BGH,
Urt. v. 29.8.2001 - 2 StR 276/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 276/01
vom
29. August 2001
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 29.
August 2001, an der teilgenommen haben: Vizepräsident des
Bundesgerichtshofes Dr. Jähnke als Vorsitzender und die
Richter am Bundesgerichtshof Dr. h.c. Detter, Dr. Bode, die
Richterinnen am Bundesgerichtshof Dr. Otten, Elf als beisitzende
Richter, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts
Wiesbaden vom 9. Januar 2001 wird verworfen.
Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die dem
Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Vergewaltigung unter
Verwendung eines anderen gefährlichen Werkzeugs" unter
Einbeziehung von Geldstrafen aus einem Strafbefehl zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten sowie
darüber hinaus wegen tateinheitlich begangener Beleidigung und
Bedrohung in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 60
Tagessätzen zu je 45, DM verurteilt, das Verfahren in einem
weiteren Fall eingestellt und den Angeklagten im übrigen
freigesprochen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die zum Nachteil des Angeklagten
eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die - wie sich aus der
Begründung ergibt - auf den Einzelstrafausspruch hinsichtlich
der Vergewaltigung (Einzelstrafe zwei Jahre und vier Monate) sowie den
Gesamtstrafausspruch beschränkt ist. Sie wendet sich mit der
Sachrüge insbesondere gegen die Annahme eines minder schweren
Falles gemäß § 177 Abs. 5 StGB durch das
Landgericht. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat
keinen Erfolg.
II.
Der Angeklagte, der seit ca. 30 Jahren in Deutschland lebt, war von
1974/75 bis November 2000 mit der Nebenklägerin verheiratet.
Beide sind türkische Staatsangehörige. In der
zunächst harmonischen Ehe kam es ab 1995 zu erheblichen
Spannungen, weshalb die Nebenklägerin im August 1998 aus der
ehelichen Wohnung auszog und im Januar 1999 einen Scheidungsantrag beim
Familiengericht einreichte. Im Juli 1999 kehrte sie auf
Drängen der gemeinsamen Söhne in die eheliche Wohnung
zurück, bestand aber auf getrennten Schlafzimmern und
vereinbarte mit dem Angeklagten, daß es nicht zu sexuellen
Kontakten kommen solle. Der Angeklagte hielt sich zunächst an
die getroffene Verabredung. Ab August 1999 ruhte das
Scheidungsverfahren vorerst, da die Eheleute um eine
Aussöhnung bemüht waren.
Am 11. November 1999 erklärte der Angeklagte der
Nebenklägerin, daß er mit ihr "schlafen" wolle und
sie in das gemeinsame Schlafzimmer zurückkehren solle. Als
diese sein Ansinnen ablehnte, hielt er ihr ein ca. 15 cm langes
Obstmesser an den Bauch und vollzog gegen ihren Willen den
Geschlechtsverkehr bis zur Ejakulation mit ihr. Nachdem sie etwas
später zusammen Kaffee getrunken hatten, ergriff der
Angeklagte erneut das Messer, um mit der Nebenklägerin ein
weiteres Mal - auch gegen ihren Willen - geschlechtlich zu verkehren,
gab sein Vorhaben jedoch freiwillig wieder auf. Anschließend
saßen beide noch einige Stunden zusammen.
In der Folgezeit kam es häufig zu Streitigkeiten zwischen den
Eheleuten. Nachdem der Angeklagte die Nebenklägerin am 31.
Dezember 1999 mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen und
getreten hatte, zog diese endgültig aus der gemeinsamen
Wohnung aus und erstattete Strafanzeige wegen
Körperverletzung. Der Angeklagte beschimpfte die
Nebenklägerin in den folgenden Monaten mehrfach und drohte
ihr, sie umzubringen. Nach dem Scheidungstermin im Juli 2000 beruhigte
sich die Situation weitgehend. Es kam zu mehreren Treffen zwischen dem
Angeklagten und der Nebenklägerin. Nach der Festnahme des
Angeklagten bemühte sie sich um seine Freilassung und bat in
der Hauptverhandlung mehrfach, daß er keine hohe Strafe
erhalten solle, um die Familie nicht noch weiter auseinanderzubringen.
III.
Die Strafkammer, die das Geschehen rechtlich zutreffend als
Vergewaltigung nach § 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4
StGB gewürdigt hat, hat die Strafe dem Strafrahmen des
§ 177 Abs. 5 StGB - ein Jahr bis zehn Jahre Freiheitsstrafe -
entnommen. Die vom Landgericht vorgenommene Bestimmung des Strafrahmens
und die Strafzumessung halten rechtlicher Prüfung stand.
1. Für die Entscheidung, ob ein minder schwerer Fall
angenommen werden kann, ist nach ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs maßgebend, ob das gesamte Tatbild
einschließlich aller subjektiven Momente und der
Täterpersönlichkeit vom Durchschnitt der
erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle so sehr
abweicht, daß die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten
erscheint. Hierzu ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, bei der alle
Umstände heranzuziehen und zu würdigen sind, die
für die Wertung der Tat und des Täters in Betracht
kommen, gleichgültig, ob sie der Tat selbst innewohnen, sie
begleiten, ihr vorausgehen oder nachfolgen (BGHSt 26, 97, 98; BGH NStZ
2000, 254; BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 1, 5, 6).
Dabei obliegt es dem pflichtgemäßen Ermessen des
Tatrichters, welches Gewicht er den einzelnen
Milderungsgründen im Verhältnis zu den
Erschwerungsgründen beimißt; seine Wertung ist vom
Revisionsgericht nur begrenzt nachprüfbar (BGH, Urt. v. 26.
Juni 2001 - 5 StR 151/01; BGH NStZ 1982, 26; BGHR StGB vor §
1/minder schwerer Fall Gesamtwürdigung 8).
Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei zahlreiche gewichtige
Strafmilderungsgründe dargelegt. Entgegen der Auffassung der
Revision konnte es die langjährige eheliche Beziehung zwischen
dem Angeklagten und der Nebenklägerin
berücksichtigen. Daß es seit zwei Jahren nicht mehr
zu sexuellen Kontakten zwischen den Eheleuten gekommen war, hat es
nicht übersehen. Nach den Urteilsfeststellungen wollte der
Angeklagte die Nebenklägerin durch die Tat nicht bestrafen
oder seine "Rechte" demonstrieren, sondern sehnte sich nach ihrer
Zuneigung. Nach der Rückkehr der Nebenklägerin hatte
er gehofft, sie zurückzugewinnen und ein normales Eheleben
führen zu können.
Die Kammer hat auch nicht in Frage gestellt, daß für
den Angeklagten als türkischen Staatsangehörigen in
Deutschland das deutsche Strafrecht verbindlich ist. Es durfte aber
strafmildernd werten, daß der Angeklagte zur Begehung dieser
Tat eine geringere Hemmschwelle zu überwinden hatte. Sowohl
der Angeklagte als auch die Nebenklägerin stammen aus einem
anderen Kulturkreis mit auf dem Islam basierenden Wertvorstellungen und
waren trotz ihres langen Aufenthalts in Deutschland dem traditionellen
Rollenverständnis verhaftet, bei dem von der Ehefrau
Unterordnung und Gehorsam erwartet wird. So hatte etwa die
Nebenklägerin den Angeklagten zu fragen, wenn sie Besuche bei
Verwandten oder Bekannten beabsichtigte. Auch die
Nebenklägerin hatte die Vergewaltigung nicht zum
Anlaß genommen, aus der Wohnung auszuziehen, wie sie es
einige Zeit später nach Mißhandlungen des
Angeklagten tat.
Schließlich konnte die Strafkammer auch aus der Tatsache,
daß die Nebenklägerin erst zwei Monate
später anläßlich einer
Körperverletzung aus der gemeinsamen Wohnung auszog und erst
im Rahmen dieser Strafanzeige eher beiläufig auch die
Vergewaltigung erwähnt hat, sowie den weiteren Treffen nach
der Trennung den Schluß ziehen, daß sie aus der
Vergewaltigung keine nachhaltigen psychischen oder
körperlichen Schäden davongetragen hat.
Das Landgericht hat allerdings bei der Erörterung des minder
schweren Falls die straferschwerenden Gesichtspunkte nicht
ausdrücklich erwähnt. Dazu gehörte hier
insbesondere die Verwirklichung des Regelbeispiels des § 177
Abs. 2 StGB. Daß die Kammer die straferschwerenden
Umstände übersehen haben könnte, ist jedoch
auszuschließen. Denn sie hat nicht nur die Tat
ausführlich geschildert und rechtlich zutreffend als
Vergewaltigung unter Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs
nach § 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB
eingeordnet, sondern die erschwerenden Umstände bei der
konkreten Strafzumessung ausdrücklich erörtert, so
daß ihr diese Gesichtspunkte auch zuvor bei der Bestimmung
des Strafrahmens nicht entgangen sein können. Aus einer
Gesamtschau der Urteilsgründe ergibt sich vielmehr,
daß der Kammer trotz der straferschwerenden Umstände
die Anwendung des Normalstrafrahmens des § 177 Abs. 4 StGB
(mit einer Mindeststrafe fünf Jahren Freiheitsstrafe) wegen
des überragenden Gewichts der Strafmilderungsgründe
unangemessen hart erschien.
Zutreffend weist die Revision allerdings darauf hin, daß der
Tatrichter, soweit er im Fall der Verwirklichung des
Qualifikationstatbestands des § 177 Abs. 4 StGB einen minder
schweren Fall nach Absatz 5 annehmen will, dann, wenn zugleich ein
Regelbeispiel nach Absatz 2 gegeben ist, berücksichtigen
muß, daß Absatz 2 einen schärferen
Strafrahmen als Absatz 5 2. Halbsatz vorsieht. Kommt er daher zum
Strafrahmen des Absatzes 5, so hat er die Untergrenze des §
177 Abs. 2 StGB zu beachten, wenn dieser Strafrahmen ohne das Vorliegen
der Qualifikation nach Absatz 4 gegeben wäre, da nur so
Wertungswidersprüche vermieden werden können (BGH
NStZ 2000, 419; BGH, Urt. v. 16. August 2000 - 2 StR 159/00; BGH, Urt.
v. 11. Juli 2001 - 3 StR 214/01).
Daß das Landgericht sich damit nicht ausdrücklich
auseinandergesetzt hat, gefährdet den Bestand des Urteils hier
nicht. Denn das Vorliegen eines Regelbeispiels nach Absatz 2
schließt die Annahme einer Strafrahmenuntergrenze von einem
Jahr nach Abs. 5 2. Halbsatz nicht grundsätzlich aus, vielmehr
können gewichtige schuldmindernde Umstände auch die
Abweichung von der in Absatz 2 vorgesehenen Strafuntergrenze
rechtfertigen. Eine solche Sachverhaltsgestaltung hat das Landgericht
hier ersichtlich angenommen. Es hat gerade auch Gesichtspunkte
angeführt, die die Verwirklichung des Regelbeispiels nach
Absatz 2 als minder schwer erscheinen lassen und ausdrücklich
ausgeführt, daß trotz der Verwirklichung des
Regelbeispiels nach § 177 Abs. 2 StGB es die
Verhängung einer höheren Freiheitsstrafe nicht
für gerechtfertigt halte, da "der Tat ... im
Verhältnis zu anderen Fällen der Vergewaltigung kein
derart hoher Stellenwert" zukomme (UA S. 29 3. Absatz). Diese Wertung
des Tatrichters ist vom Revisionsgericht hinzunehmen.
Die Strafzumessung weist auch im übrigen keinen Rechtsfehler
auf. Das Landgericht hat bei der Bemessung der Einzelstrafe
für die Vergewaltigung alle wesentlichen belastenden und
entlastenden Gesichtspunkte ausführlich abgewogen. Die Strafe
unterscheidet sich auch von den in vergleichbaren Fällen
üblicherweise verhängten Strafen nicht so erheblich,
daß der mit ihr verfolgte Zweck des Schutzes der
Rechtsordnung durch gerechten Schuldausgleich nicht mehr erreicht
werden könnte.
Die von der Revision vorgetragenen weiteren straferschwerenden
Gesichtspunkte sind urteilsfremd und können im
Revisionsverfahren keine Berücksichtigung finden.
3. Einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten hat die
Überprüfung des Urteils aufgrund der nach §
301 StPO auch zugunsten des Angeklagten wirkenden Revision der
Staatsanwaltschaft nicht ergeben.
Jähnke Detter Bode
Otten Elf |