BGH,
Urt. v. 3.12.2002 - 1 StR 378/02
1 StR 378/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
3. Dezember 2002
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 3.
Dezember 2002, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Nack und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Wahl,
Dr. Boetticher, Schluckebier, Dr. Kolz, Oberstaatsanwalt beim
Bundesgerichtshof als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ulm vom
3. Juni 2002 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und
die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen
notwendigen Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Die Jugendkammer hat den Angeklagten zu drei Jahren und drei Monaten
Freiheitsstrafe verurteilt, weil er im Zustande alkoholbedingt
erheblich verminderter Schuldfähigkeit die 14 Jahre alte B. G.
vergewaltigt hat. Seine auf Verfahrensrügen und die
Sachrüge gestützte Revision macht im wesentlichen
geltend, die Jugendkammer habe nicht rechtsfehlerfrei eine
alkoholbedingte Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) des
Angeklagten ausgeschlossen. Auch der Generalbundesanwalt hält
das Urteil für rechtsfehlerhaft.
Die Revision bleibt erfolglos. Die Revisionsangriffe versagen, auch im
übrigen hat die Überprüfung des Urteils
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
I.
1. Folgendes ist festgestellt:
a) Am Mittag des 5. August 2001 überredete der Angeklagte in
der Nähe seines Wohnhauses auf der Straße die
Geschädigte, deren zehn Jahre alte Schwester und ein weiteres,
ebenfalls zehn Jahre altes Mädchen, mit ihm in seinem
Schrebergarten Blumen zu gießen. Er bestellte telefonisch ein
Taxi und fuhr mit ihnen zu der unweit gelegenen Anlage, wobei er der
Taxifahrerin den ihr unbekannten Weg wies. Der Angeklagte, der
"zumindest eines der Mädchen in seiner Gartenhütte
sexuell missbrauchen" wollte, forderte zunächst eine der
Zehnjährigen auf, mit ihm in die Hütte zu kommen. Als
sie ablehnte, zerrte er sie am Oberarm; sie konnte sich aber befreien.
Die beiden zehnjährigen Mädchen entfernten sich,
nachdem ihnen der Angeklagte 50 DM gegeben und sie aufgefordert hatte,
"alles, was sie gesehen hätten zu vergessen und zu
verschwinden". Anschließend zog der Angeklagte B. G. gegen
ihren Widerstand in die Hütte, die er von innen versperrte.
Obwohl sie sich wehrte und schrie, warf er sie auf ein Sofa, zog sie
und sich vollständig aus und legte sich auf sie. Zum
Geschlechtsverkehr kam es nicht, sein wiederholter Versuch scheiterte,
weil er keine "ausreichend starke" Erektion hatte. Statt dessen
führte er über etwa fünf Minuten immer
wieder seinen Finger in ihre Scheide ein. Als sie Übelkeit
vortäuschte und an die Luft wollte, bot er ihr 100 DM an, wenn
er weitermachen könne. Letztlich schloß er aber die
Tür auf und B. G. konnte fliehen.
b) Eine etwa sechs Stunden nach der Tat entnommene Blutprobe des
Angeklagten ergab eine Blutalkoholkonzentration von 2,80 %o. Auf der
Grundlage der Angaben des Angeklagten, vor der Tat in erheblichem
Umfang Wodka und nach der Tat eine Flasche Bier getrunken zu haben,
errechnet die Jugendkammer ohne einen den Angeklagten benachteiligenden
Fehler einen theoretischen Maximalblutalkoholwert von 3,87 %o zur
Tatzeit.
2. Die Jugendkammer stützt ihre Annahme, beim Angeklagten
hätten wegen vorangegangenen Alkoholkonsums zwar die
Voraussetzungen von § 21 StGB, nicht aber die des §
20 StGB vorgelegen, auf die im einzelnen rechtsfehlerfrei dargelegte
sehr hohe Alkoholgewöhnung des Angeklagten sowie auf sein
Verhalten vor und bei der Tat. Darüber hinaus weist sie darauf
hin, daß die Taxifahrerin den Angeklagten "als betrunken,
aber nicht volltrunken" beschrieben hat und er bei der Blutprobe
(Ergebnis: 2,80 %o) dem Arzt nur "leicht alkoholisiert" erschien.
II.
1. Mit einer Aufklärungsrüge macht die Revision
geltend, die Jugendkammer hätte einen
Sachverständigen "zum etwaigen Vorliegen der Voraussetzungen
des § 20 StGB" hören müssen. Eine Verletzung
der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) ist damit
schon nicht zulässig gerügt, da entgegen §
344 Abs. 2 Satz 2 StPO das erwartete Beweisergebnis nicht klar genug
mitgeteilt ist. Das genannte Vorbringen der Revision ist nicht anders
zu bewerten als ein Vorbringen, das ein bestimmtes Ergebnis nur als
möglich bezeichnet, oder das behauptet, weitere Ermittlungen
hätten vielleicht ein anderes Beweisergebnis erbracht (vgl.
hierzu nur BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2
Aufklärungsrüge 1; BGH, Beschluß vom 4
August 1998 - 1 StR 79/98; w. Nachw. bei Kuckein in KK 4. Aufl.
§ 344 Rdn. 51).
2. Im übrigen ist auch nicht erkennbar, daß sich die
Jugendkammer sachverständiger Beratung hätte bedienen
müssen (vgl. auch Maatz/Wahl BGH - FS S. 531, 553). Ohne
daß dies bei der vorliegenden, eher einfach gelagerten
Fallgestaltung gesonderter Darlegung bedurft hätte, belegen
ihre Ausführungen genügend eigene Sachkunde. Weder
ist die Jugendkammer von einem unzutreffenden Maßstab
ausgegangen, noch hat sie wesentliche Gesichtspunkte
unberücksichtigt gelassen:
a) Bei einer Blutalkoholkonzentration der genannten Höhe ist
die Möglichkeit von Schuldunfähigkeit zu
erörtern. Einen Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ab einer
bestimmten Höhe der Blutalkoholkonzentration
regelmäßig von Schuldunfähigkeit auszugehen
sei, gibt es jedoch nicht. Entscheidend ist vielmehr eine Gesamtschau
aller wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die
sich auf das Erscheinungsbild des Täters vor, während
und nach der Tat beziehen. Die Blutalkoholkonzentration ist in diesem
Zusammenhang ein zwar gewichtiges, aber keinesfalls allein
maßgebliches Beweisanzeichen, wobei deren Bedeutung auch von
der - hier sehr hohen - Alkoholgewöhnung des Täters
beeinflußt sein kann (vgl. nur BGH NStZ 1998, 591, 592; StV
1997, 257; insgesamt eingehend zur Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes Schild in NK - StGB < 9. Lieferung 2001
> § 20 Rdn. 143 f. m. zahlr. Nachw.).
Die Ausführungen der Jugendkammer lassen erkennen,
daß sie von diesen Grundsätzen ausgegangen ist (zum
Maßstab revisionsrechtlicher Überprüfung
tatrichterlicher Entscheidungen zum Einfluß von Alkohol auf
die Schuldfähigkeit vgl. auch Maatz/Wahl aaO). Es ist auch
nicht ersichtlich, daß eine der im einzelnen von der
Jugendkammer angestellten Erwägungen ungeeignet wäre,
zur Stützung des gefundenen Gesamtergebnisses herangezogen zu
werden.
b) Soweit geltend gemacht ist, die Jugendkammer hätte
wesentliche Gesichtspunkte, die sich zwar nicht aus dem Urteil, wohl
aber aus dem Akteninhalt ergeben, bei der Prüfung der
Schuldfähigkeit außer acht gelassen, ist das
Vorbringen der Revision schon nicht zulässig.
(1) Die Revision macht geltend, die Taxifahrerin (vgl. oben I 2) habe
den Angeklagten bei der Polizei als "total betrunken" bezeichnet.
Verfahrensrügen, die auf einen Abgleich des Urteils mit der
Aktenlage gerichtet sind, sind jedoch nicht zulässig (vgl. nur
BGH NStZ 2000, 156; Wahl in NJW - Sonderheft für G.
Schäfer 2002, S. 73 jew. m. w. Nachw.). Die Taxifahrerin wurde
in der Hauptverhandlung gehört und hat den Angeklagten
ausweislich der maßgeblichen Urteilsgründe gerade
nicht als volltrunken bezeichnet.
(2) Weiter macht die Revision geltend, die Geschädigte habe
bei der Polizei angegeben, daß der Angeklagte, "als er die
Tür aufschloss, irgendwie nicht mehr bei der Sache war. Er
saß offensichtlich völlig apathisch auf dem Sofa und
war geistig entrückt". Die Revision führt weiter aus,
daß diese Beobachtung der Geschädigten auf
ausgeschlossene Schuldfähigkeit hindeute.
Ausweislich der Urteilsgründe wurde die Geschädigte
in der Hauptverhandlung nicht vernommen; ihre polizeiliche Aussage
wurde verlesen. Eine Verfahrensrüge, mit der geltend gemacht
wird, eine solche Aussage habe einen anderen Inhalt, als er dem Urteil
zu Grunde gelegt wurde, ist unter diesen Umständen
möglich, ebenso eine Rüge, wesentliche Erkenntnisse,
die sich aus der verlesenen Aussage ergeben, seien unbeachtet geblieben
(vgl. nur BGHR StPO § 261 Inbegriff 7, 15, 22, 30; Wahl aaO m.
w. Nachw.).
Nach der verlesenen polizeilichen Aussage hat die Geschädigte
am Tattag auf die Frage, ob der Angeklagte betrunken war,
erklärt: "Meiner Meinung nach war er nicht stark betrunken.
Man roch zwar den Alkohol, aber er hatte keinen unsicheren Gang, lallte
nicht und ich glaube, er wusste, was er tat". Bei einer - ebenfalls
verlesenen - ergänzenden Vernehmung vom nächsten Tag
sagte sie: " Danach (gemeint: nach dem Aufschließen der
Tür) setzte sich Herr N. wieder auf das Sofa und war irgendwie
nicht mehr bei der Sache. In diesem Moment konnte ich mich schnell
anziehen... Danach konnte ich ... davonlaufen".
Daraus ergibt sich, daß diese Rüge schon an entgegen
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzutreffendem und
unvollständigem Vortrag scheitert. Die Geschädigte
hat weder ausdrücklich noch sinngemäß
erklärt, nach ihrer Beobachtung sei der Angeklagte
"völlig apathisch ... und geistig entrückt" gewesen.
Dem gegenüber verschweigt die Revision die Aussage der
Geschädigten vom Tattag, die jedenfalls nicht für
eine besonders intensive Trunkenheit spricht. Solch
unvollständiger Vortrag führt dazu, daß
sich die Revision nicht mit Umständen auseinander setzen
muß, die gegen ihr Vorbringen sprechen (BGHSt 40, 218, 240;
BGH, Urteil vom 1. Juli 1998 - 1 StR 182/98).
Im übrigen wurde dem Angeklagten erheblich verminderte
Schuldfähigkeit zugebilligt, weil er vor der Tat viel Alkohol
konsumiert hatte. Allein daraus, daß Auswirkungen dieses
Alkoholkonsums auch äußerlich erkennbar waren,
ergibt sich jedoch nicht, daß der Angeklagte alkoholbedingt
nicht nur erheblich vermindert schuldfähig, sondern
schuldunfähig war. Besonders intensive oder
ungewöhnliche Alkoholauswirkungen, die eine andere Beurteilung
nahe legen könnten, ergeben sich aus der Aussage, der
Angeklagte sei nach der Tat "irgendwie nicht bei der Sache" gewesen,
jedenfalls nicht.
c) Schließlich ist auch nicht ersichtlich, daß die
Jugendkammer wesentliche, im Urteil getroffene Feststellungen im Rahmen
der Prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten
außer acht gelassen hätte:
(1) Der Senat teilt nicht die Auffassung, es könne ein hier
möglicherweise für Schuldunfähigkeit
sprechendes Indiz sein, daß der Angeklagte mit den
Mädchen mit einem Taxi zum Tatort fuhr. Insbesondere belegt
dies nicht, daß sich der Angeklagte ohne
vernünftigen Grund einem erheblichen Entdeckungsrisiko
ausgesetzt hätte. Die Taxifahrerin konnte allenfalls bekunden,
daß der Angeklagte und die Mädchen zur
Kleingartenanlage gefahren sind, nicht aber, was dort geschehen ist.
Wäre der Angeklagte im übrigen am frühen
Nachmittag aus Richtung seiner Wohnung in E. in Begleitung von drei
Mädchen zu Fuß zu der Kleingartenanlage gelaufen,
wäre die Möglichkeit, daß dies beobachtet
worden wäre, auch nicht erkennbar geringer gewesen.
Daß der Angeklagte auch sonst keine unverständlichen
Entdeckungsrisiken einging, wird im übrigen auch daran
deutlich, daß er vor der Tat die beiden jüngeren
Mädchen mit Geld dazu veranlaßte, sich zu entfernen
und er später der Geschädigten Geld anbot, mit dem er
sie offensichtlich auch zum Schweigen veranlassen wollte.
(2) Schließlich ist, zumal im Gesamtzusammenhang der
Urteilsgründe, auch nicht erkennbar, daß die nicht
"ausreichend stark(e)" Erektion des Angeklagten ein Gesichtspunkt sein
könnte, der den Ausschluß der
Schuldfähigkeit des Angeklagten nahe legt und daher in diesem
Zusammenhang zu erörtern gewesen wäre (vgl. auch oben
II. 2 b).
3. Auch im übrigen ist der Schuldspruch rechtsfehlerfrei.
III.
Auch der Strafausspruch hält rechtlicher
Überprüfung stand.
1. Die Jugendkammer hat festgestellt, der Angeklagte - monatliches
Einkommen: 1.000 EUR - habe mit der Geschädigten "ein
Schmerzensgeld von 3.0000 EUR" vereinbart. Näheres zu diesem
ausdrücklich strafmildernd berücksichtigten Umstand
ist nicht ausgeführt.
Der Generalbundesanwalt hält auch unbeschadet der Frage, ob
damit 3.000 EUR oder 30.000 EUR gemeint sind, jedenfalls für
rechtsfehlerhaft, daß die Anwendbarkeit von
§§ 46a Nr. 1, 49 Abs. 1 StGB nicht erörtert
ist.
Der Senat, dem im übrigen eine Schmerzensgeldzusage
über 30.000 EUR unrealistisch erschiene, sieht -
unabhängig von der Höhe der Zusage - keinen
durchgreifenden Rechtsfehler:
Auf die Vernehmung der Geschädigten war allseits verzichtet
worden. Die Jugendkammer hat, ersichtlich auf Grund der Vernehmung der
Mutter der Geschädigten festgestellt, daß diese noch
immer unter den Folgen der Tat erheblich zu leiden hat. Sie hat
Probleme im Umgang mit Erwachsenen, insbesondere mit Männern,
hat Schlafstörungen und macht sich wegen der Tat
Selbstvorwürfe. Sie fürchtet, die Familie des
Angeklagten denke schlecht über sie. Sie ist noch immer in
psychologischer Behandlung; wann diese beendet werden kann, ist noch
nicht absehbar. Trotz der nicht sehr klaren Feststellung der
Jugendkammer zu einer Vereinbarung zwischen dem Angeklagten und der
minderjährigen Geschädigten über
vermögensrechtliche Ansprüche drängt sich
jedenfalls unter den hier gegebenen Umständen die Annahme, es
sei zu einem kommunikativen, auf einen umfassenden, friedenstiftenden
Ausgleich gerichteten Prozeß zwischen der
Geschädigten und dem Angeklagten gekommen, nicht auf.
2. Auch im übrigen sind Rechtsfehler bei der Strafzumessung
nicht ersichtlich. Das Vorbringen der Revision beschränkt sich
letztlich darauf, auch von der Jugendkammer nicht übersehene
Gesichtspunkte anders zu gewichten.
Nack Wahl Boetticher Schluckebier Kolz |