BGH,
Urt. v. 25.11.2004 - 5 StR 401/04
5 StR 401/04
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 25. November 2004
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 25. No-
vember 2004, an der teilgenommen haben:
Richter Basdorf
als Vorsitzender,
Richter Häger,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause
als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwältin N
als Verteidigerin,
Rechtsanwalt B
als Vertreter des Nebenklägers,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Ur teil des
Landger ichts Berlin vom 13. Februar 2004 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die dadurch dem Ange-
klagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der
Staatskasse zur Last.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten
Totschlags
- unter Anwendung von § 213 a.F. StGB - zu einer
Freiheitsstrafe von drei
Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Staatsanwaltschaft
rügt mit ihrer
Revision die Verletzung von Verfahrensrecht und sachlichem Recht und
meint, daß das Landgericht zu Unrecht nicht auf
(heimtückischen, aus Hab-
gier und zur Ermöglichung einer Straftat begangenen)
versuchten Mord er-
kannt habe. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat kei-
nen Erfolg.
I.
Das Landgericht hat folgendes festgestellt:
Der Angeklagte und der etwa gleichaltrige
Nebenkläger unterhielten
eine homosexuelle Beziehung folgender Art: Etwa während der
drei Monate
vor der Tat nahmen beide Männer ein- bis zweimal pro Woche in
der Woh-
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nung des Nebenklägers nach gemeinsamem Essen und Trinken
einver-
nehmlich sexuelle Handlungen vor. Der Nebenkläger holte in der
Regel hier-
zu mit seinem Pkw den Angeklagten nach telefonischer Verabredung an ei-
ner Gaststätte im Ber eich des Kurfürstendamms ab und
brachte den Ange-
klagten nach dem sexuellen Verkehr noch am selben Abend, gelegentlich
erst am nächsten Morgen in die Region des
Kurfürstendamms zurück. Fi-
nanzielle Interessen des Angeklagten oder die Gewährung
finanzieller Vortei-
le durch den Nebenkläger hat das Landgericht nicht feststellen
können. Der
Angeklagte, der in dieser Zeit ohne festen Wohnsitz war und bei
verschiede-
nen Bekannten Unterschlupf fand, empfand den Kontakt zum
Nebenkläger
„ möglicherweise als eine von einer
gewissen Gebor genheit geprägte und
damit angenehme persönliche Zuwendung“. Zu einer
verbalen oder gar tätli-
chen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern kam es vor
dem
Tattag nicht.
Am 29. Mär z 1984 gegen 21.00 Uhr begab sich der
Angeklagte auf-
grund einer telefonischen Verabredung - nach Einnahme von Medikamenten
zur Schmer zbehandlung und angetrunken - zur Wohnung des
Nebenklä-
gers. Er duschte, zog sich ein Hemd, eine Trainingshose und einen Bade-
mantel des Nebenklägers an und ging zu ihm ins Wohnzimmer.
Dieser,
selbst nüchter n, war wegen der alkoholischen Beeinflussung
des Angeklag-
ten an einem sexuellen Verkehr nicht mehr interessiert. Er bot dem Ange-
klagten zwar noch Kaffee an, drängte aber bald darauf,
daß der Angeklagte
sich wieder anziehe, damit er zurück zum Kurfür
stendamm gebracht werden
könne, holte demonstrativ die im Flur liegende Kleidung des
Angeklagten ins
Wohnzimmer und forderte diesen auf, sich nun endlich anzukleiden und
zum
Aufbruch fertig zu machen. Der Angeklagte wollte die Wohnung jedoch
nicht
verlassen, da er sich dort wohlfühlte und die Aufenthalte bei
dem Nebenklä-
ger als Möglichkeit empfand, in behaglicher Umgebung zur Ruhe
zu kommen
und dort möglichst auch des öfteren zu
übernachten. Der Nebenkläger holte
seine Jacke und steckte sich seine Personalpapiere und Geld ein, um zu
un-
terstreichen, daß er nicht gewillt war, noch länger
zu war ten. Der Angeklagte
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stand auf und ging mit der Erklärung, man könne jetzt
gehen und der Neben-
kläger solle ihn zum Kurfürstendamm bringen, in den
Flur, wohin ihm der
Nebenkläger folgte. Dort versuchte der Angeklagte nochmals,
den Neben-
kläger umzustimmen. Er bot ihm nun sogar - erstmalig im Rahmen
ihrer Be-
ziehung - die Durchführung von Oralverkehr an und bat ihn
darum, gemein-
sam ins Schlafzimmer zu gehen. Der Nebenkläger lehnte all dies
ab und
drängte weiter zum Gehen. Nicht ausschließbar erst
in diesem Moment und
„ aus einer binnen weniger Augenblicke entstehenden massiven
Verärgerung,
Wut und Enttäuschung über die soeben erfahrene und
möglicherweise per-
sönlich kränkende Zurückweisung
entschloß sich der Angeklagte, dessen
Hemmungs- und Steuerungsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht
sicher
ausschließbar aufgr und des zuvor konsumierten Alkohols in
Kombination mit
der Wirkung der eingenommenen Medikamente und angesichts seiner affek-
tiven Erregung erheblich vermindert war, spontan dazu,“ den
Nebenkläger
mit einem Messer tätlich anzugreifen. Er ging zu seiner im
Flur aufgehängten
Jacke, entnahm dieser ein Klappmesser mit einer
Klingenlänge von etwa
10 cm und öffnete es. Sodann wendete er sich - gegen 22.00 Uhr
- dem
Nebenkläger zu, der wenige Meter entfernt in der Nähe
der Wohnzimmertür
stand. Der Angeklagte stach sogleich, ohne etwas zu sagen, auf den von
dem Angriff völlig überraschten Nebenkläger
ein und traf ihn zunächst im
linken Oberkörper. Der Angeklagte, dem
„wahrscheinlich nicht ins Bewußt-
sein drang, daß er die Arg- und Wehrlosigkeit seines Opfers
ausnutzte,“ er-
kannte dabei, daß er den Nebenkläger
möglicherweise töten würde; dies
nahm er zumindest billigend in Kauf. Daß er den
Nebenkläger töten wollte,
hat das Landgericht nicht feststellen können. Der
Nebenkläger flüchtete zu-
r ück ins Wohnzimmer, möglicherweise nachdem er
bereits im Flur durch wei-
tere Messerstiche getr offen worden war, und ver suchte dabei, die
Tür zu
schließen. Dies gelang ihm jedoch nicht, da der Angeklagte
sofort nach-
drängte und die Tür aufstieß. Der
Nebenkläger zog sich - weiter e Stiche ab-
wehrend - im Wohnzimmer hinter ein Sofa zurück und
stürzte dort zu Boden.
Der Angeklagte folgte dem Nebenkläger und stach weiter auf ihn
ein, wäh-
r end dieser in Todesangst versuchte, den Angeklagten mit den Worten
„du
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tötest mich ja“ zum Aufhören zu bewegen und
zum Schutz den Fensterstore
über sich hielt. Diesen durchstach der Angeklagte dreimal. Dem
Nebenkläger
gelang es, die Abdeckplatte eines Barschr änkchens zu
ergreifen und in Rich-
tung des Angeklagten zu schleudern. Er brachte den Angeklagten durch
hef-
tige Tritte zu Fall und konnte sich selbst wieder erheben.
Der Nebenkläger floh aus der im vierten
Obergeschoß gelegenen
Wohnung in das Treppenhaus, durch das er - um Hilfe rufend und damit ei-
nen Nachbarn aufmerksam machend - nach unten lief. Auch der Angeklagte
verließ - barfuß und nur mit Hemd, Jogginghose und
Bademantel bekleidet -
die Wohnung. Er ließ das Tatmesser auf dem Treppenabsatz vor
der Woh-
nung des Nebenklägers fallen und eilte - erkennend,
daß er den Nebenklä-
ger nicht mehr weiter wür de angreifen können - die
Treppe hinunter. Dort
überholte der Angeklagte den Nebenkläger , der sich
inzwischen weiter nach
unten schleppte. An der verschlossenen Haustür angekommen,
kehrte der
Angeklagte zur Wohnung des Nebenklägers zurück. Er
holte dessen Haus-
schlüssel und seine eigene Jacke, eilte erneut ins
Erdgeschoß, schloß die
Haustür auf und flüchtete vom Tatort. Da der
Angeklagte befürchtete, daß
der Nebenkläger sterben würde, er ihn jedenfalls sehr
schwer verletzt habe,
floh er am folgenden Tag nach Polen.
Der Nebenkläger erlitt zahlreiche
Schnittverletzungen an Kopf, Hals,
Brust und beiden Armen. Ein Stich ins linke Auge führte trotz
Notoperation
zum Verlust dieses Auges und dessen Ersetzung durch ein Glasauge.
II.
Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge ist nicht in
zulässiger Weise erhoben, weil ent-
gegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO das Protokoll der Vernehmung
des Zeugen
S alias
A vom 31. März 1984, auf das das
Landgericht in seinem
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den Beweisantrag der Staatsanwaltschaft ablehnenden Beschluß
Bezug
nimmt, nicht mitgeteilt wird.
2. Auch die Sachrüge versagt.
a) Den mit der Anklage erhobenen weitergehenden Vorwurf, der
An-
geklagte habe geplant gehabt, den Nebenkläger zu berauben,
habe sich mit-
hin wegen eines aus Habgier und zur Ermöglichung einer anderen
Straftat
begangenen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem schwerem
Raub schuldig gemacht, hat das Landgericht nicht bestätigt
gefunden. Es hat
ein solches Tatmotiv rechtsfehlerfrei - insbesondere aufgrund des
Tatbil-
des - für nicht feststellbar erachtet.
b) Auch das Mordmerkmal der Heimtücke hat
das Landgericht ohne
Rechtsfehler verneint.
Es hat zunächst die objektiven Voraussetzungen der
Heimtücke be-
jaht, jedoch nicht sicher feststellen können, daß
der Angeklagte in dem Be-
wußtsein gehandelt hätte, den wegen Arglosigkeit
wehrlosen Nebenkläger zu
überraschen und diese Überraschung seines Opfers
auszunutzen. Maßge-
bend war für das Landgericht dabei, daß der
Angeklagte nicht ausschließbar
unter dem enthemmenden Einfluß des konsumierten Alkohols in
Kombination
mit den eingenommenen Medikamenten in einer plötzlichen, von
Ärger, Wut
und Entttäuschung über die soeben erfahrene
Zurückweisung getragenen
Gefühlsaufwallung spontan agierte. Damit ist das Landgericht
den für über-
zeugend er achteten Ausführungen des psychiatrischen
Sachverständigen
gefolgt, wonach die Tat naheliegend als affektiv-aggressiver Durchbruch
er-
scheint, bei dem der Angeklagte sich „wahrscheinlich keine
weiteren Gedan-
ken über die Situation des Opfers gemacht“ hat.
Heimtückisch handelt, wer in feindlicher
Willensrichtung die Arg- und
Wehrlosigkeit des Opfers bewußt zu dessen Tötung
ausnutzt. Dabei muß der
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Täter die Ar g- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer
Bedeutung für die hilflo-
se Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem
Sinne erfaßt
haben, daß er sich dessen bewußt ist, einen durch
seine Ahnungslosigkeit
gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu
überraschen (BGH
NStZ 1984, 506, 507; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke
1, 9, 11 und 26).
Dabei kann die Spontanität des Tatenschlusses im Zusammenhang
mit der
Vorgeschichte und dem psychischen Zustand des Täters ein
Beweisanzei-
chen dafür sein, daß ihm das
Ausnutzungsbewußtsein fehlte (BGH NJW
1983, 2456; BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 26).
Andererseits hindert
nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung
einen Täter dar-
an, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für
die Tat zu
erkennen (BGH aaO; BGH StV 1981, 523, 524; BGH NStZ-RR 2000, 166,
167). Das Nähere ist Tatfrage (so schon BGHSt 6, 329, 331).
Alledem hat das Landgericht Rechnung getragen. Es hat an das
aus-
führlich wiedergegebene Gutachten des psychiatrischen
Sachverständigen
angeknüpft, wonach der Angeklagte im Zeitpunkt der
Zufügung der Messer-
stiche sich - nicht ausschließbar - in einem derart
aufgeladenen Affektzu-
stand befunden habe, daß - insbesondere auch angesichts der
Wirkung des
genossenen Alkohols sowie der Medikamente - eine tiefgr eifende
Bewußt-
seinsstörung vorgelegen habe und er deshalb erheblich
vermindert schuldfä-
hig gewesen sei. Es ist dem für überzeugend
erachteten Gutachten auch in
der oben genannten Weise bei Beantwortung der Frage gefolgt, ob ein Aus-
nutzungsbewußtsein im Sinne des Heimtückemerkmals
vorliegt. Dabei spiel-
te ersichtlich auch eine Rolle, daß die psychische
Beeinträchtigung des An-
geklagten aus dreierlei Gründen resultierte, nämlich
aus einer Kombination
von Affekt, Alkohol und Medikamenteneinwirkung. Danach besorgt der
Senat
- anders als der Generalbundesanwalt - nicht, daß das
Landgericht die ge-
botene eigenständige Prüfung der
Ausführungen des Sachverständigen und
eine Gesamtwürdigung der Umstände unterlassen
hätte.
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Eine derart klare Tatsituation, in der sich das
Bewußtsein auch eines
stark enthemmten Täters von der Ausnutzung der Arg-
und Wehrlosigkeit
seines Opfer s bei Tatbegehung ohne weiteres von selbst verstanden
hätte
( vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Heimtücke 31), lag hier
nicht vor.
c) Die tateinheitliche schwere Körperverletzung ist
verjähr t. Die auffäl-
lige Milde der Strafe ist dem beträchtlichen Zeitablauf und
dem maßgebli-
chen Tatzeitstrafrahmen des § 213 StGB geschuldet, dessen
zweite Alterna-
tive das Landgericht unter Verbrauch der Milderungsgr ünde aus
§ 21 und
§ 23 StGB rechtsfehlerfrei angewendet hat.
III.
Die nach § 301 StPO vorzunehmende
Überprüfung des Urteils hat
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Basdorf
Häger Gerhardt
Raum Brause
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