eines bestimmten Zwangsmittels
kommt es hierbei grundsätzlich nicht an (vgl. im Einzelnen
BGHSt 45, 253, 257 ff.). Voraussetzung einer vollendeten
Nötigung ist, dass das Tatopfer durch die
Nötigungshandlung zu einem seinem Willen entgegen stehenden
Verhalten veranlasst wird, dass also das Vornehmen eigener oder Dulden
fremder Handlungen 20
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auf einem dem Täter zuzurechnenden Zwang beruht. Diese kausale
Verknüpfung ist nach Ansicht des Senats auch für die
beiden Varianten des Nötigungs-Tatbestands des § 177
Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht entbehrlich. Da der Einsatz eines spezifischen
Zwangsmittels hier aber - anders als in § 177 Abs. 1 Nr. 1 und
Nr. 2 - nicht vorausgesetzt ist, muss sich die Zwangswirkung aus den
Umständen ergeben, welche die Lage konstituieren, in der das
Opfer möglichen Gewalt-Einwirkungen des Täters
schutzlos ausgeliefert ist. Käme es auf die Zwangswirkung der
spezifischen Schutzlosigkeit nicht an, so wäre kein Grund
ersichtlich, warum das Gesetz gerade sie zur Voraussetzung einer
Nötigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 macht.
Schutzlosigkeit gegenüber nötigenden
Gewalteinwirkungen des Täters kann nur dann Zwangswirkung auf
das Tatopfer entfalten, wenn dieses solche Einwirkungen
fürchtet und im Hinblick hierauf entgegen seinem eigenen
Willen sexuelle Handlungen vornimmt oder duldet. Wenn eine Person, die
weder durch Gewalt noch durch Drohung genötigt wird, sich
für den Fall der Weigerung auch nicht vor der
Zufügung von Übeln fürchtet, so gibt es
für sie keinen Grund, gegen ihren Willen eine eigene Handlung
vorzunehmen oder eine fremde Handlung zu dulden. Eine Lage der
„Schutzlosigkeit“ wäre in diesem Fall
für das Verhalten der betroffenen Person nicht kausal (vgl.
Horn/Wolters aaO § 177 Rdn. 14a; Tröndle/Fischer aaO
§ 177 Rdn. 39). 21 Wie der Senat im Urteil vom 20. Oktober
1999 dargelegt hat, soll § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB aber
Fälle erfassen, in denen das Opfer ohne Anwendung von Gewalt
oder (qualifizierter) Drohung durch den Täter dessen sexuelle
Handlung über sich ergehen lässt, weil es sich in
einer hilflosen Lage befindet und Widerstand gegen den
überlegenen Täter aussichtslos erscheint (BGHSt 45,
253, 259 f.). Dies setzt, worauf der 3. und 4. Strafsenat zutreffend
hingewiesen haben (BGH NStZ 2003, 533; StV 2005, 269; NStZ 2005, 356;
StV 2006, 22
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15, 16; Beschl. vom 9. August 2005 - 3 StR 464/05), notwendig voraus,
dass das Opfer des §177 Abs. 1 Nr. 3 StGB die
tatsächlichen Umstände seiner spezifischen Zwangslage
(Schutzlosigkeit) erkennt und gerade im Hinblick hierauf,
nämlich aus Furcht vor möglichen Gewalteinwirkungen
des Täters, von Widerstand absieht, ohne aber seinen den
sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen aufzugeben. dd) Bei einem
Verzicht auf das subjektive Zwangselement ergeben sich im
Übrigen Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zwischen sexueller
Nötigung und sexuellem Missbrauch (vgl.
Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 40;
MüKo-Renzikowski aaO § 177 Rdn. 46; Horn/Wolters aaO
§ 177 Rdn. 14a). 23 Im Gesetzgebungsverfahren des 33.
StÄG und des 6. StrRG war nicht beabsichtigt, den
Anwendungsbereich der §§ 176, 176a
einzuschränken. Dass Kinder sich in den Fällen des
§ 176 StGB aufgrund ihrer physischen und psychischen
Konstitution fast regelmäßig in einer schutzlosen
Lage befinden, ist in den Beratungen nicht thematisiert worden. Wenn
auf eine subjektive Zwangswirkung beim Tatopfer der sexuellen
Nötigung verzichtet würde, so hätte dies
aber zur Folge, dass in den typischen Fällen des sexuellen
Missbrauchs eines Kindes regelmäßig § 177
Abs. 1 Nr. 3 StGB anwendbar und das Vergehen des sexuellen Missbrauchs
nur noch aus Gründen der Strafzumessung von Bedeutung
wäre. Damit würde der gefestigte Deliktstypus des
sexuellen Missbrauchs zum bloßen Anhängsel eines
umfassenden „Nötigungs“-Tatbestands. Dass
der Gesetzgeber dies nicht gewollt hat, ergibt sich auch daraus, dass
er nach intensiver Diskussion in Kenntnis der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs zu § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB im Gesetz vom
27.12.2003 (BGBl. I S. 3007) entschieden hat, den Grundfall des
sexuellen Missbrauchs von Kindern weiterhin nur als Vergehen unter
Strafe zu stellen (BT-Drucks. 15/350, S. 17; vgl. auch BT-Drucks.
14/8778, S. 5), und dass er im Übrigen weit reichende
Änderungen der 24
- 14 -
§§ 176, 176a StGB vorgenommen und die Strafrahmen an
die des § 177 StGB angeglichen hat. 25 Soweit in der
Entscheidung NStZ 2004, 440, 441 darauf hingewiesen ist, ein
Anwendungsbereich der §§ 176, 176a bleibe
für Fälle erhalten, in denen kindliche Opfer
sexuellen Handlungen zustimmen, engt dies den eigenständigen
Bereich der genannten Vorschriften zu sehr ein und wird der
regelmäßigen Tatsituation des § 176 StGB
nicht gerecht. Es ist nicht nahe liegend anzunehmen, dass eine
nennenswerte Anzahl von missbrauchten Kindern in die sexuellen
Handlungen tatsächlich bewusst einwilligt oder dass der
Täter dies jeweils annimmt. Kennzeichnend für das
Delikt sind vielmehr Unterordnung unter den Willen des Täters
aus Abhängigkeit, undifferenziertem kindlichen Vertrauen,
vager Furcht vor Missstimmung oder Entzug von Zuwendung, vor Trennung
oder Verlust der Familie, usw. Es ist gerade das Kennzeichen des
Delikts des sexuellen Missbrauchs von Kindern, dass die für
Erwachsene geltenden Abgrenzungen zwischen „Zwang“
und „Missbrauch“ hier oft nur
eingeschränkt, jedenfalls aber nur unter
Berücksichtigung der Besonderheiten der kindlichen Psyche
angewandt werden können (vgl. dazu auch Eisenberg,
Kriminologie 6. Aufl., § 55 Rdn. 6 ff. m. w. N.). ee) Im
Ergebnis erweisen sich die Bedenken gegen einen Verzicht auf eine
subjektive Zwangswirkung der Schutzlosigkeit als durchgreifend. Wie in
den Fällen des § 177 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StGB ist
daher für die Vollendung der Variante des Abs. 1 Nr. 3 ein
funktionaler und finaler Zusammenhang zwischen objektivem
Nötigungselement (Schutzlosigkeit vor Gewalteinwirkungen),
Opferverhalten (Dulden oder Vornehmen einer sexuellen Handlung) und
Täterhandlung erforderlich. Das bloße objektive
Vorliegen von Schutzlosigkeit - als Gesamtbewertung
äußerer und in den Personen liegender
Umstände - reicht nicht aus, wenn die betroffene Person ihre
tatbestandsspezifische Schutzlosig-26
- 15 -
keit gar nicht erkennt oder sexuelle Handlungen nicht aus Furcht vor
drohenden „Einwirkungen“, sondern aus anderen
Gründen duldet oder vornimmt, oder wenn eine Person durch
sexuelle Handlungen in einer Situation, in welcher es sich ihrer nicht
versieht, überrascht wird, ohne dass das Bewusstsein von der
Schutzlosigkeit eine Zwangswirkung entfaltet. Der objektive Tatbestand
des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt vielmehr voraus, dass das
Tatopfer unter dem Eindruck seines schutzlosen Ausgeliefertseins aus
Furcht vor möglichen Einwirkungen des Täters auf
einen ihm grundsätzlich möglichen Widerstand
verzichtet. Der subjektive Tatbestand setzt zumindest bedingten Vorsatz
dahin gehend voraus, dass das Tatopfer in die sexuelle Handlung nicht
einwilligt und dass es gerade im Hinblick auf seine Schutzlosigkeit auf
möglichen Widerstand verzichtet. Nimmt der Täter dies
irrig an, so ist ein Versuch des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB
gegeben. Ein solcher Zwangszusammenhang kann auch in Fällen
des sexuellen Missbrauchs von Kindern nach den Umständen des
Einzelfalls nahe liegen. Sein Vorliegen ergibt sich aber nicht schon
allein daraus, dass das betroffene Kind dem erwachsenen Täter
- regelmäßig - körperlich unterlegen ist
oder dass eine Missbrauchstat, wie in den weitaus meisten
Fällen der §§ 176, 176a StGB, in einer
Tatsituation begangen wird, in welcher das Opfer objektiv schutzlos
ist. Vielmehr sind hier die deliktsspezifischen kriminologischen und
psychologischen Bedingungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern zu
berücksichtigen. Es ist im Einzelfall anhand einer umfassenden
Würdigung der die Tat prägenden Umstände zu
prüfen, ob der Täter aufgrund der
missbräuchlichen Ausnutzung typischer kindlicher
Unterlegenheit und Abhängigkeit zu seinem Ziel gelangt ist und
gelangen wollte oder ob es sich um einen von § 177 Abs. 1 Nr.
3 erfassten Fall nötigender Ausnutzung einer konkretisierten
Furcht des Kindes vor körperlicher Gewalteinwirkung gehandelt
hat. 27
- 16 -
c) Bei Anwendung dieser Maßstäbe wird die Annahme
des § 177 Abs. 1 Nr. 3 im Fall II.1 der Urteilsgründe
durch die Feststellungen des Landgerichts nicht getragen.
Feststellungen zum subjektiven Vorstellungsbild der
Nebenklägerin und des Angeklagten hat das Landgericht auf der
Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Senats nicht getroffen;
insbesondere ist nicht festgestellt, dass das Kind sich in der
Tatsituation vor Gewalteinwirkungen des Angeklagten fürchtete
und dass der Angeklagte dies erkannte oder billigend in Kauf nahm. Die
Nebenklägerin hat den Angeklagten vielmehr
ausdrücklich als im Allgemeinen „sehr
lieb“ beschrieben. Dies unterscheidet den Fall von dem durch
Senatsbeschluss vom 21.12.2005 - 2 StR 245/05 - entschiedenen Fall, in
welchem die sexuellen Übergriffe des Täters in einem
familiären „Klima der Gewalt“ und
Einschüchterung stattfanden. Auch hat sich das Entfallen des
die Schutzlosigkeit begründenden Umstands (Abwesenheit der
Mutter) in den Fällen II.2 bis II.4 auf das Verhalten des
Kindes nicht ausgewirkt. Dies spricht dagegen, dass seine
Fügsamkeit im Fall II.1 gerade auf diesem Umstand beruhte. 28
d) Dass eine neue Hauptverhandlung mit einer abermaligen intensiven und
belastenden Vernehmung der Nebenklägerin zu weiter gehenden
Feststellungen führen würde, welche eine Verurteilung
auch wegen Vergewaltigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB
oder deren Versuch im Fall II.1 der Urteilsgründe tragen
würde, schließt der Senat aus. Er hat daher den
Schuldspruch geändert. 29 4. Das Entfallen der Verurteilung
auch wegen Vergewaltigung im Fall II.1 der Urteilsgründe
führt hier nicht zur Aufhebung des Strafausspruchs. Das
Landgericht hat die Verhängung der Einzelstrafe von vier
Jahren in diesem Fall im Unterschied zu den Einzelstrafen von jeweils
drei Jahren in den übrigen Fällen nicht
näher begründet. Auch wenn die Höhe der
Einzelstrafe auf der rechts-30
- 17 -
fehlerhaften Annahme tateinheitlicher Verwirklichung des § 177
Abs. 1 beruhen sollte, wäre die Einzelstrafe in dieser
Höhe aber jedenfalls angemessen (§ 354 Abs. 1a S. 1
StPO). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es sich um die
erste Tat der Tatserie handelte und der Angeklagte hier erstmals die
Hemmschwelle zur Tatbegehung überschritt. Auch die besonders
gravierende Tatausführung an einem nur fünf Jahre
alten Kind lässt die Einzelstrafe als angemessen erscheinen.
Die milden Einzelstrafen in den Fällen II.2 bis II.4
beschweren den Angeklagten nicht. 5. Auch die
Maßregelanordnung ist rechtsfehlerfrei und kann bestehen
bleiben. Die formellen Voraussetzungen des § 66 Abs. 2 und
Abs. 3 S. 2 StGB liegen unzweifelhaft vor. Auch die materiellen
Voraussetzungen sind hinreichend festgestellt. Das gilt auch
für die Voraussetzungen eines Hangs im Sinne von § 66
Abs. 1 Nr. 3 StGB. Zwar enthält das Urteil insoweit
zunächst nur Ausführungen zur Gefährlichkeit
des Angeklagten (UA S. 11 f.); aus dem Gesamtzusammenhang der
Urteilsgründe, namentlich auch aus den Ausführungen
zur Maßregelanordnung (UA S. 14 f.), ergibt sich jedoch mit
hinreichender Deutlichkeit, dass das Landgericht die Prognose der
Gefährlichkeit auf die zutreffend begründete Annahme
eines Hangs zu schweren Straftaten im Sinne von § 66 Abs. 1
Nr. 3 StGB gestützt hat. 31
- 18 -
6. Der geringfügige Erfolg der Revision rechtfertigt eine
Kostenentscheidung gemäß § 473 Abs. 4 StPO
nicht. 32
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