BGH,
Urt. v. 28.8.2007 - 1 StR 268/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 268/07
vom
28.08.2007
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
________________________
StGB § 66b, § 67d Abs. 6
Wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
für erledigt erklärt (§ 67d Abs. 6 StGB), so
kann dies regelmäßig nur dann Grundlage
nachträglicher Sicherungsverwahrung (§ 66b Abs. 3
StGB) sein, wenn der Betroffene andernfalls in die Freiheit zu
entlassen wäre. Hat er dagegen im Anschluss an die Erledigung
noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich
mit der Unterbringung erkannt worden war, kann nachträgliche
Sicherungsverwahrung regelmäßig nur unter den
Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 StGB oder § 66b Abs.
2 StGB angeordnet werden.
BGH, Urteil vom 28.08.2007 - 1 StR 268/07 - LG Augsburg
in der Strafsache
- 2 -
gegen
wegen nachträglicher Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
28.08.2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 4 -
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des
Landgerichts Augsburg vom 22. Januar 2007 wird verworfen.
2. Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die dem
Betroffenen hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen fallen der
Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat es abgelehnt, gegen den Betroffenen
gemäß § 66b Abs. 3 StGB
nachträglich Sicherungsverwahrung anzuordnen. Die hiergegen
gerichtete auf die Sachrüge gestützte Revision der
Staatsanwaltschaft bleibt erfolglos.
1
I.
1. Folgender Verfahrensgang war vorausgegangen:
2
Der wiederholt und auch einschlägig vorbestrafte Betroffene
war am 3. Juli 1997 wegen näher geschilderten sexuellen
Missbrauchs eines acht Jahre alten Jungen in 13 Fällen -
Gewalt hatte hierbei nie eine Rolle gespielt - zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten (Einzelstrafen
je sechs Monate) verurteilt worden; zugleich war er
gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen
Krankenhaus untergebracht worden. Sachverständig beraten
3
- 5 -
hatte das Gericht erheblich verminderte Schuldfähigkeit
(§ 21 StGB) wegen "einer hirnorganischen
Leistungsbeeinträchtigung bzw. einer organischen
Persönlichkeitsstörung" und wegen Pädophilie
bejaht.
4
Der Betroffene befand sich - mit einer Unterbrechung - im
psychiatrischen Maßregelvollzug, bis die
Strafvollstreckungskammer am 21. Dezember 2005 die Maßregel
"in entsprechender Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB"
für erledigt erklärte, da ein die Unterbringung
gemäß § 63 StGB rechtfertigender Zustand
gemäß §§ 20, 21 StGB nicht gegeben
sei. Sachverständig beraten hat sie festgestellt, dass zwar
eine Pädophilie vorliege, die im Erkenntnisverfahren gestellte
Diagnose im Übrigen aber eine "Fehlbeurteilung" gewesen sei.
Der Betroffene habe "die Angaben, auf die die Diagnose
gestützt wurde, lediglich aus Angst gemacht, um statt ins
Gefängnis in die Psychiatrie zu kommen". Zugleich wurde die
Vollstreckung des noch nicht erledigten Teils der zugleich mit der
Unterbringung ausgesprochenen Freiheitsstrafe (letztlich 311 Tage)
angeordnet, die er dann bis Februar 2007 vollständig
verbüßt hat.
2. Nach sachverständiger Beratung hat die Jugendkammer beim
Betroffenen eine Störung der Sexualpräferenz vom
Prägnanztyp der Pädophilie (ICD 10 F 65.4) im Sinne
einer homosexuell ausgerichteten Pädophilie mit einer
Orientierung auf pubertierende Jungen und jugendliche Männer
festgestellt. Seine Persönlichkeit sei darüber hinaus
von infantilen und dependenten Persönlichkeitszügen
geprägt. Ein chronisches organisches Psychosyndrom vom
Prägnanztyp der organischen Wesensänderung infolge
frühkindlicher Hirnschädigung bzw. cerebraler
Dysfunktion liege dagegen nicht vor. Ein Hang zu Taten wie den
abgeurteilten sei zu bejahen. Es bestehe auch die hohe
Wahrscheinlichkeit, dass er weiterhin derartige Taten begehen werde.
5
- 6 -
3. Die Ablehnung von nachträglicher Sicherungsverwahrung hat
die Jugendkammer wie folgt begründet:
6
7
a) § 66b Abs. 3 StGB setze voraus, dass die Unterbringung im
psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 67d
Abs. 6 StGB für erledigt erklärt worden sei. Die
Strafvollstreckungskammer habe ihrer Entscheidung demgegenüber
auf eine entsprechende Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz 5 StGB
gestützt. Daher sei § 66b Abs. 3 StGB hier schon aus
formalen Gründen nicht anwendbar.
b) Es sei auch nicht sicher, dass die Opfer der zu erwartenden Taten
hierdurch seelisch oder körperlich schwer geschädigt
werden würden. Der Betroffene habe bei seinen
früheren Taten nie Gewalt angewendet; "eine Progredienz der
Sexualdelinquenz mit zunehmender Gewaltanwendung" sei bei ihm "wenig
wahrscheinlich". Wende er aber keine Gewalt an, sei "mit schweren
posttraumatischen Belastungsstörungen" bei den Opfern seiner
künftigen Taten "kaum zu rechnen". Obwohl
"größere" seelische Schäden bei ihnen nicht
sicher auszuschließen seien, fehle es an der
gemäß § 66b Abs. 3 StGB erforderlichen
erhöhten Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts.
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c) Außerdem führt die Jugendkammer, der Sache nach
hilfsweise, weitere Gesichtspunkte an, die die Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung hier
unverhältnismäßig erscheinen
ließen:
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(1) die Fehldiagnose im Erkenntnisverfahren hätte bei
gehöriger Sorgfalt vermieden werden können;
(2) es falle ins Gewicht, dass der Betroffene nach seiner Entlassung
unter Führungsaufsicht stünde, wodurch die Gefahr
künftiger Straftaten "minimiert" würde;
- 7 -
(3) schließlich sei noch Freiheitsstrafe zu vollstrecken,
nachdem die Unterbringung für erledigt erklärt worden
sei; in derartigen Fällen sei nach dem Willen des Gesetzgebers
§ 66b Abs. 1 bzw. § 66b Abs. 2 StGB vor §
66b Abs. 3 StGB vorrangig.
II.
10
Das Urteil hat im Ergebnis Bestand.
Allerdings liegen die formalen Voraussetzungen von § 66b Abs.
3 StGB vor. Die fehlerhafte Bezeichnung der Rechtsgrundlage
für die Erledigung der Unterbringung durch die
Strafvollstreckungskammer ist unschädlich (1.). Ebenso wenig
kommt es darauf an, dass die für erledigt erklärte
Unterbringung von vorneherein hätte vermieden werden
können (2.). Der abstrakte Hinweis auf die
Möglichkeiten der Führungsaufsicht könnte
die Notwendigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung hier
nicht in Frage stellen (3.). Auch die Erwägungen zu den
Unklarheiten über die seelischen Schäden, die durch
die zu befürchtenden künftigen Straftaten bei deren
Opfern eintreten werden, sind nicht tragfähig (4.).
11
Jedoch weist die Jugendkammer zu Recht darauf hin, dass der Betroffene
nach der Erledigung der Unterbringung nicht in die Freiheit zu
entlassen war; vielmehr hatte er zugleich mit der
Unterbringungsanordnung verhängte Freiheitsstrafe zu
verbüßen. Dies begründet nach Auffassung
des Senats regelmä-ßig eine Sperrwirkung von
§ 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB gegenüber § 66b
Abs. 3 StGB (5.).
12
1. Zwar weist die Jugendkammer zu Recht darauf hin, dass die
Strafvollstreckungskammer in ihrem Beschluss vom 21. Dezember 2005 die
Unterbringung in entsprechender Anwendung von § 67c Abs. 2
Satz 5 StGB für erledigt erklärt hat. § 66b
Abs. 3 StGB verlangt dagegen, dass die Unterbringung ge-
13
- 8 -
mäß § 67d Abs. 6 StGB für erledigt
erklärt worden ist. Die Auffassung der Jugendkammer, hieraus
folge aus zwingenden rechtlichen Gründen ohne weiteres, dass
§ 66b Abs. 3 StGB unanwendbar sei, geht jedoch fehl.
14
Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer entsprach, wie auch die
Jugendkammer nicht verkennt, der früheren ganz
überwiegenden Rechtsprechung der Strafvollstreckungsgerichte.
Diese hatten in richterrechtlicher Rechtsfortbildung die
Maßregel in analoger Anwendung von § 67c Abs. 2 Satz
5 StGB für erledigt erklärt, wenn zum Zeitpunkt ihrer
Entscheidung die Maßregelvoraussetzungen nicht vorlagen, sei
es, dass sie von Anfang an gefehlt hatten, sei es, dass sie
nachträglich weggefallen waren (vgl. Berg/Wiedner StV 2007,
434 ff. mit umfangreichen Nachw. aus der Rspr.). Diese Rechtsprechung
sollte nach dem Willen des Gesetzgebers durch den durch das Gesetz zur
nachträglichen Sicherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 (BGBl I
1838) neu geschaffenen § 67d Abs. 6 StGB festgeschrieben
werden (BTDrucks. 15/2887 S. 10, 13 f.); die materiellen
Voraussetzungen einer solchen Erledigterklärung sollten sich
also gerade nicht ändern. Dies verkennt die Jugendkammer, wenn
sie hervorhebt, dass es an der erforderlichen "qualifizierten"
Erledigterklärung - gemeint: gemäß
§ 67d Abs. 6 StGB - fehle. Für solche
Erwägungen wäre, ebenso wie für die
Überlegungen der Jugendkammer zu planwidriger
Regelungslücke und Analogieverbot nur Raum, wenn sich die
materiellen Voraussetzungen einer Erledigterklärung
gemäß § 67d Abs. 6 StGB wegen Fehlens der
Unterbringungsvoraussetzungen im Vergleich zur früheren
Rechtslage in hier relevanter Weise geändert hätten.
Dies ist jedoch gerade nicht der Fall.
Die Strafvollstreckungskammer hat der Sache nach, wie dies §
66b Abs. 3 StGB erfordert, die Maßregel für erledigt
erklärt, weil der die Schuldfähigkeit vermindernde
Zustand, auf dem die Unterbringung beruhte, im Zeitpunkt der
Erledigungsentscheidung nicht bestanden hat. Sie hat lediglich
übersehen,
15
- 9 -
dass sich die paragraphenmäßige Bezeichnung der
sachlich unverändert gebliebenen rechtlichen Voraussetzungen
für diese Entscheidung geändert hat.
16
Dieser Mangel führt unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zur
Unanwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB. Entscheidend ist nicht,
ob die - ohnehin nicht in Rechtskraft erwachsenden - Gründe
des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer die Worte "§ 67d
Abs. 6 StGB" enthalten oder ob sie gar keine Rechtsgrundlage
ausdrücklich nennen oder ob sie, wie hier, eine veraltete
Rechtsgrundlage nennen; entscheidend ist vielmehr, ob die Unterbringung
aus den in § 66b Abs. 3 StGB genannten Gründen der
ersten Alternative von § 67d Abs. 6 StGB - fehlende
Unterbringungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Beschlussfassung -
für erledigt erklärt worden ist. Da dies der Fall
ist, ist § 66b Abs. 3 StGB hier anwendbar.
2. Die Jugendkammer und zuvor auch die Strafvollstreckungskammer gehen
übereinstimmend davon aus, dass die Voraussetzungen
für eine Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus bei
deren Anordnung nicht vorgelegen haben und dass dies auch im
Erkenntnisverfahren hätte bemerkt werden können. Der
Senat teilt die Auffassung der Jugendkammer nicht, dass diese - im
Einzelfall schwierige und oft nicht klar mögliche (vgl.
Berg/Wiedner StV 2007, 434, 440) - Unterscheidung die Frage der
Verhältnismäßigkeit der
nachträglichen Sicherungsverwahrung beträfe.
17
a) Für die von § 66b Abs. 3 StGB vorausgesetzte
Erledigterklärung gemäß § 67d Abs.
6 StGB ist nach der Konzeption des Gesetzgebers der Zustand bei der
vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung maßgebend (BTDrucks.
15/2887 S. 14). Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Wortlaut des
Gesetzes. Die unterschiedlich beurteilte Frage, ob von diesem Grundsatz
Ausnahmen in Fällen zu machen sind, in denen eine - von Anfang
an vorliegende - "Fehlein-
18
- 10 -
weisung" auf bloßer rechtsfehlerhafter Wertung der zutreffend
festgestellten Tatsachen durch das erkennende Gericht beruhte (vgl.
einerseits OLG Frankfurt StV 2007, 430; hierzu auch BVerfG
<Kammer> NStZ-RR 2007, 29; andererseits KG StV 2007, 432;
Berg/Wiedner aaO 433), braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.
19
b) Mit der von ihr vorgenommenen Differenzierung
überträgt die Jugendkammer letztlich für die
Anwendung von § 66b Abs. 1 und 2 StGB maßgebliche
Gesichtspunkte auf § 66b Abs. 3 StGB. Hierfür ist
jedoch in diesem Zusammenhang kein Raum.
(1) Allerdings kann nachträgliche Sicherungsverwahrung
gemäß § 66b Abs. 1 oder 2 StGB nicht auf
Tatsachen gestützt werden, die im Erkenntnisverfahren schon
bekannt waren oder bei entsprechender Sorgfalt (§ 244 Abs. 2
StPO) hätten bekannt sein können (BGHSt 50, 121, 126;
50, 275, 278). Die Nachholung einer schon früher
möglichen, aber fehlerhaft unterbliebenen Entscheidung ist
nicht zulässig.
(2) Nach der gesetzlichen Konzeption - Entscheidung
gemäß § 67d Abs. 6 StGB auch bei Fehlern im
Erkenntnisverfahren; diese Entscheidung kann (soweit hier von
Interesse) stets Grundlage einer Entscheidung gemäß
§ 66b Abs. 3 StGB sein - verhält es sich bei
§ 66b Abs. 3 StGB anders. Hier sind - anders als bei
§ 66b Abs. 1 oder Abs. 2 StGB - keine "Nova" erforderlich.
Gegebenenfalls kann also nachträgliche Sicherungsverwahrung
auch auf der Grundlage von solchen Erkenntnissen angeordnet werden,
welche schon im Erkenntnisverfahren vorlagen oder hätten
gewonnen werden können.
(3) Die Jugendkammer nimmt nicht ausreichend darauf Bedacht, dass in
den Fällen von § 66b Abs. 1 und Abs. 2 StGB eine im
Erkenntnisverfahren nicht angeordnete freiheitsentziehende
Maßregel von unbe-
- 11 -
stimmter Dauer nachträglich hinzugefügt wird.
Demgegenüber geht es in § 66b Abs. 3 StGB im Kern
darum, bei einem nach wie vor hochgefährlichen Täter
eine bereits angeordnete, dann aber erledigte freiheitsentziehende
Maßregel von unbestimmter Dauer (§ 63 StGB) durch
eine andere freiheitsentziehende Maßregel von unbestimmter
Dauer zu ersetzen (Koller R & P 2007, 57, 65). Die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die ebenso wie die
Sicherungsverwahrung den Schutz der Allgemeinheit vor
gefährlichen Straftätern bezweckt, ist
gegenüber dieser im Grundsatz auch kein geringeres
Übel (BGH NStZ 2002, 533, 534 m.w.N.).
Der Schutz vor Verurteilten, von denen mit hoher Wahrscheinlichkeit
schwere Straftaten gegen bedeutende Individualrechtsgüter zu
erwarten sind, ist ein überragendes Gemeinwohlinteresse
(BVerfGE 109, 190, 236; BVerfG <Kammer> NJW 2006, 3483,
3484). Daher stünden namentlich
Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte auch bei
einer ursprünglich fehlerhaften Entscheidung im
Erkenntnisverfahren der Anordnung nachträglicher
Sicherungsverwahrung hier nicht im Wege.
3. Die im Zusammenhang mit Führungsaufsicht angestellten
Erwägungen der Jugendkammer sind nicht rechtsfehlerfrei. Bei
einer Erledigterklärung gemäß §
67d Abs. 6 Satz 1 StGB tritt regelmäßig
Führungsaufsicht ein, § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB.
Gleichwohl ist bei entsprechend gefährlichen Verurteilten nach
einer solchen Erledigterklärung die Möglichkeit
nachträglicher Sicherungsverwahrung vorgesehen. Die Annahme
der Jugendkammer, allein der Umstand, dass Führungsaufsicht
eingetreten sei, spreche schon im Ansatz gegen die Notwendigkeit
nachträglicher Sicherungsverwahrung, entfernt sich daher von
der gesetzlichen Wertung. Soweit im Einzelfall konkret prognostizierbar
20
- 12 -
ist, dass vom Verurteilten im Hinblick auf die
Führungsaufsicht keine erheblichen Straftaten zu erwarten
sind, wirkt sich dies auf die Beurteilung seiner
Gefährlichkeit aus. Hierfür enthält das
Urteil keine Anhaltspunkte. Die Erwägungen, die
Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten sei einerseits sehr hoch, jedoch
andererseits allein wegen des Eintritts von Führungsaufsicht
sehr gering, sind ohne nähere Darlegungen unvereinbar.
4. Schließlich bestehen auch rechtliche Bedenken gegen die
Erwägungen der Jugendkammer, soweit sie eine erhöhte
Wahrscheinlichkeit des Eintritts schwerer seelischer Schäden
bei den künftigen Opfern (§ 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB)
verneint.
21
Die Jugendkammer geht letztlich davon aus, dass der Betroffene Taten
gemäß § 176 StGB mit hoher
Wahrscheinlichkeit wieder begehen werde; schwere Schäden bei
den nicht individualisierbaren Opfern seien zwar nicht ausgeschlossen,
aber nicht in dem erforderlichen Maße wahrscheinlich.
Begründet ist dies im Kern damit, dass mit
Gewalttätigkeiten auch künftig nicht zu rechnen sei.
22
Sind schon konkrete seelische Schäden durch sexuellen
Missbrauch bei dessen kindlichen Opfern im Einzelfall nicht immer
leicht festzustellen (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urt. vom 14.08.2007 - 1
StR 201/07 - Rdn. 35 f.), so gilt dies um so mehr für die
Ermittlung und Gewichtung der Schwere von möglichen seelischen
Schäden bei naturgemäß unbekannten Opfern
künftiger, in ihrem Ablauf jedenfalls nicht in allen
Einzelheiten feststehender Straftaten. Die Schwere seelischer
Schäden hängt von einer Vielzahl einzelfallbezogener
Umstände ab, deren vorausschauende konkrete Gewichtung
praktisch kaum möglich ist (vgl. Hörnle NStZ 2000,
310 m.w.N.). Dementsprechend ist die erforderliche
Wahrscheinlichkeitsprognose gemäß § 66b
Abs. 3 StGB nicht im empiri-
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- 13 -
schen Sinne zu verstehen (BTDrucks. 15/2887 S. 13; kritisch hierzu
Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 66b Rdn. 22),
sondern sie hat in wertender Abwägung zu erfolgen (BTDrucks.
aaO). Diese Grundsätze gelten nicht nur für die
Frage, ob künftige Taten überhaupt zu erwarten sind,
sondern auch für die Wahrscheinlichkeit schwerer Tatfolgen.
Anhaltspunkte für eine derartige Differenzierung ergeben sich
weder aus dem Gesetzeswortlaut noch aus den Gesetzesmaterialien. Eine
Anordnung gemäß § 66b Abs. 3 StGB verlangt
daher bei zu befürchtenden Fällen von sexuellem
Missbrauch von Kindern nicht - auch kaum zu treffende - Feststellungen
dazu, inwieweit die statistische Häufigkeit empirisch
gesichert ist, mit der diese Taten bei den (potentiellen) Opfern
schwerwiegende psychische Schäden auslösen.
Bei der genannten wertenden Abwägung ist vielmehr von den
Grundentscheidungen des Gesetzes auszugehen. § 176 StGB wurde
geschaffen und mehrfach (z.B. durch § 176a StGB) erweitert,
weil durch derartige Taten eine schwerwiegende
Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung von Kindern zu
besorgen ist (vgl. BGHSt 45, 131, 132; Tröndle/Fischer aaO
§ 176 Rdn. 2, 36 m.w.N.). Sie weisen, so auch die
Einschätzung des Gesetzgebers, einen erheblichen
("besonderen") Unrechts- und Schuldgehalt auf (vgl. BTDrucks. 15/350 S.
1, 17). Dementsprechend ist die Vorschrift in den Katalog des
§ 66 Abs. 3 StGB aufgenommen, auf den § 66b Abs. 3
Nr. 1 StGB verweist. Die Annahme, gleichwohl seien im Einzelfall
schwere seelische Schäden wenig wahrscheinlich, bedarf daher
konkreter Anhaltspunkte im Einzelfall (vgl. hierzu Hanack in LK 11.
Aufl. § 66 Rdn. 139). Die in diesem Zusammenhang - allein -
angestellte Erwägung der Strafkammer, es seien (auch)
künftig keine Gewalttätigkeiten zu erwarten,
würde letztlich bedeuten, dass bei Taten, die allein gegen
§ 176 StGB verstoßen, keine schweren
Schäden im Sinne des § 66b Abs. 3 Nr. 2 StGB
wahrscheinlich sind, sondern nur dann, wenn durch diese Taten zugleich
§ 177 StGB erfüllt wäre. Dieser
Maßstab ist mit der aufgezeigten gesetzlichen Wer-
24
- 14 -
tung unvereinbar (vgl. auch BGH NStZ 2007, 464, 465; Urt. vom
14.08.2007 - 1 StR 201/07 - Rdn. 33).
25
5. Gleichwohl hat das Urteil letztlich Bestand. Nach Auffassung des
Senats ist § 66b Abs. 3 StGB regelmäßig
dann nicht anwendbar, wenn, wie hier, nach der Entscheidung
gemäß § 67d Abs. 6 StGB noch eine mit der
Unterbringung gemäß § 63 StGB zugleich
verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der Wortlaut
des Gesetzes bietet für diese Auffassung allerdings keine
Anhaltspunkte. § 66b Abs. 3 spricht vielmehr auch von
Fällen, in denen der die Schuldfähigkeit vermindernde
Zustand nicht bestanden hat. In Fällen, in denen die
Schuldfähigkeit aber nur (erheblich) vermindert war, ist aber,
wie auch hier, eine - gegebenenfalls gemilderte - Strafe
verhängt worden. Über den Stand der
Strafvollstreckung ist nichts gesagt. Das bedeutet, dass § 66b
Abs. 3 StGB auch anwendbar zu sein scheint, wenn die Unterbringung zwar
erledigt, aber mit ihr zugleich verhängte Strafe noch zu
vollstrecken ist.
Die Gesetzesmaterialien zu § 66b Abs. 3 StGB weisen
demgegenüber eindeutig darauf hin, dass § 66b Abs. 1
und § 66b Abs. 2 StGB in derartigen Fällen eine
Sperrwirkung gegenüber § 66b Abs. 3 StGB entfalten.
Der - insoweit im weiteren Gesetzgebungsverfahren auch nicht in Frage
gestellte - Gesetzesentwurf der Bundesregierung enthält in
diesem Zusammenhang folgende Ausführungen (BTDrucks. 15/2887
S. 14):
26
"Anwendung soll die Vorschrift (§ 66b Abs. 3 StGB) vor allem
in denjenigen Fällen finden, in denen der Untergebrachte von
dem erkennenden Gericht für schuldunfähig gehalten
und deshalb nur die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet wurde, ohne dass parallel eine Freiheitsstrafe
verhängt werden konnte. Erfasst werden von der Vorschrift
daneben aber
- 15 -
auch die Fälle, in denen das Gericht unter Anwendung des
§ 21 StGB neben der Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus eine Freiheitsstrafe verhängt hatte, in denen die
Freiheitsstrafe aber in Umkehrung der regelmäßigen
Vollstreckungsreihenfolge (§ 67 Abs. 1 und 2 StGB) bereits vor
dem Vollzug der Maßregel vollständig vollstreckt
wurde und somit der Untergebrachte nunmehr aus der Maßregel
in die Freiheit zu entlassen wäre. In Fällen, in
denen nach Erledigung der Maßregel noch eine parallel
verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, ergibt sich
demgegenüber zunächst kein Bedürfnis
für die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung nach § 66b Abs. 3 StGB - neu -. Hier
kommt ggf. vor Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nach
§ 66b Abs. 1 und 2 StGB - neu - in Betracht."
Nach dem Willen des Gesetzgebers steht also in Fällen, in
denen nach der Erledigung der Unterbringung noch zugleich mit ihrer
Anordnung verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist,
nachträgliche Sicherungsverwahrung "zunächst" ohnehin
nicht in Frage. Notwendigem Schutz der Allgemeinheit ist dann
nämlich dadurch Rechnung getragen, dass sich der Betroffene
auch nach Erledigung der Unterbringung in Haft befindet. Deswegen
besteht für die Anwendbarkeit von § 66b Abs. 3 StGB
kein Bedürfnis. Später - in Anbetracht der Entlassung
aus dem Strafvollzug - sollen allein die gesetzlichen Voraussetzungen
von § 66b Abs. 1 und 2 StGB maßgebend sein. Dem
entspricht, dass als Anwendungsbereich von § 66b Abs. 3 StGB
im Zusammenhang mit ursprünglich neben der Unterbringung
zugleich verhängter Strafe ausdrücklich die - nach
forensischer Erfahrung praktisch eher seltenen (vgl. § 67 Abs.
4 StGB) - Fälle genannt sind, in denen diese Strafe bei
Erledigung der Unterbringung bereits vollständig
verbüßt ist. Dementsprechend weisen die
Gesetzesmaterialien auch
27
- 16 -
noch an anderer Stelle ausdrücklich darauf hin, dass
§ 66b Abs. 3 StGB verhindern soll, dass
hochgefährliche Straftäter infolge der
Erledigterklärung "ohne die Möglichkeit einer
nachträglichen Anordnung … der Sicherungsverwahrung
… in die Freiheit entlassen werden müssten" (aaO S.
13).
28
Der Senat hält es für zulässig,
Vorstellungen des Gesetzgebers der Gesetzesauslegung auch dann zu
Grunde zu legen, wenn diese Vorstellungen im Gesetzeswortlaut keinen
Niederschlag gefunden haben, sich aber ausschließ-lich zu
Gunsten des von der strafrechtlichen Bestimmung Betroffenen auswirken
(vgl. auch Eser in Schönke/Schröder, StGB 27. Aufl.
§ 1 Rdn. 31 f. zu Fällen von Analogie
ausschließlich zu Gunsten des Angeklagten). Der
mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die
äußerste Grenze zulässiger richterlicher
Auslegung strafrechtlicher Bestimmungen nur zum Nachteil des
Betroffenen (vgl. BGHSt 43, 237, 238; BGH NJW 2007, 524, 525 jew.
m.w.N.). Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs einer
Bestimmung anhand der Vorstellungen des Gesetzgebers, die sich im
Wortlaut der Bestimmung nicht oder jedenfalls nicht eindeutig
widerspiegeln, kommt um so eher in Betracht, je schwerer die Sanktion
ist, die die in Rede stehende Norm androht (in vergleichbarem Sinne zu
§ 239a Abs. 1, § 239b Abs. 1 StGB
<Mindeststrafe fünf Jahre> BGHSt 40, 350, 356
f.; Träger/Schluckebier in LK 11. Aufl. § 239a Rdn.
16; zu § 316a StGB <Mindeststrafe ebenfalls
fünf Jahre> BGHSt 49, 8, 11). Hier folgt der Senat
schon deshalb der Gesetzesbegründung (vgl. auch Koller R
& P 2007, 57, 66 f.), weil es sich bei der Sicherungsverwahrung
schon generell um eine den Betroffenen außerordentlich
beschwerende Maßregel handelt (vgl. BGHSt 50, 275, 278) und
der hier in Rede stehende § 66b StGB als Vorschrift
über deren nachträgliche Anordnung insgesamt
restriktiv zu handhaben ist. Hierdurch bewahrt die
nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ihren
Charakter einer auf seltene Einzelfälle beschränkten
Maßnahme (vgl. BGHSt 50, 284, 296; 51, 25, 27; BGH NJW 2007,
1074, 1076), wie dies von Verfassungs wegen
- 17 -
geboten (BVerfGE 109, 190, 236, 242; BVerfG <Kammer> NJW
2006, 3483, 3485) und dementsprechend vom Gesetzgeber beabsichtigt ist
(BTDrucks. aaO S. 10, 12 f.).
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Inwieweit von dem aufgezeigten Grundsatz - keine Anwendbarkeit von
§ 66b Abs. 3 StGB, wenn nach Erledigung der Unterbringung
zugleich mit der Unterbringung verhängte Freiheitsstrafe
vollstreckt wird - etwa dann Ausnahmen denkbar sein könnten,
wenn nach der Erledigterklärung nur noch sehr kurze Zeit
Strafe zu vollstrecken wäre, braucht der Senat hier schon
deshalb nicht zu entscheiden, weil gegen den Betroffenen noch mehr als
zehn Monate Freiheitsstrafe zu vollstrecken waren.
Nack Wahl Kolz
Elf Graf |