BGH,
Urt. v. 30.8.2007 - 5 StR 193/07
5 StR 193/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
30.8.2007
in der Strafsache
gegen
wegen Totschlags
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30.
August 2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. Jäger
als beisitzende Richter,
Richterin
als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt Z.
als Verteidiger,
Rechtsanwalt K. ,
Rechtsanwalt S.
als Vertreter der Nebenkläger
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Potsdam vom 22. Januar 2007 im Rechtsfolgenausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer
Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt. Die auf die Verletzung
förmlichen und sachlichen Rechts gestützte Revision
des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge den aus dem Tenor
ersichtlichen Teilerfolg.
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I.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
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Der zur Tatzeit 20-jährige Angeklagte und seine Freunde, die
Zeugen K. und Sch. , trafen sich am Abend des 7. Juni 2006 mit weiteren
Bekannten und konsumierten alkoholische Getränke. Einige Zeit
später bega-
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ben sie sich mit ihren Fahrrädern zum Bahnhofsvorplatz in
Nauen, um dort „abzuhängen“. Wie
gewöhnlich führte der Angeklagte in seiner
Hosentasche ein aufklappbares Butterflymesser mit einer
Klingenlänge von etwa 15 cm bei sich. Zur selben Zeit begab
sich das spätere Opfer, H. , mit einigen Kollegen zum Bahnhof
Nauen, um von dort aus nach Berlin zu fahren. H. und sein Kollege M. ,
die in Nauen eine Betriebsfeier hatten, waren in auch alkoholbedingt
enthemmter Stimmung und sangen Fußballlieder
anlässlich der seinerzeit stattfindenden
Fußballweltmeisterschaft. Dies störte den
Angeklagten, der sich mit seinen Freunden noch auf dem Bahnhofsvorplatz
befand. Als Reaktion auf das Singen und Grölen warf entweder
der Angeklagte oder einer seiner Freunde eine Flasche vom
Bahnhofsvorplatz hoch auf die Gleise am Bahnsteig, wo inzwischen H. mit
seinen Kollegen angekommen war. H. rief daraufhin:
„Schwuchtel, geh doch zu Mami!“ in Richtung
Bahnhofsvorplatz, wobei er den Angeklagten und seine Freunde nicht
sehen konnte und deshalb auch nicht wusste, wer die Flasche geworfen
hatte. Danach wurde mindestens noch eine weitere Flasche von unten nach
oben geworfen, woraufhin H. und M. in Richtung Bahnhofsvorplatz riefen,
man möge mit dem Werfen aufhören. Das beantworteten
der Angeklagte, K. oder Sch. mit dem Ruf, dass man gleich hochkommen
werde. H. erwiderte: „Dann mach doch!“. Alsdann
beruhigte sich die Situation wieder; der Angeklagte und seine Freunde
unterhielten sich weiter auf dem Bahnhofsvorplatz.
Gleichwohl entschloss sich der Angeklagte, der sich nachhaltig durch
das „Fußballliedgegröle“
gestört gefühlt hatte, nach oben auf den Bahnsteig zu
gehen und einen Streit anzufangen, wobei er sich bewusst war, ein
Messer bei sich zu führen. Für ihn und seine Freunde
war klar, dass es zu einer tätlichen und nicht nur verbalen
Auseinandersetzung kommen würde. Oben angekommen, schob der
Angeklagte sein Fahrrad in Richtung auf H. , der ganz hinten am
Bahnsteig auf einer Wartebank saß. Er sprach H. an, der mit
den Worten: „Verpiss Dich, ich hab’ gute
Laune“ reagierte. Nunmehr stellte der Angeklagte sein Fahrrad
an einem Pfeiler ab, holte sein
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Butterflymesser aus der Tasche und hielt es H. mit der scharfen Seite
an den Hals. Hierdurch entstand eine Verletzung der oberen Hautschicht.
H. sprang auf und wich zunächst zurück,
während der Angeklagte mit dem Messer in der Hand auf ihn
zuging. Sie schubsten sich gegenseitig, wobei H. versuchte, den
Angeklagten mit Schlägen abzuwehren. Währenddessen
rief er: „Stich doch!“ und Worte wie
„Penner“ und „Wichser“.
Insgesamt zeigte er sich von dem Messer des Angeklagten nicht
sonderlich beeindruckt.
Spätestens zu Beginn des Gerangels entschloss sich der
Angeklagte, das Messer aktiv gegen H. einzusetzen. Dabei war ihm der
Tod H. s gleichgültig; vorrangig wollte er sich
gegenüber seinen Kumpanen Sch. und K. keine
Blöße geben. Er stach auf sein Opfer ein und traf es
zunächst in die linke vordere Achselfalte. H. wehrte sich
immer noch und rief: „Na komm doch“ oder
ähnlich auffordernde Worte. Zwei weitere Stiche trafen ihn in
die Flanke und die linke Brustseite, wobei die linke
Brusthöhle eröffnet und das Herz verletzt wurde. H.
lief noch einige Schritte und fiel dann zu Boden, während sich
der Angeklagte mit seinem Fahrrad entfernte. H. verstarb noch auf dem
Bahnsteig.
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Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten als Totschlag bewertet,
eine Notwehrsituation ausgeschlossen und die Voraussetzungen eines
minder schweren Falles des Totschlags im Sinne von § 213 StGB
verneint, weil der Angeklagte - eine Ehrverletzung durch die Worte des
Opfers unterstellt - jedenfalls nicht spontan darauf reagiert habe.
Vielmehr sei er bedächtig, zielgerichtet und
„eiskalt“ vorgegangen. Die Voraussetzungen des
§ 21 StGB hat die Strafkammer verneint: Eine alkoholbedingte
Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit (nach
Trinkmengenberechnung und Angaben eines rechtsmedizinischen
Sachverständigen angenommene Blutalkoholkonzentration zur
Tatzeit: 0,89 Promille) des alkoholgewöhnten Angeklagten habe
nicht vorgelegen. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür
ersichtlich, dass der Ange-
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klagte in geistiger Hinsicht von der Norm abweiche. Darüber
hinaus seien entwicklungsbedingte Schwierigkeiten, den Anreizen zur Tat
mit hinreichenden Hemmungsvorstellungen zu begegnen, bei dem
Angeklagten nicht festgestellt worden.
II.
Die Einwände der Revision gegen den Schuldspruch, speziell die
tatrichterliche Beweiswürdigung, insbesondere im Zusammenhang
mit der Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes, sind
entsprechend der Antragsschrift des Generalbundesanwalts offensichtlich
unbegründet. Der Beschwerdeführer beanstandet jedoch
zutreffend die Ablehnung eines Beweisantrages als rechtsfehlerhaft. Mit
dieser Verfahrensrüge hat die Revision den aus dem Tenor
ersichtlichen Teilerfolg.
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Die Verteidigung des Angeklagten hatte die Einholung eines
Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür
beantragt, dass der Angeklagte zur Tatzeit schuldunfähig oder
zumindest erheblich vermindert schuldfähig gewesen sei. Zur
Begründung bezog sie sich auf einen durch das beantragte
Gutachten erwarteten Nachweis einer mindestens erheblichen
Einschränkung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten
infolge Alkohols und Erregung. Diesen Beweisantrag wies der Tatrichter
im wesentlichen unter Hinweis auf die eigene Sachkunde mit der
Begründung zurück, weder aus der Lebensgeschichte
noch aus der Tat des Angeklagten ergäben sich
Anknüpfungstatsachen, welche die Einholung eines
psychiatrischen Gutachtens erforderlich machten.
Bei - jedenfalls nicht von langer Hand geplanten -
Tötungsdelikten erweist es sich, insbesondere im Bereich des
Jugendstrafrechts, in der Mehrzahl der Fälle als sachgerecht,
einen psychiatrischen Sachverständigen beizuziehen. Daher ist
insoweit eine fehlende oder nur knappe, allein auf gerichtliche
Sachkunde gestützte Begründung für das
Vorliegen uneinge-
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schränkter Schuldfähigkeit schon sachlich-rechtlich
nicht unbedenklich (vgl. Senatsurteil vom heutigen Tage - 5 StR
197/07). Eine Verletzung der Aufklärungspflicht durch
Nichthinzuziehung eines Sachverständigen zur Frage der
Schuldfähigkeit liegt regelmäßig nicht fern
(vgl. BGH NStZ 2006, 49; BGH, Beschluss vom 29. November 2006 - 5 StR
329/06). Im vorliegenden Fall ergeben sich zudem aus den
Urteilsausführungen fallbezogene Besonderheiten, die eine
Begutachtung entgegen der Auffassung des Landgerichts nahe legten (vgl.
BGH NStZ 2003, 363, 364). Das Landgericht hat seine eigene Sachkunde
jedenfalls mangels hinreichender Beachtung dieser Besonderheiten auch
weder in dem den Antrag zurückweisenden Beschluss noch in den
Urteilsgründen ausreichend belegt.
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Der Angeklagte hatte erhebliche Schulprobleme, wiederholte die sechste
Klasse und verließ die Schule im Jahre 2002 nach der achten
Klasse, die er ebenfalls zweimal durchlaufen musste. Nach dem sich
anschlie-ßenden berufsvorbereitenden Jahr wurde ihm nicht die
Eignung für eine Berufsausbildung, sondern nur die Eignung
für eine Helfertätigkeit bescheinigt. Das ihm
gleichwohl vermittelte Lehrverhältnis wurde von Seiten des
Arbeitgebers noch in der Probezeit gekündigt. Der Angeklagte
begann, vermehrt dem Alkohol zuzusprechen und nahm - allerdings in
geringen Mengen - auch Cannabis zu sich. Als sich seine Freundin im
Sommer 2004 von ihm trennte, steigerte er seinen Alkoholkonsum und
ritzte sich möglicherweise an den Armen. Unter Alkoholeinfluss
reagiert er besonders aggressiv und fühlt sich schon bei
nichtigen Anlässen angegriffen. Im Urteil wird in diesem
Zusammenhang ausgeführt, dass der Angeklagte nur über
eine geringe Frustrationstoleranz verfügt.
All dies kann auch im Zusammenhang mit dem gruppendynamischen
Hintergrund des Tatgeschehens die Annahme gedanklicher Beherrschung und
willensmäßiger Steuerung der tatlenkenden
gefühlsmäßigen Regungen des Angeklagten bei
der offensichtlich völlig überzogenen mit bedingtem
Tötungsvorsatz geführten Messerattacke in Frage
stellen. Hinzu kommt, dass
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der Tat Handlungen und Wortwechsel vorausgegangen sind, die jedenfalls
aus der Sicht eines leicht kränkbaren, zudem angetrunkenen und
in diesem Zustand übermäßig reizbaren
Heranwachsenden beleidigenden Charakter hatten. Vor diesem Hintergrund
ist die Feststellung der Strafkammer, der Angeklagte habe
bedächtig, zielgerichtet und „eiskalt“
gehandelt, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Die Tatsache, dass
Zeugen sein äußeres Erscheinungsbild in dieser Weise
bewertet haben, genügt jedenfalls nicht, die psychische
Befindlichkeit des Angeklagten bei Ausführung der Tat
ausreichend zu erfassen (vgl. BGH, Beschluss vom 31. März 2004
- 5 StR 351/03). Auch die vom Landgericht für die Annahme
unverminderter Schuldfähigkeit herangezogenen Tatsachen,
nämlich dass der Angeklagte gewaltfrei erzogen worden sei und
dass Gehirnverletzungen oder schwere Erkrankungen nicht vorgelegen
hätten, sind nicht hinreichend aussagekräftig;
jedenfalls sind sie nicht geeignet, eine relevante affektive Erregung
des Angeklagten bei Begehung der auch für ihn
außergewöhnlichen Tat auszuschließen.
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Bei dieser Sachlage bedarf die Frage, ob die
Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Sinne des § 21
StGB erheblich eingeschränkt war - die Voraussetzungen des
§ 20 StGB liegen ersichtlich nicht vor - mit Hilfe eines
psychiatrischen Sachverständigen erneuter Prüfung.
Der Ausspruch über die Höhe der Jugendstrafe kann
deshalb nicht bestehen bleiben. Da der Senat
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nicht mit letzter Sicherheit ausschließen kann, dass nach
Anhörung eines Sachverständigen auch die
Verhängung einer Maßregel in Betracht kommen
könnte, hebt er den gesamten Rechtsfolgenausspruch auf.
Basdorf Gerhardt Raum
Schaal Jäger |