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BGH, Urteil vom 3. Juli 2003 - 4 StR 190/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 3.7.2003 - 4 StR 190/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 190/03
vom
3.7.2003
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Verdachts der Mißhandlung einer Schutzbefohlenen u.a.
- 2 -
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3.7.2003,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Richter am Landgericht
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger der Angeklagten ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger des Angeklagten ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
des Landgerichts Halle/Saale vom 29. Oktober 2002
mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine
andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die beiden Angeklagten vom Vorwurf der Mißhandlung
einer Schutzbefohlenen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die
Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen, mit der sie die Verletzung sachlichen
Rechts rügt. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Die beiden Angeklagten sind die leiblichen Eltern des am 13. November
2000 geborenen Kindes Michelle P. und betreuten es gemeinsam, bis es
Ende Januar 2001 aufgrund der verfahrensgegenständlichen Vorfälle in die
Obhut von Pflegeeltern gegeben wurde. Im Zeitraum nach der Entlassung aus
der Entbindungsklinik bis zum 22. Januar 2001 wurde das Kind Opfer vielfacher
Mißhandlungen durch einen der Angeklagten.
- 4 -
Bereits am 25. Dezember 2000 wurde das Kind wegen auffälligen
Schreiens in die Notfallambulanz des Klinikums Zeitz gebracht. Zwar stellte
dort ein Arzt lediglich eine leichte Schwellung am linken Bein fest. Tatsächlich
ergab aber eine spätere Röntgendiagnose im unteren Bereich des Unterschenkels
eine Kantenabsprengung, wie sie typischerweise durch ein Verdrehungstrauma
entsteht, indem der Täter mit einer Hand das Becken des Kindes fixiert
und mit der anderen das Bein verdreht, bis es zum Bruch kommt. Am 10. Januar
2001 erschien die Angeklagte mit dem Kind bei der behandelnden Kinderärztin
N. , die im Gesicht und auf der Brust fingerkuppengroße Hämatome
feststellte, worauf die Angeklagte - ohne daß die Ärztin bis dahin einen Verdacht
geäußert hatte - sogleich erklärte, "sie würden ihr Kind nicht mißhandeln".
Die Angeklagten wechselten nunmehr den Kinderarzt und suchten gemeinsam
am 15. Januar 2001 mit dem Kind den Arzt Dr. P. auf. Dieser bemerkte
im Halsbereich des Säuglings 1 bis 3 cm lange, bereits verschorfte
Kratz- und Rißwunden, ein Hämatom am Kinn bzw. Unterkiefer und mehrere
Hämatome auf der linken Thoraxseite. Darüber hinaus stellte Dr. P. eine
etwa ein bis 2 Tage alte Verletzung des Zungenbändchens fest, wie sie beim
Füttern entstehen kann, wenn der Löffel bzw. die Saugflasche zu grob in den
Mund des Kindes gedrückt wird. Bei dem weiteren Arztbesuch der angeklagten
Kindesmutter am 22. Januar 2001 stellte Dr. P. ein frisches münzgroßes
Hämatom rechts an der Stirn und am linken Bein eine "teigige Verdickung" fest,
die den Verdacht auf eine geschlossene Fraktur ergab. Im weiteren Verlauf des
Tages trat bei dem Kind ein Atemstillstand ein. Die von der Angeklagten telefonisch
herbeigerufene Notärztin veranlaßte die Einweisung des Säuglings in die
Kinderklinik. Michelle war bei ihrem Eintreffen dort in einem lebensbedrohlichen
Zustand. An äußeren Verletzungen stellte man eine blutverkrustete Nase,
das lädierte Zungenbändchen, Hämatome im Gesicht, zahlreiche ältere Narben
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am Hals und fünf Hämatome im Brustbereich fest. Darüber hinaus fanden sich
im Brustkorbbereich und an beiden Unterschenkeln knöcherne Verdickungen.
Die noch am selben Tage gefertigten Röntgenaufnahmen ergaben eine etwa 8
bis 10 Tage alte Rippenserienfraktur rechts, etwa 3 bis 4 Wochen alte Frakturen
beider Schienbeine sowie eine glatte, etwa eine Woche alte Schaftfraktur
des kompletten linken Unterarms. Darüber hinaus wurden in der Universitätskinderklinik,
in die das Mädchen wegen des Verdachts einer Blutung in die
Schädelhöhle am 23. Januar 2001 verlegt wurde, nicht ganz frische Netzhautblutungen
festgestellt, wie sie typischerweise bei Kindesmißhandlungen durch
heftiges Schütteln (shakenbaby) entstehen, ferner am Anus ein Einriß, am
Scheideneingang ein etwa 2 bis 3 Tage alter Riß sowie an beiden Oberschenkelknochen
eine metaphysäre Kantenaussprengung. Der Bruch des linken
Unterarms war entweder dadurch entstanden, daß mit einem Gegenstand unter
großem Druck auf den Arm eingewirkt oder der Arm gegen einen Gegenstand
gedrückt wurde. Die Verletzungen im Anal- und Vaginalbereich sind auf das
Einführen eines kantigen Gegenstandes zurückzuführen.
2. Die Angeklagten haben sich weder zur Person noch zur Sache eingelassen.
Ohne Rechtsfehler hat sich das sachverständig beratene Landgericht
aber die Überzeugung verschafft, daß die festgestellten Verletzungen die
Folge massiver Mißhandlungen sind, für die nur die beiden Angeklagten als
Täter in Betracht kommen. Zutreffend hat das Landgericht auch zumindest das
Beibringen der Frakturen und das Zufügen der Verletzungen im Anal- und Genitalbereich
als rohe Mißhandlungen im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gewertet.
An einer Verurteilung der Angeklagten hat es sich jedoch deshalb gehindert
gesehen, weil es nicht festzustellen vermocht hat, welcher der beiden Angeklagten
der aktiv handelnde Täter war und dem Kind die Verletzungen beige-
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bracht hat. Auch sei nicht festzustellen, daß der nicht aktive Elternteil im Zeitpunkt,
als er Kenntnis von einer Mißhandlung des Kindes erlangte, Anlaß zu
der Annahme hatte, das Kind werde auch in Zukunft im Sinne von § 225 Abs. 1
StGB gequält oder roh mißhandelt werden. An einer Verurteilung der Angeklagten
wegen Körperverletzung, begangen durch Unterlassen, hat sich das
Landgericht mangels Strafantrags gehindert gesehen.
3. Der Freispruch hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht allerdings zu Gunsten eines jeden
der beiden Angeklagten angenommen, daß jeweils der andere der aktiv
handelnde Täter war, und deshalb eine Strafbarkeit nur wegen Unterlassungstäterschaft
(§ 13 Abs. 1 StGB) geprüft, die hinsichtlich sämtlicher Tatbestandsalternativen
des § 225 Abs. 1 StGB in Betracht kommt (vgl. Tröndle/
Fischer StGB 51. Aufl. § 225 Rdn. 8 m.N.). Zu Recht beanstandet die Beschwerdeführerin
aber, daß das Landgericht den festgestellten Sachverhalt
nicht erschöpfend gewürdigt und sich deshalb den Blick für die für beide Angeklagten
in Betracht kommende Tatbestandserfüllung verstellt hat.
a) Das Kind Michelle ist durch den aktiv handelnden Täter im Sinne des
§ 225 Abs. 1 StGB sowohl gequält als auch roh mißhandelt worden. Quälen
bedeutet das Verursachen länger dauernder oder sich wiederholender
Schmerzen, wobei dieses Tatbestandsmerkmal typischerweise durch Vornahme
mehrerer Handlungen verwirklicht wird und gerade die ständige Wiederholung
für sich den besonderen Unrechtsgehalt dieser Form der Körperverletzung
auszeichnet (vgl. BGHSt 41, 113, 115). „Roh“ ist eine Mißhandlung im Sinne
des Tatbestandes, wenn sie aus einer gefühllosen gegen die Leiden des Op-
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fers gleichgültigen Gesinnung heraus erfolgt, wobei die Gefühllosigkeit keine
dauernde Charaktereigenschaft zu sein braucht (vgl. BGHSt 3, 105, 109;
Tröndle/Fischer aaO Rdn. 9) und deshalb das Merkmal "roh" auch das "Wie"
der Mißhandlung betrifft (Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 225
Rdn. 13). Daß beide Tatbestandsalternativen hier erfüllt sind, bedarf angesichts
des Gewichts, der Vielzahl und der zeitlichen Abfolge der Verletzungshandlungen
keiner weiteren Ausführung.
b) Beide Angeklagten waren Garanten insbesondere für die körperliche
Unversehrtheit des Kindes und haben deshalb rechtlich dafür einzustehen, daß
die Tatbestandsverwirklichung durch den jeweils anderen Elternteil nicht eintrat.
Angesichts des überragenden Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit
eines Menschen waren höchste Anforderungen an sie in ihrer Stellung als Beschützergaranten
zu stellen, zumal es sich hier bei dem Opfer um einen lediglich
zwei Monate alten, völlig wehr- und hilflosen Säugling handelte. Beide Angeklagten
erkannten im Verlauf des Tatzeitraums, daß das Kind schwerwiegenden
Mißhandlungen ausgesetzt war. Ihnen war deshalb auch bewußt, daß
der andere Elternteil zu erheblichen Gewaltausbrüchen neigt und das Kind unbedingt
davor zu schützen war. Ebenso mußten sie naheliegend mit weiteren
vergleichbaren Gewalttaten rechnen. Spätestens von dem Zeitpunkt an, von
dem sie erstmals Kenntnis von der Mißhandlung durch den jeweils anderen
Elternteil hatten, hätten sie umgehend geeignete Maßnahmen ergreifen müssen,
um weiter drohende Übergriffe von dem Kind abzuwenden (vgl. BGHSt 41,
113, 117; BGH NStZ 1984, 164; Senatsbeschluß vom 21. November 2002
- 4 StR 444/02).
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c) Der Nachweis strafbaren Unterlassens scheitert entgegen der Auffassung
des Landgerichts nicht daran, daß die Angeklagten als Unterlassungstäter
nur für die Mißhandlungen durch den aktiv handelnden Täter rechtlich einzustehen
haben, die nach dem Zeitpunkt liegen, zu dem sie Kenntnis von den
Mißhandlungen erlangt haben.
Soweit das Landgericht eine Kenntnis der angeklagten Kindesmutter
erst ab dem Arztbesuch am 10. Januar 2001 und eine Kenntnis bei dem Angeklagten
erst ab dem Arztbesuch am 15. Januar 2001 angenommen hat, fehlt es
an der gebotenen Gesamtschau aller die Angeklagten belastenden Umstände.
Insbesondere hat sich das Landgericht nicht ausreichend damit auseinandergesetzt,
daß es angesichts auffälligen Schreiens des Kindes und der räumlichen
Verhältnisse in der Wohnung der Angeklagten nur schwer vorstellbar ist,
daß dem nicht aktiv handelnden Elternteil die Mißhandlungen verborgen geblieben
sein können.
Aber auch, wenn mit dem Landgericht zugunsten der Angeklagten von
einer späteren Kenntniserlangung auszugehen wäre, hat es außer acht gelassen,
daß nach den genannten Zeitpunkten weitere gravierende Mißhandlungen
erfolgten, die zu verhindern die Angeklagten verpflichtet waren. So war die am
22. Januar 2001 diagnostizierte Rippenserienfraktur etwa 8 bis 10 Tage alt und
mithin nach dem für die Angeklagte maßgeblichen Zeitpunkt vom 10. Januar
2001 entstanden. Desgleichen war die Fraktur des linken Unterarms etwa eine
Woche alt, mithin etwa am 15. Januar 2001 entstanden, und lag der Mißhandlungszeitpunkt,
der zu der Rißverletzung an der Scheide und zu dem Hämatom
an der rechten Stirn führte, überhaupt erst zwischen dem 20. und 22. Januar
2001. Das Landgericht hat deshalb schon im Ansatz seine Prüfung verkürzt,
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wenn es hinsichtlich der angeklagten Kindesmutter lediglich auf die beim Arztbesuch
am 10. Januar 2001 sichtbaren Hämatome abgestellt und gemeint hat,
"das Beibringen von Hämatomen erfüll(e) ... nicht per se den Tatbestand des
Quälens oder des rohen Mißhandelns". Dabei läßt es zum einen die besondere
Lage der Hämatome "im Gesicht und auf der Brust“ außer acht, was schon für
sich massive Einwirkungen auf besonders empfindliche Körperregionen des
Säuglings erkennen ließ und deshalb auch auf ein Quälen im Sinne des § 225
Abs. 1 StGB hindeutete. Im übrigen hätte das Landgericht in seine Würdigung
zum Vorstellungsbild der angeklagten Kindesmutter auch deren spontane Äußerung
gegenüber der behandelnden Ärztin N. einbeziehen müssen, "sie
würden ihr Kind nicht mißhandeln", die naheliegend für eine "Flucht nach vorn"
spricht.
Nicht nachvollziehbar ist auch die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte
habe auch nach der gemeinsamen Vorstellung des Kindes bei dem
Arzt Dr. P. am 15. Januar 2001 keine Veranlassung zu der Annahme gehabt,
Michelle werde im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB gequält oder roh mißhandelt.
Denn der Arzt stellte an diesem Tag in Anwesenheit beider Angeklagten
weitere Verletzungen des Säuglings, nämlich im Halsbereich und am
Zungenbändchen sowie "wahllos verteilte Hämatome", fest.
Im übrigen beanstandet die Beschwerdeführerin zu Recht, daß das
Landgericht ersichtlich nicht bedacht hat, daß auch für die Unterlassungstäterschaft
im Rahmen des § 225 StGB bedingter Vorsatz genügt (BGH NStZ-RR
1996, 197, 198), der sich - wenn nicht sogar eher positive Kenntnis und damit
direkter Vorsatz naheliegt - hier schon deshalb aufdrängte, weil nach den ge-
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troffenen Feststellungen der Verdacht der Kindesmißhandlung bei den Arztbesuchen
ausdrücklich erörtert wurde.
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4. Die Mängel in der Beweiswürdigung machen eine neue Verhandlung
und Entscheidung über den Tatvorwurf notwendig. Der neue Tatrichter wird
auch Gelegenheit haben, die Strafbarkeit der Angeklagten jedenfalls unter dem
Gesichtspunkt der Körperverletzung nach § 223 StGB zu prüfen, nachdem die
Staatsanwaltschaft mit der Revisionsbegründung das besondere öffentliche
Interesse an der Strafverfolgung (§ 230 Abs. 1 Satz 1 StGB) bejaht hat.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible



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