BGH,
Urt. v. 30.5.2000 - 4 StR 90/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 90/00
vom
30. Mai 2000
in der Strafsache gegen
1.
2.
wegen schwerer Körperverletzung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 30. Mai
2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner, die Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Tolksdorf, Dr. Kuckein, die Richterin am
Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic, der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Ernemann als beisitzende Richter, Staatsanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwältin, Rechtsanwalt als
Verteidiger für die Angeklagte H., Rechtsanwalt als
Verteidiger für den Angeklagten J., Justizangestellte als
Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Die Revision der Angeklagten H. gegen das Urteil des Landgerichts
Siegen vom 3. September 1999 wird als unbegründet verworfen.
Die Beschwerdeführerin hat die Kosten ihres Rechtmittels und
die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren durch dieses
entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das oben bezeichnete
Urteil mit den Feststellungen aufgehoben, jedoch bleiben die
Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen
aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an
eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat die Angeklagte H. wegen schwerer
Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlichem
Eingriff in den Straßenverkehr und mit Diebstahl zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und eine Maßregel
nach §§ 69, 69 a StGB angeordnet. Den Angeklagten J.
hat es des Diebstahls in Tateinheit mit Anstiftung zur schweren
Körperverletzung und mit Anstiftung zum gefährlichen
Eingriff in den Straßenverkehr für schuldig befunden
und gegen ihn eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten
verhängt. Die Revision der Angeklagten H., mit der sie die
Verletzung materiellen Rechts rügt, erweist sich als
unbegründet. Das zu Ungunsten beider Angeklagten eingelegte,
auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Rechtmittel der
Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
II.
Revision der Angeklagten H.
Die Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum
Nachteil der Beschwerdeführerin ergeben. Insbesondere ist -
entgegen dem Revisionsvorbringen - die Annahme des Landgerichts,
daß die Angeklagten vor Betreten der Parfümerie
gemeinschaftlich den Plan gefaßt hatten, sich dort nach
stehlenswertem Gut umzusehen und dieses gegebenenfalls zu entwenden,
nicht zu beanstanden.
Nach den Feststellungen betraten die Angeklagten gemeinsam das
Ladenlokal, in dem zu diesem Zeitpunkt sich lediglich die
Verkäuferin Hü. aufhielt. In der Folgezeit sahen sie
sich im Geschäft getrennt die Auslagen an und begaben sich
jeweils abwechselnd zu Frau Hü., um sie in ein
Gespräch zu verwickeln. Dieser erschien das Verhalten der
Angeklagten verdächtig; sie war bemüht, beide
Angeklagten im Auge zu behalten. Nachdem die Angeklagte H. gekaufte
Ware mit einem 100.- DM - Schein bezahlt und das von Frau Hü.
aus einer Geldtasche entnommene Wechselgeld eingesteckt hatte,
entwendete kurz darauf einer der beiden Angeklagten die Geldtasche.
Anschließend waren beide Angeklagte "eilig bestrebt, das
Geschäftslokal zu verlassen". Frau Hü. bemerkte
sogleich das Fehlen der Tasche; sie nahm die Verfolgung auf und konnte
die Angeklagten, die bereits in ihren etwa 20 bis 30 m entfernt
geparkten Pkw eingestiegen waren, noch erreichen. Als Frau Hü.
die Fahrertür des Fahrzeugs öffnete, sich in den
Innenraum beugte und die Rückgabe der Geldtasche verlangte,
fuhr die Angeklagte H. auf die Aufforderung des Angeklagten J. "Gib Gas
!" mit dem Pkw ruckartig beschleunigend los, so daß Frau
Hü., die sich an der noch geöffneten
Fahrertür festklammerte, mitgerissen und später auf
die Fahrbahn geschleudert und schwer verletzt wurde.
Wenn die erkennende Strafkammer in Anbetracht dieser Umstände,
insbesondere angesichts des Verhaltens der Angeklagten in dem
Geschäft und bei dessen Verlassen, zu der Überzeugung
gelangt ist, daß die Angeklagten aufgrund eines gemeinsam
gefaßten Tatentschlusses in bewußtem und gewolltem
Zusammenwirken die Geldtasche entwendet haben, so handelt es sich nicht
nur um eine Vermutung oder einen bloßen Verdacht, sondern um
eine durch konkrete Tatsachen belegte, mögliche
tatrichterliche Schlußfolgerung, die vom Revisionsgericht
hinzunehmen ist.
III.
Revision der Staatsanwaltschaft
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in der Sache im Ergebnis
Erfolg.
1. Allerdings vermögen die Revisionsangriffe gegen die
Verneinung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes nicht
durchzudringen. Das Landgericht ist aufgrund einer
Gesamtwürdigung der maßgeblichen objektiven und
subjektiven Tatumstände (vgl. hierzu BGHR StGB § 212
Abs. 1 Vorsatz, bedingter 8 und 30) zu der Überzeugung
gelangt, daß den Angeklagten ein Tötungsvorsatz
nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit
nachzuweisen sei. Hierbei hat es maßgeblich auf die
Kürze und Schnelligkeit des Geschehensablaufes, die
Spontaneität des Tatentschlusses (vgl. BGHR a.a.O. Vorsatz,
bedingter 24, 27), das auf Flucht und nicht auf Aggression
ausgerichtete Streben der Angeklagten sowie auf den Umstand abgestellt,
daß die Geschädigte es jedenfalls zu Beginn der
Fahrt in der Hand hatte, durch bloßes Loslassen das
spätere Unfallgeschehen zu vermeiden, und die Angeklagten
möglicherweise zunächst darauf vertrauten. Dies
läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Entgegen dem
Revisionsvorbringen fehlt es der Beweiswürdigung auch nicht
etwa deshalb an einer tragfähigen Grundlage, weil das
Landgericht es unterlassen habe, im Urteil die genaue zeitliche Dauer
des Fahrvorganges zu bezeichnen; denn die getroffenen Feststellungen
belegen hinreichend, daß die Tat spontan, im Rahmen eines
komplexen, sich rasch entwickelnden Verkehrsgeschehens begangen worden
ist.
2. Keinen Bestand kann jedoch die Verurteilung der Angeklagten (nur)
wegen Diebstahls haben. Das Landgericht hat nämlich nicht
geprüft, ob das Verhalten der Angeklagten den Tatbestand des
räuberischen Diebstahls (§ 252 StGB)
erfüllt. Dazu bestand hier Anlaß. Zwar
heißt es in den Feststellungen, daß die Angeklagten
davonfuhren, "weil sie nicht wegen des Diebstahls erwischt werden
wollten". Im Rahmen der rechtlichen Würdigung wird bei der
Erörterung des Tötungsvorsatzes hierzu noch
ergänzend ausgeführt, daß davon auszugehen
sei, "daß sie [die Angeklagten] in erster Linie vom Tatort
entkommen wollten" bzw. daß "es [ihnen] darauf an[kam], sich
vom Tatort zu entfernen". Hieraus folgt jedoch nicht bereits die
Nichtanwendbarkeit des § 252 StGB. Es entspricht vielmehr
allgemeiner Auffassung, daß die in dieser Vorschrift
geforderte Absicht, "sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten",
nicht der einzige Beweggrund des Täters für die
Gewaltanwendung oder den Einsatz des Nötigungsmittels sein
muß (vgl. BGHSt 13, 64, 65; 16, 1, 4; 26, 95, 97; BGH NStZ
1984, 454, 455; Eser in Schönke/Schröder StGB 25.
Aufl. § 252 Rdn. 7; Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl.
§ 252 Rdn. 9). Tatbestandsmäßig im Sinne
des § 252 StGB handelt daher auch, wer gleichzeitig das
Diebesgut verteidigen und sich der Strafverfolgung entziehen will. Eine
solche Fallkonstellation liegt hier nach den bisherigen Feststellungen
durchaus nahe: Die Verkäuferin Hü. hatte lediglich
die Rückgabe der Geldtasche gefordert. Eine unmittelbare
Gefahr, daß Dritte eingreifen und die Angeklagten an einer
Flucht hindern könnten, bestand zu diesem Zeitpunkt
ersichtlich nicht. Den Angeklagten wäre es daher ein Leichtes
gewesen, die Tasche wieder herauszugeben und anschließend
davonzufahren. Daß sie das nicht getan haben, könnte
den Schluß rechtfertigen, daß es ihnen zumindest
auch auf die Sicherung der Diebesbeute ankam. Dies bedarf der
tatrichterlichen Prüfung.
3. Der aufgezeigte Mangel zwingt hier auch zur Aufhebung der
für sich gesehen rechtlich nicht zu beanstandenden
Verurteilungen wegen der tateinheitlich begangenen Straftaten der
schweren Körperverletzung und des gefährlichen
Eingriffs in den Straßenverkehr bzw. der Anstiftung hierzu
und damit des Urteils insgesamt (vgl. Kuckein in KK 4. Aufl. §
353 Rdn. 12). Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum
äußeren Tatgeschehen können jedoch bestehen
bleiben. Dies hindert den neuen Tatrichter nicht, ergänzende
Feststellungen zu treffen, die mit den aufrechterhaltenen nicht in
Widerspruch stehen.
Für den Fall, daß die neu erkennende Strafkammer zu
einer Strafbarkeit wegen räuberischen Diebstahls gelangt, wird
sie die Erschwernisgründe des § 250 StGB zu
prüfen haben. Insoweit kommt eine Anwendung der
Qualifikationstatbestände des § 250 Abs. 1 Nr. 1 c)
StGB bzw. des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. BGHR StGB
§ 315 b Abs. 1 Nr. 3 Eingriff, erheblicher 4 zu § 250
Abs. 1 Nr. 2 StGB a.F.) und des § 250 Abs. 2 Nr. 3 b StGB in
Betracht.
Da der Vorwurf des versuchten Tötungsdelikts entfallen ist,
verweist der Senat die Sache an eine allgemeine Strafkammer
zurück.
Meyer-Goßner Tolksdorf Kuckein
Solin-Stojanovic Ernemann |