BGH,
Urt. v. 25.7.2000 - 1 StR 169/00
StPO § 141 Abs. 3, MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. d
1. Ist abzusehen, daß die Mitwirkung eines Verteidigers im
gerichtlichen Verfahren notwendig sein wird, so ist § 141 Abs.
3 StPO im Lichte des von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierten
Fragerechts dahin auszulegen, daß dem unverteidigten
Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung
durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung des
zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger zu bestellen ist, wenn der
Beschuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen
ist.
2. Der Verteidiger muß regelmäßig
Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu
besprechen.
3. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert den
Beweiswert des Vernehmungsergebnisses. Auf die Angaben des
Vernehmungsrichters kann eine Feststellung
regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn
diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte
außerhalb der Aussage bestätigt werden.
BGH, Urt. vom 25. Juli 2000 - 1 StR 169/00 - LG Ravensburg
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 169/00
vom
25. Juli 2000
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25.
Juli 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Maul, Nack, Dr. Boetticher, Dr. Kolz,
Staatsanwalt als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwälte , und Rechtsanwältin als Verteidiger,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Ravensburg vom 16. Dezember 1999 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Sexualdelikten (u.a.
Vergewaltigung) zum Nachteil seiner Tochter zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die Revision
des Angeklagten hat mit einer auf den Verstoß gegen das faire
Verfahren (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) gestützten
Verfahrensrüge Erfolg.
I.
Zentral für die Überführung des die Tat
bestreitenden Angeklagten ist die Aussage der Geschädigten vor
dem Ermittlungsrichter. Dieser wurde als Zeuge gehört, nachdem
die Geschädigte in der Hauptverhandlung von ihrem
Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte.
Die Revision macht mit einer Verfahrensrüge geltend, die
ermittlungsrichterliche Vernehmung leide an einem schwerwiegenden
Mangel. Bei der Vernehmung der Geschädigten habe der
Ermittlungsrichter den nicht in Freiheit befindlichen und noch nicht
verteidigten Angeklagten nach § 168c Abs. 3 StPO von der
Anwesenheit ausgeschlossen und zugleich nach § 168c Abs. 5
Satz 2 StPO angeordnet, daß eine Benachrichtigung von dem
Vernehmungstermin zu unterbleiben habe. Eine Verteidigerbestellung vor
der Vernehmung sei nicht erfolgt. Gleichwohl habe das Landgericht die
Verurteilung entscheidend auf die Bekundungen der Geschädigten
vor dem Ermittlungsrichter gestützt, wobei keine anderen
wichtigen Beweismittel vorgelegen hätten. In dieser
Vorgehensweise liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 Buchst.
d MRK in Verbindung mit § 141 Abs. 3 StPO. Die Revision
bezieht sich insoweit auf die Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 24. November 1986 (EuGRZ
1987, 147 - Fall Unterpertinger).
Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
Anfang November 1997, kurz nach der letzten Tat, flüchtete die
Geschädigte zu ihrer Tante, der sie von dem sexuellen
Mißbrauch berichtete. Die Tante erstattete am 7. November
1997 Strafanzeige. Gegen den Angeklagten wurde daraufhin ein
Ermittlungsverfahren wegen Verdachts der Vergewaltigung in 304
Fällen eingeleitet. Noch am selben Tage wurde die
Geschädigte polizeilich vernommen. Am 8. November 1997 wurde
der Angeklagte vorläufig festgenommen und - nach Belehrung
nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO - polizeilich vernommen. Am 9.
November 1997 erließ das Amtsgericht Haftbefehl. Dem
Angeklagten wurde eine Vielzahl von Vergehen des sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes und von Verbrechen der sexuellen
Nötigung und der Vergewaltigung zur Last gelegt. Bei der am
selben Tag erfolgten Anhörung durch den Haftrichter wurde der
Angeklagte "darüber belehrt, daß er, bevor er sich
entschließe zum Vorwurf Stellung zu nehmen, einen Anwalt
seiner Wahl zu Rate ziehen könne". Der Angeklagte
äußerte sich dazu nicht. Zu den gegen ihn erhobenen
Vorwürfen machte er keine Angaben.
Noch bevor der Angeklagte einen Verteidiger beauftragt hatte, stellte
die Staatsanwaltschaft am 10. November 1997 beim Amtsgericht den
Antrag, die Geschädigte richterlich zu vernehmen. Dabei sollte
der Angeklagte nach § 168c Abs. 3 StPO von der Anwesenheit
ausgeschlossen werden; auch eine Benachrichtigung sollte unterbleiben.
Diesem Antrag folgte der Ermittlungsrichter und vernahm die
Geschädigte am selben Tag. Die Geschädigte machte
nach Belehrung über ihr Zeugnisverweigerungsrecht Angaben, die
den Angeklagten belasteten.
Am 17. November beauftragte der Angeklagte einen Rechtsanwalt mit
seiner Verteidigung, der sich am Folgetag beim Amtsgericht legitimierte
und um alsbaldige Akteneinsicht und vorab um die Einsichtnahme in die
privilegierten Aktenteile nach § 147 Abs. 3 StPO bat. Mitte
Dezember 1997 gab die Staatsanwaltschaft dem Verteidiger Gelegenheit,
das Protokoll der richterlichen Vernehmung der Geschädigten
einzusehen. Vollständige Akteneinsicht erhielt der Verteidiger
erst Anfang April 1998. Im Rahmen eines Haftbeschwerdeverfahrens wies
der Verteidiger am 20. März 1998 darauf hin, daß es
unklar sei, ob die Geschädigte in der Hauptverhandlung zur
Verfügung stehen würde. Wenn dieser Fall eintreten
würde, hätte der Angeklagte keine
Möglichkeit zur Befragung der Zeugin gehabt, zumal ihm bei der
ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten kein
Verteidiger bestellt worden sei.
Am 30. März 1998 wurden die Ehefrau des Angeklagten und die
Schwester der Geschädigten auf Antrag der Staatsanwaltschaft
vom Ermittlungsrichter vernommen. Auch von der Anwesenheit bei diesen
Vernehmungen wurde der Angeklagte antragsgemäß
ausgeschlossen. Entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft wurde jedoch
der Verteidiger des Angeklagten von den Terminen benachrichtigt; er
nahm an den Vernehmungen teil.
Vor Beginn der Hauptverhandlung teilten die Geschädigte, ihre
Schwester sowie die Ehefrau des Angeklagten dem Gericht mit, sie
würden von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.
Das Landgericht hat deshalb den Ermittlungsrichter als Zeugen
gehört, der bekundete, was diese Zeugen des Angeklagten bei
ihm ausgesagt hatten. Gegen den vor der Vernehmung des
Ermittlungsrichters erhobenen Widerspruch des Verteidigers wurde die
Aussage des Ermittlungsrichters verwertet.
II.
1. Nach Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe d der Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (der im Wortlaut mit Art. 14 Abs. 3
Buchst. e IPbürgR übereinstimmt) hat der Angeklagte
das Recht, "Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu
lassen".
Dieses Fragerecht hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) in zahlreichen Entscheidungen konkretisiert:
Urteile vom 24. No-vember 1986 - 1/1985/87/134 - Unterpertinger gegen
Österreich = EuGRZ 1987, 147; vom 6. Dezember 1988 -
24/1986/122/171-173 - Barberà gegen Spanien; vom 7. Juli
1989 - 19/1987/142/196 - Bricmont gegen Belgien; vom 20. November 1989
- 10/1988/154/208 - Kostovski gegen Niederlande = StV 1990, 481; vom
27. September 1990 - 25/1989/185/245 - Windisch gegen
Österreich = StV 1991, 193; vom 19. Dezember 1990 -
26/1989/186/246 - Delta gegen Frankreich; vom 19. Februar 1991 -
1/1990/192/252 - Isgrò gegen Italien; vom 19. März
1991 - 24/1990/215/277 - Cardot gegen Frankreich = EuGRZ 1992, 437; vom
26. April 1991 - 30/1990/221/283 - Asch gegen
Österreich = EuGRZ 1992, 474; vom 28. August 1992 -
39/1991/291/362 - Artner gegen Österreich = EuGRZ 1992, 476;
vom 20. September 1993 - 33/1992/378/452 - Saïdi gegen
Frankreich; vom 26. März 1996 - 54/1994/501/583 - Doorson
gegen Niederlande und vom 7. August 1996 - 48/1995/554/640 -
Ferrantelli and Santangelo gegen Italien. Danach gilt:
a) Die Garantie des Fragerechts ist eine besondere Ausformung des
Grundsatzes des fairen Verfahrens - "specific aspect of the general
concept of fair trial - (Fälle Unterpertinger Nr. 29;
Barberà Nr. 67; Kostovski Nr. 39; Windisch Nr. 23; Asch Nr.
25; Ferrantelli u.a. Nr. 51). Dabei wird das Fragerecht auch nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Recht der Verteidigung
insgesamt verstanden (BGH StV 1996, 471).
b) Die Ausgestaltung des Fragerechts ist primär dem nationalen
Recht überlassen (Fälle Kostovski Nr. 39; Windisch
Nr. 25; Asch Nr. 26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; siehe auch
BGHSt 45, 321 und Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl.
Art. 6 MRK Rdn. 216). Das gesamte Beweisverfahren muß
allerdings im Lichte des durch die Konvention garantierten Fragerechts
gesehen werden: "the whole matter of the taking and presentation of
evidence must be looked at in the light of paragraphs ... 3 of Article
6 of the convention" (Fall Barberà Nr. 76).
Die Vertragsstaaten müssen daher das Fragerecht entsprechend
ausgestalten: "Paragraph 1 of Article 6 taken together with paragraph
3, also requires the Contracting States to take positive steps, in
particular ... to enable him [the accused] to examine or have examined
witnesses against him and to obtain the attendance and examination of
witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against
him" (Fall Barberà Nr. 78).
c) Für die Frage eines Konventionsverstoßes kommt es
nach ständiger Rechtsprechung des EGMR darauf an, ob das
Verfahren in seiner Gesamtheit, einschließlich der Art und
Weise der Beweiserhebung fair gewesen ist: "The Court´s task
is to ascertain whether the proceedings considered as a whole,
including the way in which evidence was taken, were fair"
(Fälle Barberà Nr. 89; Windisch Nr. 25; Asch Nr.
26; Saïdi Nr. 43; Doorson Nr. 67; ebenso Gollwitzer aaO Art. 6
MRK Rdn. 216). Insoweit sind maßgebliche Kriterien:
aa) Die Beweisgewinnung muß grundsätzlich in
Anwesenheit des Angeklagten in einer öffentlichen Verhandlung
mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung erfolgen:
"The Court infers, as the Commission did, that all the evidence must in
principle be produced in the presence of the accused at a public
hearing with a view to adversarial argument" (Fälle
Barberà Nr. 78; Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26; Delta Nr.
36; Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43;
Ferrantelli u.a. Nr. 51). Der Angeklagte muß
grundsätzlich Zeugen befragen können: "... the
hearing of witnesses must in general be adversarial" (Fall
Barberà Nr. 78).
bb) Das bedeutet allerdings nicht, daß die Zeugenaussage
stets vor Gericht und öffentlich gemacht werden muß;
auch kann aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK kein Recht abgleitet werden,
bei der Zeugenvernehmung im Vorverfahren anwesend zu sein (Vogler,
Internationaler Kommentar zur Europäischen
Menschenrechtskonvention Art. 6 Rdn. 551). Die Verwertung von Aussagen,
die im Vorverfahren gemacht wurden, ist als solche nicht
konventionswidrig (Fälle Kostovski Nr. 41; Windisch Nr. 26;
Delta Nr. 36; Asch Nr. 27; siehe dazu auch Frowein/Peukert,
EMRK-Kommentar 2. Aufl. Art. 6 Rdn. 200). Das polizeiliche
Vernehmungsprotokoll darf als Surrogat verlesen werden (Fälle
Unterpertinger Nr. 31; Asch Nr. 25), und auch die Vernehmungs-personen
dürfen als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden
(Fälle Kostovski Nr. 42; Asch Nr. 25).
Bei bestimmten Konstellationen darf auf eine Konfrontation des Zeugen
mit dem Angeklagten verzichtet werden, etwa aus Gründen des
Zeugenschutzes (Fälle Unterpertinger Nr. 30; Doorson Nr. 70),
oder wenn zu befürchten ist, daß der Zeuge in
Gegenwart des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde (Vogler aaO
Rdn. 552). Eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen ist
daher nicht in jedem Fall zwingend geboten, um die Aussage verwertbar
zu machen (Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn. 225; vgl. auch Fälle
Bricmont Nrn. 79, 86; Ferrantelli u.a. Nr. 52).
cc) Allerdings muß die Justiz eine solche
Einschränkung des Fragerechts durch andere Maßnahmen
kompensieren: " ... principles of fair trial also require that in
appropriate cases the interests of the defence are balanced
against those of witnesses or victims called upon to testify....
Nevertheless, no violation of Article 6 para. 1 taken together with
Article 6 para. 3 (d) of the Convention can be found if it is
established that the handicaps under which the defence laboured were
sufficiently counterbalanced by the procedures followed by the judicial
authorities" (Fall Doorson Nrn. 70, 72; vgl. auch Fall Kostovski Nr.
43).
Dem Angeklagten muß regelmäßig - entweder
zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem
späteren Verfahrensstadium - eine angemessene und geeignete
Gelegenheit gegeben werden, den Zeugen entweder selbst zu befragen oder
befragen zu lassen: "As a rule, these rights require that an accused
should be given an adequate and proper opportunity to challenge and
question a witness against him, either at the time the witness was
making his statement or at some later stage of the proceedings" (Fall
Kostovski Nr. 41; siehe auch die Fälle Unterpertinger Nr. 31;
Barberà Nr. 86; Windisch Nr. 26; Delta Nr. 36;
Isgrò Nr. 34; Asch Nr. 27; Saïdi Nr. 43;
Ferrantelli u.a. Nr. 51). Gollwitzer (aaO Art. 6 MRK Rdn. 227)
interpretiert dies zutreffend dahin, daß dem auch
nachträglich, etwa durch eine nochmalige Vernehmung des
Zeugen, Rechnung getragen werden kann. Dabei reicht es nicht aus, nur
die Vernehmungsperson befragen zu können, denn Zeuge im Sinne
des Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK ist die originäre
Auskunftsperson (Fälle Kostovski Nr. 40; Asch Nr. 25; ebenso
BGH StV 1996, 471; BGH NStZ 1993, 292; Gollwitzer aaO Art. 6 MRK Rdn.
214, 223).
Unter Umständen kann die Einschränkung des
Fragerechts seitens des Angeklagten dadurch kompensiert werden,
daß wenigstens der Verteidiger bei der Zeugenvernehmung
anwesend ist und den Zeugen befragen kann (Fall Doorson Nrn. 68, 73:
anonymer Zeuge; Vogler aaO Art. 6 Rdn. 552).
dd) Für die Frage eines Konventionsverstoßes ist es
auch bedeutsam, ob der Angeklagte auf die Befragung des Zeugen
rechtzeitig beantragt hat (vgl. einerseits die Fälle Windisch
Nr. 37; Delta Nr. 37: ausdrücklicher Antrag und andererseits
die Fälle Cardot Nr. 35; Asch Nr. 29: keinen Antrag gestellt;
siehe auch Vogler aaO Art. 6 Rdn. 551), und ob die Ablehnung der
Befragung begründet wurde (Fall Bricmont Nr. 89).
d) Eine ähnliche Fallgestaltung wie die vorliegende -
Rückgriff auf frühere Bekundungen eines Zeugen, der
in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch
macht - liegt den österreichischen Fällen
Unterpertinger und Asch zugrunde.
45
aa) Alois Unterpertinger wurde vom Landesgericht Innsbruck wegen zwei
Fällen der Körperverletzung verurteilt. Im ersten
Fall hatte er seiner Stieftochter im Zuge einer Auseinandersetzung
zwischen den Eheleuten (seine Frau hatte ihn einen
"Zuchthäusler" genannt) eine Kratzwunde am Auge
zugefügt. Im zweiten Fall hatte er seiner Ehefrau einen
Fußtritt gegen die Hand versetzt und ihr dabei den Daumen
gebrochen. Zu dem ersten Vorfall vernahm das Gendarmeriepostenkommando
Wörgl die Ehefrau als Verdächtige und die
Stieftochter als Beteiligte. Wegen des zweiten Vorfalls erstattete die
Ehefrau Anzeige beim Gendarmeriepostenkommando Wörgl. Das
Bezirksgericht in
Kufstein leitete Vorerhebungen wegen der beiden Vorfälle ein.
Die Ehefrau wurde vor dem Untersuchungsrichter als Zeugin vernommen und
bestätigte - nach Belehrung über ihr
Zeugnisverweigerungsrecht - ihre bisherigen Angaben.
In der Hauptverhandlung vor dem Landesgericht Innsbruck machten die
Ehefrau und die Stieftochter von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht
Gebrauch. Aufgrund der Zeugnisverweigerung durfte nach § 252
Abs. 1 der Österreichischen Strafprozeßordnung das
Protokoll über die Vernehmung der Ehefrau vor dem
Untersuchungsrichter nicht verlesen werden. Nach
Österreichischem Recht (OGH ÖJZ 1975, 304)
mußten jedoch auf Antrag der Staatsanwaltschaft
Schriftstücke anderer Art (§ 252 Abs. 2 StPO),
insbesondere die Aussagen der Zeuginnen vor der Gendarmerie, zu
Beweiszwecken verlesen werden. Das
Oberlandesgericht Innsbruck verwarf die Berufung des Angeklagten. Bei
der Wiederholung und Ergänzung der Beweisaufnahme konnte die
als Ent-
lastungszeugin gehörte Schwägerin des Angeklagten
nichts relevantes bekunden; weitere Zeugen wurden nicht
gehört, da sie nur zu unwesentlichen Nebenumständen
benannt worden waren.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise kein faires Verfahren und
entschied, daß durch diese Vorgehensweise Art. 6 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK verletzt worden seien. Durch
die Zeugnisverweigerung vor Gericht hätten die Zeuginnen den
Angeklagten daran gehindert, ihnen Fragen zu den vor der Gendarmerie
gemachten Bekundungen zu stellen oder stellen zu lassen. Zwar habe er
Erklärungen dazu abgeben können, aber das
Berufungsgericht sei seinen Beweisanträgen zur
Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen nicht
nachgegangen. Auch wenn die Bekundungen der Zeuginnen nicht die
einzigen Beweismittel gewesen seien, so habe das Berufungsgericht doch
sein Urteil entscheidend auf deren Angaben gestützt. In bezug
auf diese Aussagen seien seine Verteidigungsrechte verletzt worden,
weil er in keinem Stadium des vorausgegangenen Verfahrens die
Möglichkeit gehabt habe, Fragen an die Belastungszeuginnen zu
stellen.
bb) Johann Asch wurde vom Kreisgericht St. Pölten wegen
Nötigung und Körperverletzung verurteilt. Er hatte
seine Lebensgefährtin mit einem Gürtel geschlagen. Am
nächsten Tag schickte der Arzt die Geschädigte in ein
Krankenhaus; die Ärzte attestierten ihre Verletzungen. Danach
zeigte die Lebensgefährtin den Angeklagten bei der Gendarmerie
Brand-Laaben an. Über ihre Bekundungen wurde ein Protokoll
aufgenommen. Wenige Tage später erschien die
Lebensgefährtin bei der Gendarmerie und wollte ihre Anzeige
zurückziehen. Am selben Tag wurde der Angeklagte bei der
Gendarmerie angehört.
In der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht machte die
Lebensgefährtin von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.
Das Kreisgericht hörte daraufhin den Vernehmungsbeamten der
Gendarmerie, der über die ihm gegenüber gemachten
Angaben der Lebensgefährtin und von den ihm dabei gezeigten
Verletzungen berichtete. Auch verlas es das Vernehmungsprotokoll. Das
Kreisgericht stützte sich bei seiner Überzeugung
unter anderem auf die Angaben des Vernehmungsbeamten und die
ärztlichen Atteste. Das Oberlandesgericht Wien verwarf die
Berufung des Angeklagten. Es hielt die Angaben der
Lebensgefährtin vor der Gendarmerie nach § 252 StPO
für verwertbar. Den Antrag des Angeklagten auf Einholung eines
medizinischen Sachverständigengutachtens lehnte das
Oberlandesgericht ab.
Der EGMR sah in dieser Vorgehensweise keine Verletzung des fairen
Verfahrens. Es wäre sicherlich vorzuziehen gewesen, wenn die
persönliche Anhörung der Zeugin möglich
gewesen wäre. Aber das Recht, auf das sie sich zur
Zeugnisverweigerung berief, könne nicht dazu dienen, die
Strafverfolgung lahmzulegen. Wenn nur die Rechte der Verteidigung
beachtet würden, habe das nationale Gericht die Aussage der
Zeugin verwerten können, insbesondere im Hinblick darauf,
daß die Aussage durch weitere Beweismittel, namentlich die
ärztlichen Atteste, gestützt wurde. Zudem habe der
Angeklagte sowohl bei der Gendarmerie als auch vor Gericht Gelegenheit
gehabt, zu den Angaben der Zeugin Stellung zu nehmen; dabei habe er
widersprüchliche Angaben gemacht, die seine eigene
Glaubwürdigkeit erschütterten. Außerdem
habe der Angeklagte weder den Vernehmungsbeamten befragt, noch andere
Zeugen benannt. Ein medizinisches Sachverständigengutachten
habe er erst in der Berufungsinstanz beantragt, zu einem Zeitpunkt, als
Verletzungsspuren nicht mehr feststellbar waren. Vor allem aber sei
klar, daß die Angaben der Zeugin vor der Gendarmerie nicht
das einzige Beweismittel gewesen seien, auf das sich das Kreisgericht
gestützt habe. Das Gericht habe neben anderen Beweismitteln
auch den persönlichen Eindruck des Vernehmungsbeamten und die
ärztlichen Atteste berücksichtigt. Insofern
unterscheide sich der vorliegende Fall von den Fällen
Unterpertinger und Delta.
2. Diese Auslegung der MRK durch den EGMR ist bei der Anwendung des
deutschen Strafprozeßrechts zu berücksichtigen. Der
Senat hat dazu im Urteil vom 18. November 1999 (Tatprovokation,
Umsetzung der Entscheidung Teixeira = NJW 2000, 1123, zur
Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 321)
ausgeführt:
"Es entspricht den Grundregeln des Verfahrens vor dem EGMR,
daß sich seine Entscheidung darauf beschränkt zu
erklären, daß das Gerichtsurteil einer
Vertragspartei der MRK in Widerspruch mit den Verpflichtungen aus
dieser Konvention steht. Gestatten die innerstaatlichen Gesetze der
Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die
Folgen der Entscheidung, so hat der EGMR nach Art. 50 MRK (aufgrund der
am 1. November 1998 in Kraft getretenen Änderung der
Konvention durch das Protokoll Nr. 11 [BGBl. II 1995 S. 578] nunmehr
Art. 41 MRK) der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung
zuzubilligen. Dem EGMR obliegt es somit nicht, nationale Regeln
für die Zulässigkeit von Beweismitteln aufzustellen.
Der Gerichtshof betont dementsprechend, die Zulässigkeit von
Beweismitteln werde in erster Linie durch die Bestimmungen des
innerstaatlichen Rechts geregelt und es sei grundsätzlich
Sache der nationalen Gerichte, die von ihnen zusammengetragenen Beweise
zu würdigen. Die Aufgabe des Gerichtshofs bestehe darin
festzustellen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit
einschließlich der Darstellung der Beweismittel fair gewesen
sei.
Die MRK, die nach Art. II des Zustimmungsgesetzes vom 7. August 1952
Bestandteil des deutschen Rechts geworden ist und dabei im Rang eines
(einfachen) Bundesgesetzes steht (BVerfGE 74, 358, 370), ist als
Auslegungshilfe bei der Anwendung nationalen Rechts zu
berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ist bei den in einem Strafverfahren
angewendeten Gesetzen stets zu prüfen, ob die Anwendung und
Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland steht, ´denn
es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies
nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen
der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher
Verpflichtungen ermöglichen will´ (BVerfGE aaO; vgl.
Ulsamer, FS Zeidler [1987] 1799, 1800)."
III.
Die konventionskonforme Auslegung des deutschen
Strafprozeßrechts - hier § 141 Abs. 3 StPO -
führt dazu, daß in Fällen der vorliegenden
Art dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, vor der
ermittlungsrichterlichen Vernehmung des wichtigen Belastungszeugen ein
Verteidiger bestellt werden muß.
1. Das Gesetz schreibt, wie § 141 Abs. 3 Satz 1 StPO zeigt,
auch in Fällen, in denen später im gerichtlichen
Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird,
für das Vorverfahren nicht ausnahmslos die Bestellung eines
Verteidigers vor. Nach § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO "beantragt"
die Staatsanwaltschaft jedoch schon während des Vorverfahrens
die Bestellung eines Verteidigers, wenn nach ihrer Auffassung in dem
gerichtlichen Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers nach
§ 140 Abs. 1 oder 2 notwendig sein wird.
a) In der traditionellen Sprache des Gesetzes (vgl. auch § 201
Abs. 1 StPO: "Der Vorsitzende des Gerichts teilt die Anklageschrift dem
Angeschuldigten mit" und § 349 Abs. 3 Satz 1 StPO) bedeutet
dies, daß die Staatsanwaltschaft den Antrag stellen
muß, sobald die Mitwirkung des Verteidigers notwendig sein
wird (ähnlich Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44.
Aufl. § 141 Rdn. 5; Pfeiffer, StPO 2. Aufl. § 141
Rdn. 2). "Notwendig sein wird" heißt, daß die
Pflicht zur Antragstellung schon dann entsteht, wenn abzusehen ist,
daß die Mitwirkung notwendig werden wird (Laufhütte
in KK 4. Aufl. § 141 Rdn. 3).
Das zeigt auch die Entstehungsgeschichte des § 141 Abs. 3 StPO
zur Verteidigerbestellung im Vorverfahren. Das StPÄG 1964
fügte an den damals bestehenden Satz, daß der
Verteidiger auch schon während des Vorverfahrens bestellt
werden kann (heutiger Satz 1 des Abs. 3), die Sätze an: "Nach
dem Abschluß der Ermittlungen (§ 169a Abs. 1) ist er
auf Antrag der Staatsanwaltschaft zu bestellen. Die Staatsanwaltschaft
soll den Antrag stellen, falls die Gewährung des
Schlußgehörs in Betracht kommt und nach ihrer
Auffassung in dem gerichtlichen Verfahren die Verteidigung nach
§ 140 Abs. 1 notwendig sein wird." Seine heutige Fassung
erhielt § 141 Abs. 3 StPO durch das 1. StVRG vom 9. Dezember
1974. Die Erweiterung der Verteidigerbestellung und die immer
strengeren Formulierungen der Anweisung an die Staatsanwaltschaft (von
einer Kann- zu einer Soll-Bestimmung und schließlich zu den
Worten "beantragt dies") machen deutlich, daß der Gesetzgeber
die Mitwirkung des Verteidigers im Vorverfahren stärker
ausbauen wollte und deshalb eine Antragspflicht gesetzlich
vorgeschrieben hat.
Zwar bestimmt § 117 Abs. 4 Satz 1 StPO, daß dem
unverteidigten Beschuldigten ein Verteidiger für die Dauer der
Untersuchungshaft bestellt wird, wenn deren Vollzug mindestens drei
Monate gedauert hat und die Staatsanwaltschaft oder der Beschuldigte
oder sein gesetzlicher Vertreter es beantragt. Daraus kann indes nicht
der Schluß gezogen werden, daß die
Staatsanwaltschaft mit der Antragstellung stets drei Monate zuwarten
darf. Diese Regelung stellt angesichts der Gesetzesentwicklung zu
§ 141 Abs. 3 StPO nur eine Mindestgarantie dar (vgl.
Rundverfügung des Hessischen Generalstaatsanwalts vom 11.
Januar 1994 zur Pflichtverteidigung nach einem Monat U-Haft, abgedruckt
in StV 1994, 223).
b) Ob es bei prognostizierter notwendiger Verteidigung
überhaupt Fälle geben kann, in denen davon abgesehen
werden darf, dem Beschuldigten einen Verteidiger zu bestellen, kann
hier dahinstehen.
aa) Jedenfalls dann, wenn die ermittlungsrichterliche Vernehmung eines
wichtigen Belastungszeugen ansteht, bei der der Beschuldigte kein
Anwesenheitsrecht hat, wird in der Regel geboten sein zu
prüfen, ob dem nicht verteidigten Beschuldigten zuvor ein
Verteidiger nach § 141 Abs. 3 StPO zu bestellen ist, der die
Rechte des Beschuldigten bei der Vernehmung wahrnimmt (Wache in KK 4.
Aufl. § 168c Rdn. 8; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO
44. Aufl. § 168c Rdn. 4; vgl. auch Rieß in
Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 168c Rdn. 9). Diese
Prüfung obliegt nach § 141 Abs. 3 StPO in erster
Linie der Staatsanwaltschaft. Dies entbindet den Ermittlungsrichter
indes nicht von der Verantwortung, für ein
konventionsgerechtes Verfahren mit Sorge zu tragen.
bb) Wird darüber hinaus der zentrale
zeugnisverweigerungsberechtigte Belastungszeuge unter
Ausschluß des Beschuldigten aus Gründen der
Beweissicherung ermittlungsrichterlich vernommen, so reduziert sich das
Ermessen bei der Frage der Bestellung eines Verteidigers auf Null.
Anderes mag dann gelten, wenn die durch die Zuziehung eines
Verteidigers bedingte zeitliche Verzögerung den
Untersuchungserfolg gefährden würde. Nur diese
Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO ist mit der Vorgabe der MRK
vereinbar. Andernfalls bestünde die Gefahr, daß das
von Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK garantierte Fragerecht auch im weiteren
Verlauf des Verfahrens nicht gewährleistet werden kann.
2. Hier durfte der Angeklagte zwar von der Anwesenheit bei der
ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschädigten
ausgeschlossen werden und auch seine Benachrichtigung konnte
unterbleiben (§ 168c StPO). Sowohl der Ermittlungsrichter als
auch das erkennende Gericht haben die Gefährdung des
Untersuchungserfolgs geprüft und bejaht. Die
revisionsgerichtliche Prüfung (vgl. dazu BGHSt 29, 1)
läßt Rechtsfehler nicht erkennen, insbesondere liegt
keine Überschreitung der dem tatrichterlichen Ermessen
gesetzten Schranken vor. Daß so verfahren werden kann,
entspricht auch der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 MRK (siehe oben).
Ein Verteidiger konnte nicht benachrichtigt werden, denn der Angeklagte
war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigt.
3. Dieses gesetzlich zulässige "handicap" bei der
Einschränkung des Fragerechts hätte die Justiz dann
aber durch die Bestellung eines Verteidigers für den
unverteidigten Angeklagten ausgleichen müssen.
Bei der im Hinblick auf das faire Verfahren vorzunehmenden
Gesamtbetrachtung ist auch das Vorverfahren - und damit das Handeln der
Staatsanwaltschaft - in den Blick zu nehmen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6
MRK: "dem Staat zuzurechnenden Verfahrensgestaltung"). In
Fällen der vorliegenden Art muß die Justiz von sich
aus aktiv werden mit dem Ziel, daß die Verteidigung (zum
Begriff siehe BGH StV 1996, 471) Gelegenheit hat, Fragen an die
Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen ("requires the
Contracting States to take positive steps": EGMR Fall
Barberà Nr. 78).
Das Fragerecht wäre gewährleistet gewesen, wenn ein
Verteidiger bei der ermittlungsrichterlichen Zeugenvernehmung anwesend
gewesen wäre. Da der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt keinen
Verteidiger hatte, wäre die Staatsanwaltschaft verpflichtet
gewesen, vor der Vernehmung der Zeugin die Bestellung eines
Verteidigers zu beantragen (§ 141 Abs. 3 Satz 2 StPO).
Hier war im Zeitpunkt der richterlichen Vernehmung bereits abzusehen,
daß im gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen des
§ 140 Abs. 1 StPO vorliegen würden. Dem Angeklagten
wurden bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens zahlreiche
Sexualverbrechen (§ 140 Abs. 1 Nr. 2) zur Last gelegt. Die
polizeiliche Vernehmung der Geschädigten hatte einen hohen
Beweiswert. Zu Recht hat deshalb der Haftrichter einen dringenden
Tatverdacht bejaht. Damit war aber auch schon zu diesem Zeitpunkt
abzusehen, daß in dem hochwahrscheinlich zu erwartenden
gerichtlichen Verfahren die Voraussetzungen einer notwendigen
Verteidigung vorliegen würden.
Eine Verletzung des Fragerechts war hier zu besorgen, nachdem der
Angeklagte - auf Antrag der Staatsanwaltschaft - nicht benachrichtigt
und von der Anwesenheit ausgeschlossen wurde. Die Staatsanwaltschaft
hatte den Antrag gestellt, die Zeugin "möglichst bald"
richterlich zu vernehmen, da befürchtet werden müsse,
der Angeklagte werde "alles unternehmen, möglicherweise auch
durch Dritte, um seine Tochter von der Aussage abzuhalten". Das weist
aus, daß die ermittlungsrichterliche Vernehmung insbesondere
dem legitimen (vgl. Nr. 10, 19a, 221, 222 RiStBV) Zweck der
Beweissicherung - Rückgriff auf den Vernehmungsrichter -
für den Fall einer späteren Zeugnisverweigerung
dienen sollte. Wenn aber dieser auch von der Staatsanwaltschaft
für naheliegend gehaltene Fall eintreten würde, dann
war abzusehen, daß das Fragerecht nicht zu
gewährleisten war.
4. Die im Hinblick auf die Garantie des Fragerechts Art. 6 Abs. 3
Buchst. d MRK vorzunehmende Auslegung des § 141 Abs. 3 StPO
führt daher dazu, daß die Staatsanwaltschaft
verpflichtet war, die Bestellung eines Verteidigers nach dieser
Vorschrift (also nicht nur für die einzelne
Ermittlungshandlung) noch vor der Zeugenvernehmung zu beantragen. Hier
sind keine Umstände erkennbar, die es gerechtfertigt
hätten, daß auch die Benachrichtigung des bestellten
Verteidigers unterbleiben konnte (die Entscheidung BGHSt 29, 1 betrifft
einen anderen Fall: ein bereits tätiger Verteidiger wurde aus
Gründen, die in seiner Person lagen, nicht benachrichtigt).
a) Angemessen und geeignet ist dieser Ausgleich grundsätzlich
aber nur, wenn der Verteidiger zu einer sachgerechten Mitwirkung an der
Vernehmung auch in der Lage war.
In Fällen der vorliegenden Art läßt sich
die Zuverlässigkeit der Belastungsaussage des einzigen
Tatzeugen in der Regel nur dann beurteilen - insbesondere kann nur so
die Hypothese einer bewußten Falschbeschuldigung
ausgeschlossen werden -, wenn der Inhalt der Aussage einer Analyse
unterzogen werden kann (sog. Aussageanalyse, grundlegend dazu BGHSt 45,
164). Zentral dafür ist die Detailliertheit der Aussage. Eine
Aussage kann mittels der Aussageanalyse nur dann als glaubhaft
beurteilt werden, wenn sie signifikante Realitätskriterien
aufweist. In bezug auf das Fragerecht muß dabei den
Detailkriterien besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, namentlich
den Realkennzeichen, die eine Verflechtung mit objektivierbaren
zeitlichen und örtlichen Umständen belegen.
Deshalb muß der Verteidiger - soll das Fragerecht nicht
beeinträchtigt sein - regelmäßíg
Gelegenheit haben, sich vor der Vernehmung mit dem Beschuldigten zu
besprechen, weil er nur so in der Lage ist, sachkundige Fragen,
insbesondere Kontrollfragen, wie Situationsfragen (vgl. Bender/Nack,
Tatsachenfeststellung vor Gericht, 2. Aufl. Band II Rdn. 610) zu
stellen. Solche Fragen - nicht notwendig zum engen Kern des Tatvorwurfs
-, mit denen insbesondere die zeitliche und räumliche
Verflechtung der Aussagedetails überprüft wird,
können regelmäßig nur mit einem
entsprechenden Hintergrundwissen gestellt werden.
b) Auch wenn der Verteidiger die Möglichkeit der
Rücksprache mit dem Beschuldigten hatte, können
ergänzende Fragen an den Zeugen erforderlich sein, deren
Notwendigkeit sich erst ergibt, nachdem der Beschuldigte vom Inhalt der
Zeugenaussage Kenntnis erlangt hat. Hier kann eine durch die
Abwesenheit des Beschuldigten bedingte Beeinträchtigung des
Fragerechts dadurch ausgeglichen werden, daß die Verteidigung
Gelegenheit erhält, auch nachträglich Fragen an den
Zeugen zu stellen oder stellen zu lassen (vgl. Gollwitzer aaO Art. 6
MRK Rdn. 227). Die nachträgliche Befragung kann auch durch
Vorlage eines schriftlichen Fragenkatalogs erfolgen, zumal auf diese
Weise weitgehend ausgeschlossen werden kann, daß der
Untersuchungszweck gefährdet wird. Da in Fällen der
vorliegenden Art der Zeuge nicht anonym ist, kommen die Bedenken des
EGMR (vgl. die Fälle Kostovski Nr. 42; Windisch Nr. 28
einerseits und den Fall Isgrò Nr. 35 andererseits) zur
schriftlichen Befragung des anonymen Zeugen nicht zum Tragen.
c) Der Senat hat hier nicht über den - möglicherweise
anders zu beurteilenden - Fall zu entscheiden, daß durch ein
Zusammenwirken des Verteidigers mit dem Beschuldigten (vgl. BGHSt 29,
1) oder auch nur allein als Folge der Konsultation der
Untersuchungszweck gefährdet sein könnte. Hier
könnte allerdings wenigstens eine nachträgliche
(schriftliche) Befragung angezeigt sein.
d) In künftigen Fällen kann auch eine Vernehmung
mittels Videokonferenz nach § 168e StPO eine angemessene und
geeignete, und oft sogar die beste Möglichkeit sein, um das
Fragerecht zu gewährleisten.
IV.
Das Unterlassen der rechtzeitigen Bestellung eines Verteidigers hat das
Fragerecht der Verteidigung bei der ermittlungsrichterlichen
Zeugenvernehmung beeinträchtigt. Dieses Versäumnis
mindert den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses, das durch den
Rückgriff auf den Vernehmungsrichter zur Grundlage der
Urteilsfindung wurde. Damit wirkte der im Vorverfahren begangene
Verfahrensfehler in der Hauptverhandlung fort; das unterliegt der
revisionsgerichtlichen Prüfung (§ 337 StPO; vgl. BGHR
StPO § 349 Abs. 1 Unzulässigkeit 1).
1. Der Senat hält eine
Beweiswürdigungs-Lösung für sachgerechter
als ein Verwertungsverbot für den Rückgriff auf den
Vernehmungsrichter. Bei der Beweiswürdigungs-Lösung
darf zwar auf den Vernehmungsrichter zurückgegriffen werden,
allerdings sind dann - ähnlich wie beim anonymen Zeugen
(grundlegend BGHSt 17, 382; vgl. zuletzt BGH NStZ 1998, 97; StV 1999,
7; NStZ 2000, 265; BGHR StPO § 261
Überzeugungsbildung 27; siehe auch BVerfG - Kammer - NJW 1997,
999 sowie BGHSt 45, 321: konventionswidrige Tatprovokation) - besonders
strenge Beweis- und Begründungsanforderungen aufzustellen.
a) Auch das grundsätzlich bestehende Verwertungsverbot des
§ 252 StPO (vgl. BGH NJW 2000, 596, zur
Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 203 und BGH NJW 2000,
1247, zur Veröffentlichung vorgesehen in BGHSt 45, 342) gilt
nicht uneingeschränkt.
Zwar kann der Rückgriff auf den Vernehmungsrichter
ausgeschlossen sein, wenn gegen die Benachrichtigungspflicht der
§§ 168c, 224 StPO verstoßen wurde (BGHSt 9,
24; 29, 1; 26, 332; 29, 131, 140; 42, 86; 42, 391; BGH NStZ 1987, 132;
1989, 282).
In seiner neueren Rechtsprechung hat der Bundesgerichtshof bei
pflichtwidrig versagten Beteiligungsrechten aber mehr auf die
Beeinträchtigung des Beweiswerts abgestellt und deshalb eine
Lösung auf der Ebene der Beweiswürdigung bevorzugt,
indem das richterliche in ein nichtrichterliches Vernehmungsprotokoll
nach § 252 Abs. 2 Satz 2 StPO mit geringerem Beweiswert
"herabgestuft" wird (BGHSt 34, 231, 234, 235; BGH StV 1992, 232; BGH
NStZ 1998, 312).
Auch hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 29, 1; 42, 391) bei einem
berechtigten Ausschluß von der Anwesenheit oder einer
berechtigten Nichtbenachrichtigung kein Verwertungsverbot aufgrund
fehlender Beteiligungsrechte angenommen.
b) Für die konventionskonforme Auslegung des deutschen
Strafprozeßrechts ist eine Gesamtbetrachtung des Verfahrens
vorzunehmen. Dazu gehört, daß das gesamte
Beweisverfahren im Lichte des Fragerechts gesehen werden muß
(vgl. Fall Barberà Nr. 76). Nach der Rechtsprechung des EGMR
kommt es dabei zudem auch auf die Art und Weise der Beweiserhebung an.
Unter diesem Gesichtspunkt stellt der EGMR zwar in erster Linie auf das
Beweisverfahren und weniger auf die Beweiswürdigung selbst ab.
Jedoch findet im Rahmen der Gesamtbetrachtung auch die
Beweiswürdigung Berücksichtigung, wie gerade die
Differenzierung des EGMR in den Fällen Unterpertinger und Asch
zeigt. Da die Gesamtbetrachtung vom jeweiligen Einzelfall
abhängt, liegt es nahe, eine dem konkreten Fall gerecht
werdende Lösung zu finden. Das ist mit der
Beweiswürdigungs-Lösung am besten zu erreichen; sie
hält der Senat deshalb für vorzugswürdig.
Bei der Beweiswürdigungs-Lösung ist zwar zu bedenken,
daß auf ein Vernehmungsergebnis zurückgegriffen
wird, an dessen Zustandekommen die Verteidigung unter
Beeinträchtigung des rechtlichen Gehörs nicht
mitwirken konnte. Aber insofern ist die Verteidigung in einer
ähnlichen Lage wie bei dem "im Dunkel bleibenden" (BGHSt 17,
382, 386) anonymen Zeugen. Dort ist die Beeinträchtigung des
Fragerechts häufig sogar noch stärker, weil nicht
einmal die Person des Zeugen bekannt ist und weil auf bestimmte Fragen
oft keine Antwort gegeben wird. Wenn daher die
Beweiswürdigungs-Lösung beim anonymen Zeugen ein
konventionsgemäßer Ausgleich ist, muß dies
auch für die vorliegende Fallgestaltung gelten.
Auf die Vergleichbarkeit der Problematik des Fragerechts hat der
Bundesgerichtshof bereits in BGHSt 17, 382, 385 f. hingewiesen: "Einem
anonymen Gewährsmann gegenüber versagen jedoch nicht
nur die Rechte aus den §§ 240, 257 StPO - insoweit
ist die Lage nicht wesentlich anders, als wenn der
Wissensträger zwar bekannt ist, in der Hauptverhandlung aber
nicht vernommen werden kann - ...".
Die Verneinung eines Verwertungsverbots erweist sich auch systemkonform
mit der Strafzumessungs-Lösung bei einem
Konventionsverstoß aufgrund einer unzulässigen
Tatprovokation (BGHSt 45, 321).
2. Daß das Vernehmungsergebnis infolge unterbliebener
Verteidigerbestellung fehlerhaft zustande gekommen ist, muß
daher bei der tatrichterlichen Beweiswürdigung besondere
Beachtung finden. Diese muß vor allem zwei Anforderungen
genügen:
a) Zunächst ist zu beachten, daß der
originäre Zeuge in der Hauptverhandlung nicht zur
Verfügung steht. Dazu gilt, was der Bundesgerichtshof schon
1962 (BGHSt 17, 382, 385) ausgeführt hat: "Bei einem Zeugen
vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine
erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit
in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt
worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je
größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer
ist der Beweiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur
Vorsicht".
Hier ist zwar der unmittelbar gehörte Zeuge ein
Ermittlungsrichter, dessen Vernehmungsergebnis grundsätzlich,
auch wegen der in § 168c Abs. 2 bestimmten Beteiligungsrechte,
eine gewichtige Beweiskraft zukommt (vgl. BGHSt 45, 342; BGH NStZ 1998,
312). Die Verteidigung hatte aber keine Möglichkeit zur
Befragung des originären Zeugen. Insofern muß der
Tatrichter zusätzlich beachten, daß die
Glaubwürdigkeitsbeurteilung mit dem Instrumentarium der
Aussageanalyse begrenzt ist, weil die Aussage durch das Fehlen eines
kontradiktorischen Verhörs (§ 69 Abs. 2 StPO) nur
beschränkt aufgeklärt und vervollständigt
werden kann.
b) Deshalb gilt auch hier wie beim gesperrten Zeugen (BGHSt 17, 382,
386): Auf die Angaben des Vernehmungsrichters kann eine Feststellung
regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn
diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte
außerhalb der Aussage bestätigt werden.
c) Daß eine - sorgfältigste (BGHSt 17, 382, 386) -
Überprüfung der von dem Vernehmungsrichter
wiedergegebenen Aussage nach diesen Maßstäben
erfolgt ist, muß der Tatrichter in einer für das
Revisionsgericht nachprüfbaren Weise im Urteil deutlich machen.
3. Diesen - bislang allerdings vom Bundesgerichtshof noch nicht
aufgestellten besonderen Beweiswürdigungs- und
Begründungsanforderungen - genügt das angefochtene
Urteil nicht. Insbesondere liegen keine anderen wichtigen
Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vor, die das eigentliche
Tatgeschehen bestätigen.
Das Landgericht hat eine Beweiswürdigung vorgenommen, die
ersichtlich davon ausging - und insoweit auch rechtsfehlerfrei ist -,
den Beweiswürdigungs- und Begründungsanforderungen
bei Fällen von "Aussage gegen Aussage" zu genügen. Es
hat seine Überzeugung ganz entscheidend auf die Angaben der
Geschädigten beim Ermittlungsrichter gestützt. Dabei
hat es auch eine fachkundige Analyse des Inhalts der dort
getätigten Aussage vorgenommen und insbesondere auf
Detailkriterien abgestellt.
Schon hierbei wäre allerdings zu bedenken gewesen,
daß gerade das Gewicht der "Einbettung in den
Gesamtlebenssachverhalt" und der Schilderung "von Details und
Begleiterscheinungen" durch das Fehlen eines kontradiktorischen
Verhörs beschränkt war. Daß weitere
Beweismittel die "Kammer in ihrer Überzeugungsbildung
stützen und diese abrunden", reicht im Hinblick auf das
fehlerhaft zustande gekommene ermittlungsrichterliche
Vernehmungsergebnis nicht aus, um der vom Senat daraus abgeleiteten
Anforderung zu genügen, daß die Aussage durch andere
wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage
bestätigt wird. Die anderen Zeugen waren keine Augenzeugen des
sexuellen Kerngeschehens und teilweise Zeugen vom Hörensagen.
Auch objektive Beweismittel von Gewicht, mit denen die von der
Geschädigten bekundeten sexuellen Handlungen
bestätigt worden wären, standen nicht zur
Verfügung.
Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil. Der Senat hat
nicht selbst auf Freispruch erkannt (§ 354 Abs. 1 StPO), denn
er kann nicht ausschließen, daß bei einer
Zurückverweisung in einer erneuten Hauptverhandlung noch
Tatsachen festgestellt werden könnten, die für eine
Verurteilung tragfähig wären.
Schäfer Maul Nack
Boetticher Kolz |