BGH,
Urt. v. 26.10.2000 - 4 StR 319/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 319/00
vom
26. Oktober 2000
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 26.
Oktober 2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Kuckein, Athing, die Richterin am
Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic, der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann als beisitzende Richter, Staatsanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Schwerin vom 2. März 2000 mit den Feststellungen
aufgehoben,
a) soweit das Verfahren hinsichtlich des Falles 2 der An-
klageschrift eingestellt worden ist,
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freisprechung im
übrigen wegen Vergewaltigung in vier Fällen, davon in
einem Fall tateinheitlich begangen mit Körperverletzung, sowie
wegen sexuellen Mißbrauchs einer
widerstandsunfähigen Person in zwei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt und
seine Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus angeordnet; außerdem hat es den
Fall 2 der Anklageschrift wegen Strafverfolgungsverjährung
gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt.
Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten, auf die Verletzung
materiellen Rechts gestützten Revision wendet sich die
Staatsanwaltschaft gegen diese Verfahrenseinstellung sowie dagegen,
daß das Gericht bezüglich der Vergewaltigungstaten
(Fälle 6, 7, 11 und 12 der Anklageschrift) die Einzelstrafen
nicht der Vorschrift des § 177 Abs. 2 StGB entnommen hat. Das
Rechtsmittel hat nur hinsichtlich der Verfahrenseinstellung Erfolg; im
übigen ist es unbegründet.
I. Im Fall 2 der Anklageschrift liegt das vom Landgericht angenommene
Verfahrenshindernis der Strafverfolgungsverjährung nicht vor.
Nach den insoweit getroffenen Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte
im Juni oder Juli 1994 im Badezimmer seines Hauses in Drieberg
(Mecklenburg-Vorpommern) mit seiner Ehefrau gegen deren
erklärten Willen den Geschlechtsverkehr ausgeübt,
wobei er ihren Widerstand durch seine körperliche
Überlegenheit überwand. Damit hat er sich, weil zur
Tatzeit sich der Vergewaltigungstatbestand nur auf einen
außerehelichen Beischlaf bezog (§ 177 Abs. 1 StGB
a.F.), einer Nötigung nach § 240 Abs. 1 StGB a.F.
schuldig gemacht.
Bezüglich dieser Tat ist - worauf die
Revisionsführerin und der Generalbundesanwalt zu Recht
hingewiesen haben - Strafverfolgungsverjährung noch nicht
eingetreten, weil insoweit Art. 315 a Abs. 2 EGStGB in der Fassung des
3. Verjährungsgesetzes vom 22. Dezember 1997 (BGBl I 3223)
entgegensteht. Nach dieser Vorschrift verjährt die Verfolgung
von Taten, die in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet
begangen worden sind und die - wie die Nötigung nach
§ 240 Abs. 1 StGB a.F. - im Höchstmaß mit
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bis zu fünf Jahren
bedroht sind, frühestens mit Ablauf des 2. Oktober 2000. Die
Vorschrift ist nach ihrem eindeutigen Wortlaut nicht auf bestimmte
Delikte beschränkt. Die einschränkende Formulierung
in der gesetzlichen Überschrift ("Verfolgungs- und
Vollstreckungsverjährung für in der Deutschen
Demokratischen Republik verfolgte und abgeurteilte Taten") findet im
Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag; sie ist für die
Rechtsanwendung bedeutungslos (vgl. BGHSt 39, 353, 356 f.; vgl.
Jähnke in LK 11. Aufl. § 78 c Rdn. 39).
Zwar wurde bereits die Einfügung des Absatzes 2 des Art. 315 a
StGB durch das 2. Verjährungsgesetz vom 27. September 1993
(BGBl I 1657) mit der besonderen Schwierigkeit bei der Ahndung von
SED-Unrechtstaten und der sogenannten Vereinigungskriminalität
begründet (vgl. BTDrucks. 12/5701, S. 2; zur
Gesetzgebungsgeschichte Letzgus NStZ 1994, 57, 61 f.); die Vorschrift
enthielt aber ein Hinausschieben des frühestmöglichen
Verjährungseintritts für alle Straftaten der
geringeren und mittleren Kriminalität, die bis zum 31.
Dezember 1992 im Beitrittsgebiet begangen worden sind und noch nicht
verjährt waren (vgl. Lackner/Kühl StGB 23. Aufl.
§ 2 Rdn. 27 b; Lemke in Nomos Kommentar zum StGB vor
§ 78 Rdn. 31; ders. NJ 1993, 529 f.; Zarneckow DRiZ 1997, 314,
315).
Das 3. Verjährungsgesetz vom 22. Dezember 1997 hat die
Verjährungsfrist für die in Art. 315 a Abs. 2 EGStGB
geregelte mittlere Kriminalität erneut, und zwar bis zum 2.
Oktober 2000, verlängert und auch solche Straftaten, die nach
dem 31. Dezember 1992 begangen wurden, in diese Regelung einbezogen.
Nach der Begründung des Gesetzesentwurfs ergab sich die
Notwendigkeit einer weiteren Verlängerung daraus,
daß die Justiz in den neuen Bundesländern bei der
Aufarbeitung des im Zuge der deutschen Einigung im Beitrittsgebiet
begangenen strafbaren Unrechts trotz großer Anstrengungen an
ihre Grenzen gestoßen ist; es sollte insbesondere eine
Verjährung der einigungsbedingten
Wirtschaftskriminalität verhindert werden. Trotz dieser
Zielsetzung wurde in dem - später auch so verabschiedeten -
Gesetzesvorschlag ausdrücklich von einer Sonderregelung
für diesen Bereich abgesehen; vielmehr wurden im
Anschluß an das 2. Verjährungsgesetz alle im
Beitrittsgebiet begangenen "mittelschweren Delikte" erfaßt
(vgl. BTDrucks. 13/8962, S. 3).
Allerdings gilt die Neufassung nach Art. 2 des 3.
Verjährungsgesetzes nur für solche Straftaten, die
bei Inkrafttreten dieses Gesetzes am 31. Dezember 1997 noch nicht
verjährt waren. Dies war hier nicht der Fall, denn die
für § 240 Abs. 1 StGB a.F. geltende
Verjährungsfrist bemißt sich - entgegen der Ansicht
des Landgerichts (UA 38) - nach § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB und
beträgt damit fünf Jahre. Demnach war die im Juni
oder Juli 1994 begangene Tat am 31. Dezember 1997 noch nicht
verjährt, so daß vor dem 2. Oktober 2000 die
Verjährung nicht eingetreten ist. Da das angefochtene Urteil
vor diesem Termin ergangen ist, kann die Strafverfolgung
gemäß § 78 b Abs. 3 StGB nicht mehr
verjähren.
II. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die
Strafaussprüche hinsichtlich der Vergewaltigungstaten wendet,
ist ihr Rechtsmittel unbegründet.
1. Die Strafzumessung - und damit auch die Wahl des anzuwendenden
Strafrahmens - ist grundsätzlich Sache des Tatrichters, der
auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der
Hauptverhandlung von der Tat und der
Täterpersönlichkeit gewonnen hat, die wesentlichen
be- und entlastenden Umstände festzustellen, zu bewerten und
gegeneinander abzuwägen hat (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 29,
319, 320; 34, 345, 349). Ihm obliegt es daher auch, im Rahmen einer
Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände
zu entscheiden, ob das Tatbild vom Durchschnitt der
erfahrungsgemäß gewöhnlich vorkommenden
Fälle in einem Maße abweicht, daß die
Indizwirkung des Regelbeispiels entfällt und darüber
hinaus die Anwendung eines nach der jeweiligen Strafvorschrift zur
Verfügung stehenden Ausnahmestrafrahmens für minder
schwere Fälle geboten erscheint (st. Rspr.; vgl. die
zahlreichen Nachweise bei Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl.
§ 46 Rdn. 41 f.). Das Revisionsgericht kann nur dann
eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen in sich
fehlerhaft sind, das Tatgericht rechtlich anerkannte Strafzwecke
außer Betracht gelassen hat oder sich die Strafe so weit nach
oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter
Schuldausgleich zu sein, daß sie nicht mehr innerhalb des dem
Tatrichter bei der Strafzumessung eingeräumten Spielraums
liegt (vgl. BGH aaO; BGHR StGB § 46 Abs. 1 Beurteilungsrahmen
1 und 6). Weist die tatrichterliche Wertung Rechtsfehler nicht auf, ist
sie deshalb auch dann hinzunehmen, wenn eine andere Entscheidung ebenso
möglich gewesen wäre oder vielleicht sogar
nähergelegen hätte (vgl. BGHR StGB vor §
1/minder schwerer Fall Gesamtwürdigung, fehlerfreie 1 und 8).
2. Ausgehend von diesen Grundsätzen begegnet es - worauf auch
der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hingewiesen
hat - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin keinen
durchgreifenden Bedenken, daß die Strafkammer hinsichtlich
der Fälle 6, 7, 11 und 12 der Anklageschrift die Anwendung des
Strafrahmens des § 177 Abs. 2 StGB abgelehnt hat.
In allen vier Fällen hat der Angeklagte das Regelbeispiel des
§ 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB verwirklicht, indem er seine
Ehefrau mit Gewalt zum Vollzug des Beischlafs genötigt hat. Im
Rahmen ihrer - allerdings knappen - Gesamtschau der Umstände,
die für die Beurteilung von Taten und Täter von
Bedeutung sind, hat die Strafkammer in erster Linie auf die sehr engen
persönlichen Bindungen zwischen Täter und Opfer
abgestellt, die vierzehn Jahre lang ständig zusammengelebt und
in dieser Zeit eine Vielzahl einverständlicher sexueller
Kontakte hatten. Diese Wertung ist aus Rechtsgründen nicht zu
beanstanden. Insbesondere ist nicht zu besorgen, daß das
Gericht gemeint haben könnte, der Strafrahmen des §
177 Abs. 2 Satz 1 StGB sei auf eine Vergewaltigung innerhalb einer
bestehenden Ehe generell nicht anwendbar, denn es hat auf das besondere
persönliche Verhältnis zwischen dem Angeklagten und
der Nebenklägerin abgestellt und zudem die Bewertung des
Schweregrades der Taten durch die Nebenklägerin
berücksichtigt.
3. Auch die Entscheidung des Tatgerichts, wonach in allen vier
Fällen der Vergewaltigung die mildernden Gesichtspunkte in
einer Gewichtung überwiegen, daß sie jeweils die
Annahme eines minder schweren Falles begründen, weist keinen
Rechtsfehler auf. Daß die Verwirklichung des Regelbeispiels
nach § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB der Annahme eines minder
schweren Falles nach § 177 Abs. 5 StGB nicht
grundsätzlich entgegensteht, ist bereits mehrfach entschieden
(vgl. nur BGH NStZ 1999, 615; BGHR StGB § 177 Abs. 5
Strafrahmenwahl 2).
Die Strafkammer hat ihre Entscheidung, jeweils minder schwere
Fälle der Vergewaltigung anzunehmen, sorgfältig
begründet (UA 43-46). Die Strafzumessungserwägungen
sind weder in sich fehlerhaft noch verstoßen sie gegen
anerkannte Strafzwecke. Ersichtlich hat die Strafkammer nicht lediglich
den Umstand mildernd berücksichtigt, daß es sich
jeweils um Geschlechtsverkehr mit einem vertrauten Partner gehandelt
hat, sondern das ambivalente Verhalten der Ehefrau in ihre
Überlegungen miteinbezogen. Diese hat selbst nach der ersten
vorliegend abgeurteilten Vergewaltigung vom Mai 1998 mit dem
Angeklagten weiterhin auf engstem Raum zusammengelebt und sogar noch
nach Einreichung der Scheidungsklage mit ihm einverständlich
Geschlechtsverkehr ausgeübt.
Daß die Strafkammer auch den Fall 7 der Anklageschrift als
minder schweren Fall der Vergewaltigung gewertet hat, ist entgegen der
Ansicht des Generalbundesanwalts letztlich ebenfalls rechtlich nicht zu
beanstanden. Zwar hat der Angeklagte in diesem Fall - anders als bei
den übrigen Vergewaltigungstaten, bei denen sich die
Gewaltanwendung darauf beschränkte, daß er seine
Ehefrau zum Bett "drängte" bzw. "schubste" und sie kraft
seiner körperlichen Überlegenheit dort
niederdrückte - erhebliche Gewalt angewendet. Trotzdem ist
auch insoweit die Annahme eines minder schweren Falles durch die
Strafkammer nicht unvertretbar, denn nach den rechtsfehlerfrei
getroffenen Urteilsfeststellungen war der Angeklagte nach einer
provozierenden Frage seiner Ehefrau "außer sich vor Wut"
geraten (UA 14); sein "Agieren in dieser Situation resultierte aus
seiner Persönlichkeitsstörung, aufgrund derer er sich
jetzt kaum noch steuern konnte" (UA 15). Somit ist der Ausbruch der
Gewalt auf die Persönlichkeitsabnormitäten
zurückzuführen, die in Verbindung mit seinen
Anpassungsstörungen als schwere andere seelische Abartigkeit
anzusehen sind und zu der Unterbringungsanordnung nach § 63
StGB geführt haben. Dem erhöhten Unrechtsgehalt der
Tat, durch die auch zwei Tatbestände verwirklicht wurden, hat
die Strafkammer im übrigen dadurch Rechnung getragen,
daß sie insoweit die höchste Einzelstrafe
verhängt hat [UA 47].
III. Die Aufhebung im Fall 2 der Anklage entzieht der Gesamtstrafe die
Grundlage. Die Maßregelanordnung wird von der teilweisen
Urteilsaufhebung nicht berührt; sie bleibt daher bestehen.
Meyer-Goßner Kuckein Athing
Solin-Stojanovic Ernemann |