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BGH, Urteil vom 31. Januar 2002 - 4 StR 289/01


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 31.1.2002 - 4 StR 289/01
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 289/01
vom
31. Januar 2002
in der Strafsache
gegen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
wegen fahrlässiger Tötung u.a.
- 2 -
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 31. Januar
2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien
die Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Athing,
Dr. Ernemann,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt in der Verhandlung,
Staatsanwalt bei der Verkündung
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten E. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten P. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten B. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten L. ,
Rechtsanwältin
als Verteidigerin für den Angeklagten L. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten S. ,
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten W. ,
- 3 -
Rechtsanwalt
als Verteidiger für den Angeklagten Wi. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenkläger Maria und Theodor T. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers Mehmet A. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenkläger Filippo C. , Alexander
S. , Boguslawa D. , Angela B. und
Winfried G. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers Frank H. ,
Rechtsanwalt
als Vertreter des Nebenklägers Irfan Ak. ,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 4 -
1. Die Revisionen der Angeklagten E. und P. , die sie
betreffenden Revisionen der Staatsanwaltschaft sowie
die den Angeklagten B. betreffenden Revisionen der
Nebenkläger Maria und Theodor T. gegen das Urteil
des Landgerichts Wuppertal vom 29. September 2000
werden verworfen.
Die Angeklagten E. und P. haben die Kosten ihrer
Rechtsmittel und die den Nebenklägern dadurch erwachsenen
notwendigen Auslagen zu tragen. Die Kosten
der die Angeklagten E. und P. betreffenden
Revisionen der Staatsanwaltschaft und die diesen dadurch
entstandenen notwendigen Auslagen hat die
Staatskasse zu tragen. Die Nebenkläger Maria und
Theodor T. haben die Kosten ihrer den Angeklagten
B. betreffenden Rechtsmittel und die diesem dadurch
erwachsenen notwendigen Auslagen zu tragen.
2. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und - insoweit
nur bezüglich der Angeklagten L. und S. - des Nebenklägers
Theodor T. wird das vorgenannte Urteil
aufgehoben, soweit die Angeklagten L. , S. , W.
und Wi. freigesprochen worden sind; jedoch bleiben
die Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum Abbau
der Dilatationsüberbrückungen an der Stütze 206 bestehen
(S. 53 dritter Absatz bis S. 57 der Urteilsabschrift).
- 5 -
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der
Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Im Rahmen der Erneuerung des Traggerüstes der Wuppertaler Schwebebahn
wurden im Bereich des Bahnhofs Robert-Daum-Platz Teile der Tragkonstruktion
ausgetauscht. Nach Abschluß der Bauarbeiten, die zuletzt unter
großem Zeitdruck durchgeführt wurden, wurde die Strecke für den Schwebebahnverkehr
freigegeben. Der erste Schwebebahnzug, ein dreigliedriger Gelenktriebwagen,
der die Strecke in Richtung Oberbarmen befuhr, kollidierte im
Bereich der Stütze 206 mit einer etwa 26 cm in den Fahrbereich hineinragenden
Stahlkralle, entgleiste und stürzte in die Wupper. Bei dem Unfall wurden
fünf Fahrgäste getötet und mindestens 37 der Überlebenden - zum Teil
schwer - verletzt. Für den Unfall war das Fehlverhalten mehrerer Personen
mitursächlich:
Nach den Feststellungen waren vor Beginn der Bauarbeiten im Bereich
der Stütze 206 zur Fixierung der in diesem Bereich befindlichen Dehnstellen
- 6 -
(Dilatationen) in beiden Fahrtrichtungen an den T-Trägern des Traggerüstes
sog. Dilatationsüberbrückungen angebracht worden. Hierzu wurden an jedem
der T-Träger vor und hinter der Dilatation jeweils mit sechs Schrauben “Krallen”
befestigt, die aus zwei hälftigen etwa 50 cm hohen, etwas mehr als 40 cm
breiten und 2 cm starken Stahlplatten bestanden. Zwischen die Stahlkrallen
wurde eine Hub-Druck-Zylinderkonstruktion gesetzt und so eine starre Verbindung
hergestellt. Ebenso wie der Anbau dieser Hilfskonstruktionen lag deren
Abbau im Verantwortungsbereich der Firma , für die in der Nacht zum
12. April 1999 der Angeklagte F. die Bauleitung hatte. Diesem wurde, obwohl
eine der Stahlkrallen in Fahrtrichtung Oberbarmen nicht abgebaut worden
war, sondern “noch vollständig und fest” mit sechs Schrauben an dem T-Träger
montiert war, von einem der mit den Abbauarbeiten befaßten Angeklagten L. ,
S. , W. oder Wi. der vollständige Abbau der Dilatationsüberbrückungen
im Bereich der Stütze 206 gemeldet.
Der von den Wuppertaler Stadtwerken zum Betriebsleiter bestellte Angeklagte
B. hatte von dem Ingenieur, den er mit der Leitung des Bereichs
"bauliche Anlagen" betraut hatte, ein Sicherheitskonzept für die Durchführung
der geplanten Baumaßnahmen ausarbeiten lassen. Nach diesem Regelwerk
hatten vor der Freigabe der Strecke und der Wiederaufnahme des Fahrbetriebs
unabhängig voneinander sowohl die Bauleitung, als auch die bahntechnische
Aufsicht und die Bauüberwachung die Kollisionsfreiheit des Fahrbereichs
zu überprüfen. Weder der Angeklagte F. , der in der Unfallnacht die
Bauleitung hatte, noch der Angeklagte E. , der die bahntechnische Aufsicht
führte, noch der Angeklagte P. , der für die Bauüberwachung zuständig war,
nahmen jedoch die vorgesehenen Kontrollen im Bereich der Stütze 206 vor der
Freigabe der Strecke mit der gebotenen Sorgfalt vor.
- 7 -
II.
Das Landgericht hat die Angeklagten F. , E. und P. jeweils wegen
fahrlässiger Tötung in fünf rechtlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit
mit fahrlässiger Körperverletzung in 37 rechtlich zusammentreffenden Fällen
schuldig gesprochen. Es hat den Angeklagten F. , insoweit ist das Urteil
rechtskräftig, zu einer Geldstrafe, den Angeklagten E. zu einer Freiheitsstrafe
von acht Monaten und den Angeklagten P. zu einer Freiheitsstrafe von
einem Jahr und acht Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Freiheitsstrafen
zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten B. , L. , S. , W. und
Wi. sind freigesprochen worden.
Die Angeklagten E. und P. rügen mit ihren Revisionen die Verletzung
formellen und sachlichen Rechts. Die Staatsanwaltschaft rügt die Verletzung
sachlichen Rechts und erstrebt mit ihren zuungunsten der Angeklagten
eingelegten Revisionen die Aufhebung des Urteils in den die Angeklagten
E. und P. betreffenden Strafaussprüchen und in den die Angeklagten
L. , S. , W. und Wi. betreffenden Freisprüchen. Die Nebenkläger Maria
und Theodor T. fechten das Urteil an, soweit der Angeklagte B. freigesprochen
worden ist. Der Nebenkläger Theodor T. wendet sich ferner gegen die
Freisprüche der Angeklagten L. und S. . Die Nebenkläger rügen die Verletzung
sachlichen Rechts.
- 8 -
III.
Die Revisionen der Angeklagten E. und P. und die sie betreffenden
Revisionen der Staatsanwaltschaft haben keinen Erfolg.
1. Die von den Angeklagten übereinstimmend erhobenen Verfahrensrügen
greifen nicht durch. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen des
Generalbundesanwalts in seiner Antragsschrift vom 20. August 2001 Bezug
genommen. Die Überprüfung des Urteils auf die Sachbeschwerden hat keinen
Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
2. Auch die insoweit zum Strafausspruch eingelegten Revisionen der
Staatsanwaltschaft sind unbegründet. Die Strafzumessungserwägungen weisen,
wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt
hat, keinen Rechtsfehler zum Vorteil der Angeklagten auf.
IV.
Die Revisionen der Nebenkläger Maria und Theodor T. gegen den
Freispruch des Angeklagten B. haben ebenfalls keinen Erfolg.
Soweit das Landgericht einzelne Mängel des Sicherheitskonzepts festgestellt
hat, waren diese nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen für den
Unfall der Schwebebahn nicht ursächlich, so daß der für eine die Verurteilung
wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung erforderliche
Kausalzusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Schadenseintritt nicht
gegeben ist.
- 9 -
V.
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers Theodor
T. gegen die Freisprüche der Angeklagten L. und S. und die Revisionen
der Staatsanwaltschaft gegen die Freisprüche der Angeklagten W. und
Wi. haben dagegen im wesentlichen Erfolg.
1. Das Landgericht hat zum Ablauf der Demontagearbeiten im Bereich
der Stütze 206 folgendes festgestellt:
Gegen 23.30 Uhr erteilte der Angeklagte F. den Angeklagten W.
und Wi. den Auftrag, die Dilatationsüberbrückungen an der Stütze 206 abzubauen.
Er begleitete sie dorthin, stieg mit ihnen in den Montagekorb der Arbeitsbühne
auf der Nordseite und erklärte ihnen in groben Zügen, wie der Abbau
der Dilatationsüberbrückungen zu erfolgen habe. Die Arbeitsbühne war
mittels Kettenzügen am Schwebebahngerüst befestigt worden und wurde von
Bolzen gehalten. Sie ließ ein eigenständiges Arbeiten an dem Schwebebahngerüst
in jeder Fahrtrichtung zu. Die etwa vier Meter L. und ein Meter hohe
Metallkonstruktion der Arbeitsbühne hatte bei einem mittleren Zwischenraum
von etwa zwei Metern jeweils rechts und links separate Arbeitsbereiche, die
rundherum mit Metallschutzgittern versehen waren. Der Bereich der Stütze
206, in dem die Dilatationsüberbrückungen abzubauen waren, wurde durch
eine in der Mitte des Traggerüstes angebrachte Kabellampe ausgeleuchtet,
deren Lichtkegel ausreichte, die Schrauben und Muttern an den Krallen sowie
deren blaue Farbe zu erkennen.
- 10 -
Die Angeklagten W. und Wi. bauten von dem T-Träger auf der
Nordseite, nachdem sie unter Zuhilfenahme eines manuellen Kettenzuges den
Hub-Zylinder entfernt hatten, beide Stahlkrallen ab. Die abgebauten Teile legten
sie auf der Arbeitsbühne ab. Als sie mit dem Abbau fast fertig waren, kamen
die Angeklagten L. und S. hinzu. Sie erklärten, sie seien gekommen,
um zu helfen, damit die Arbeiten zügig fertig würden. Nach ihren unwiderlegten
Einlassungen schlossen die Angeklagten W. und Wi. daraus, der Angeklagte
F. habe die Angeklagten L. und S. geschickt, um sie bei dem
Abbau der Dilatationsüberbrückung zu unterstützen. Als die Angeklagten W.
und Wi. die Stahlkrallen an der Nordseite vollständig demontiert und die Arbeitsstelle
aufgeräumt hatten, verließen sie mit den Angeklagten L. und S.
diesen Montagekorb der Arbeitsbühne, um von dem anderen Montagekorb aus
die Dilatationsüberbrückung von dem T-Träger auf der Südseite abzubauen.
Da sie nunmehr zu viert waren, entfernten die Angeklagten gemeinsam mittels
Körperkraft die Hydraulikstange und hoben den Hub-Zylinder aus der Verankerung.
"Dann teilten sie sich auf, um zu zweit jeweils eine der beiden 'Krallen' zu
demontieren."
Die Angeklagten Wi. und W. bauten gemeinsam die hintere, in
Richtung Barmen angebrachte Stahlkralle ab. "In der irrigen Annahme, daß die
Angeklagten L. und S. ebenso verfahren und mit dem Abbau der anderen,
in Richtung Vohwinkel befindlichen 'Kralle' kurzfristig fertig sein würden", stiegen
die Angeklagten Wi. und W. auf die Brücke des Traggerüstes und
bereiteten das spätere Herablassen der Arbeitsbühne vor. Das hierfür erforderliche
Einhängen der elektrisch betriebenen Kettenzüge in die Arbeitsbühne
erwies sich als schwierig. Während sie über den richtigen Weg für die Kettenführung
diskutierten, kam einer der beiden anderen Angeklagten, die sich bis
- 11 -
dahin in dem Montagekorb aufgehalten hatten, auf die Brücke und zeigte den
Angeklagten W. und Wi. , wie sie vorzugehen hatten. Ob dies der Angeklagte
L. oder der Angeklagte S. war, konnte nicht geklärt werden. Als die
Kettenzüge vollständig eingehängt waren, kam auch der bis dahin auf der Arbeitsbühne
verbliebene Angeklagte auf die Brücke. Zu viert ließen die Angeklagten
die Arbeitsbühne langsam in die Wupper herab. Danach gingen die
Angeklagten auf dem Gerüst der Schwebebahn zurück in Richtung Robert-
Daum-Platz. Die Angeklagten W. und Wi. waren "unwiderlegbar" der festen
Überzeugung, daß die Angeklagten L. und S. "die ihnen zum Abbau
zugeteilte 'Kralle' genauso gewissenhaft und ordnungsgemäß abgebaut t hta
ten", wie sie selbst die andere. Das traf jedoch nicht zu; an der zweiten Kralle
war überhaupt nicht gearbeitet worden. Als die Angeklagten L. , S. , W.
und Wi. dem Bauleiter F. begegneten, der auf dem Weg zur Stütze 209
war, wurde diesem von einem der Angeklagten mitgeteilt, sie seien mit dem
Abbau der Dilatationsüberbrückungen fertig, die Arbeitsbühne sei in die Wupper
abgelassen worden, lediglich die Kettenzüge seien noch zu entfernen.
Nicht geklärt werden konnte, wer den Angeklagten F. über den Stand der
Arbeiten informierte.
2. Das Landgericht meint, den Angeklagten W. und Wi. könne es
nicht zum Vorwurf gereichen, daß sie in dem Glauben, der Angeklagte F.
habe die Angeklagten L. und S. zu ihnen geschickt, diese arbeitsteilig in
die Demontage der letzten Dilatationsüberbrückung in der Weise eingebunden
hätten, daß den Angeklagten L. und S. die Aufgabe zukommen sollte, die
andere Stahlkralle abzuschrauben. Insoweit greife der Vertrauensgrundsatz
ein, der den Verantwortungsbereich mehrerer Personen dahingehend eingrenze,
daß jeder grundsätzlich sein eigenes Verhalten nur darauf auszurichten
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habe, daß er selbst nicht fremde geschützte Rechtsgüter verletze. Da die Angeklagten
arbeitsteilig vorgegangen seien, seien die Angeklagten W. und
Wi. nicht verpflichtet gewesen, sich davon zu überzeugen, daß ihre Kollegen
die andere Stahlkralle ordnungsgemäß abgebaut hatten.
Auch die Angeklagten L. und S. waren nach Auffassung des Landgerichts
freizusprechen. Zwar habe zumindest einer von ihnen schwerste
Schuld auf sich geladen. Aufgrund der Einlassungen der Angeklagten W.
und Wi. stehe aber lediglich fest, daß bei der Abgrenzung des Verantwortungsbereichs
für den unterlassenen Abbau der Stahlkralle ausschließlich die
Angeklagten L. und S. in Betracht kämen. Eine weitergehende konkrete
Schuldzuweisung in Bezug auf den einen oder den anderen dieser Angeklagten
sei nicht möglich, weil ungeklärt sei, aus welchem Grund der Abbau bis zu
dem Zeitpunkt unterblieben sei, als der erste dieser beiden Angeklagten die
Arbeitsbühne verließ, und wer sich zuletzt auf der Arbeitsbühne aufgehalten
habe.
3. Diese Erwägungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die
Staatsanwaltschaft beanstandet zu Recht, daß das Landgericht den einheitlichen
Arbeitsvorgang unter Anwendung des Vertrauensgrundsatzes in einzelne
Verantwortungsbereiche aufgeteilt und demgemäß ein pflichtwidriges Unterlassen
allein in dem Verhalten desjenigen Angeklagten gesehen hat, der als letzter
die Arbeitsbühne verließ und dessen Identität nicht festgestellt werden
konnte. Damit hat sich das Landgericht den Blick dafür verstellt, daß nach den
bisherigen Feststellungen in Betracht kommt, daß jeder der Angeklagten
- unbeschadet der Aufteilung einzelner Arbeitsschritte - für die Abwendung der
von der abzubauenden Dilatationsüberbrückung ausgehenden Gefahren für die
- 13 -
Allgemeinheit einzustehen hatte, und daß jeder die ihm insoweit obliegenden
Sorgfaltspflichten verletzt und dadurch den eingetretenen Erfolg gemäß
§§ 222, 230 StGB fahrlässig mitverursacht hat.
a) Die im Bereich der Stütze 206 angebrachten Dilatationsüberbrückungen
waren als Hindernisse im Fahrbereich besondere Gefahrenquellen für die
Allgemeinheit. Die Betreiberin der Schwebebahn hatte die ihr im Rahmen ihrer
Verkehrssicherungspflichten obliegende Beseitigung dieser Gefahrenquellen
vor Wiederaufnahme des Fahrbetriebes durch Vereinbarung entsprechender
Vertragsbedingungen der Bietergemeinschaft ARGE übertragen (zur Zulässigkeit
der Übertragung von Schutzpflichten vgl. BGHSt 19, 286, 288; Jescheck in
LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 28), die unter Federführung der Firma , in deren Verantwortungsbereich
auch der Abbau der Dilatationsüberbrückungen fiel, die
Stahlbauarbeiten ausführte (UA 22, 38, 112 f.). Der von der ARGE bestimmte
Bauleiter war für die Räumung der Dilatationsüberbrückungen aus dem Fahrbereich
nach Beendigung der eigentlichen Bauarbeiten verantwortlich (UA 112
f.,144). Neben dem Bauleiter F. und den ebenfalls zur eigenständigen Kontrolle
der Kollisionsfreiheit des Fahrbereichs verpflichteten Angeklagten E.
und P. hatten aber auch die Angeklagten W. und Wi. eine Garantenstellung,
die sie gemäß § 13 Abs.1 StGB zur Abwendung der von den Dilatationsüberbrückungen
im Bereich der Stütze 206 ausgehenden Gefahren für die
Allgemeinheit verpflichtete.
Ihre Garantenstellung wurde durch die tatsächliche Übernahme des ihnen
von dem Angeklagten F. erteilten Auftrages begründet (vgl. BGH VRS
17, 424, 428; OLG Celle NJW 1961, 1939, 1940; Stree in Schönke/Schröder
StGB 26. Aufl. § 13 Rdn. 26; Jescheck aaO Rdn. 27). Der Auftrag bezog sich
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auf die gezielte Beseitigung einer offenkundig hochbrisanten Gefahrenquelle
für den Fahrbetrieb. Die tatsächliche Übernahme der Ausführung dieses Auftrages
begründete deshalb eine Schutzfunktion der Angeklagten gegenüber
den Benutzern der Schwebebahn. Entgegen der vor der Verteidigung vertretenen
Auffassung ist insoweit ohne Bedeutung, ob die Angeklagten arbeitsvertraglich
verpflichtet waren, eine solche Schutzfunktion zu übernehmen. Maßgebend
für die Begründung einer Garantenstellung ist allein die tatsächliche
Übernahme des Pflichtenkreises, nicht (auch) das Bestehen einer entsprechenden
vertraglichen Verpflichtung (vgl. Jescheck aaO; Stree aaO Rdn. 28).
Durch das Hinzutreten der "hilfswilligen" Angeklagten L. und S.
wurden die Angeklagten W. und Wi. aus ihrer Garantenstellung in Bezug
auf den Abbau der vierten Kralle nicht entlassen. Selbst wenn W. und Wi.
- wie zu ihren Gunsten festgestellt - geglaubt haben, der Bauleiter F. habe
L. und S. ausdrücklich beauftragt, am Abbau der Dilatationsüberbrückung
an der Stütze 206 mitzuwirken, war ein solcher Auftrag ersichtlich nicht dahin
zu verstehen, daß nunmehr vom Bauleiter eine Trennung der Aufgaben- und
Verantwortungsbereiche vorgenommen worden wäre. Eine solche, angesichts
einer einheitlichen Gefahrenquelle, die es zu beseitigen galt, ohnehin denkbar
fern liegende Möglichkeit kam hier schon deshalb nicht in Betracht, weil der
Bauleiter nicht vor Ort und damit über den Stand der bereits ausgeführten und
der noch zu erledigenden Aufgaben nicht informiert war.
Scheidet jedoch die Beendigung der Garantenstellung durch eine den
ursprünglichen Auftrag ganz oder teilweise zurücknehmende Weisung des
Auftraggebers aus, finden die sich aus der Garantenstellung ergebenden Garantenpflichten
ihr Ende erst dann, wenn der Garant die übernommene
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Schutzaufgabe vollständig erfüllt hat (vgl. Rudolphi in SK-StGB § 13 Rdn. 63;
Stree in FS für Hellmuth Mayer, 1966, S. 145, 161 f.). Die hier allein in Betracht
kommende Mitübernahme der Pflichten der ursprünglichen Garanten durch
Dritte
- die Angeklagten L. und S. - läßt die Garantenstellung der bisherigen Garanten
grundsätzlich unberührt (zum Fortbestehen von Sicherungspflichten der
ursprünglichen Garanten bei Übernahme von Sicherungspflichten durch eine
weitere Person vgl. BGH VRS 17, 424, 427 f.). Sie kann aber zu einer Modifizierung
der auf die vollständige Erfüllung der übernommenen Schutzaufgabe
gerichteten Garantenpflichten (vgl. BGHSt 19, 286, 288 f.; Jescheck aaO
Rdn. 28) und der sich daraus ergebenden Sorgfaltspflichten (Jescheck aaO vor
§ 13 Rdn. 97) führen. So muß der ursprüngliche Garant die übernommene
Gefahrenbeseitigung nicht mehr notwendig eigenhändig durchführen, sondern
kann sie ganz oder arbeitsteilig dem zur Übernahme bereiten Dritten überlassen.
Welche Sorgfaltspflichten ihn im letztgenannten Fall treffen, richtet sich
nach den Umständen des Einzelfalles. Von Bedeutung sind insbesondere das
Ausmaß der Gefahr, für deren Beseitigung der (ursprüngliche) Garant einzustehen
hat, und die Zuverlässigkeit der an der Beseitigung der Gefahrenquelle
beteiligten übrigen Garanten.
Schon mit Blick auf die außerordentlich hohe Gefährlichkeit der Kralle im
Schienenbereich der Schwebebahn (zur Abhängigkeit zwischen dem Maß der
Gefahr und Sorgfaltspflicht vgl. auch BGHSt 37, 184, 187) traf die Angeklagten
W. und Wi. jedenfalls die Verpflichtung, sich durch geeignete Maßnahmen
zu vergewissern, ob auch L. und S. die ihnen nach den bisher getroffenen
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Feststellungen im Wege interner Arbeitsteilung überlassene Entfernung der
vierten Kralle ordnungsgemäß vorgenommen hatten. Verblieb nämlich die
Kralle auf der Schiene, so gingen von ihr bei Wiederaufnahme des Fahrbetriebs
Gefahren für Leib und Leben einer Vielzahl von Personen aus. Den besonderen
Sorgfaltspflichten, die bei der Beseitigung von Hindernissen aus dem
Bereich eines schienengebundenen Verkehrsmittels für jeden bestehen, der es
übernommen hat, an der Gefahrenbeseitigung mitzuwirken, trägt denn auch die
Dienstanweisung 33 Rechnung, über die nach den Feststellungen alle auf der
Baustelle Beschäftigten bei Unterweisungen durch die Baufirma und die Wuppertaler
Stadtwerke zu informieren waren (UA 38). Danach muß sich jeder Beschäftigte
bei Arbeitsunterbrechung und nach beendeter Arbeit davon überzeugen,
daß die Strecke betriebssicher ist (UA 26). Unabhängig von der konkreten
Kenntnis dieser Dienstanweisung lag das Ausmaß der Gefahr für jeden
an der Strecke beschäftigten Arbeiter auf der Hand.
Zumutbarkeitsgesichtspunkte standen einer solchen Verpflichtung der
Angeklagten Wi. und W. zur Kontrolle nach den bislang getroffenen Feststellungen
schon deshalb nicht entgegen, weil die vier Angeklagten am selben
Ort arbeiteten und der jeweilige Stand der Arbeiten für alle gleichermaßen
leicht zu überschauen (auch zu hören) gewesen wäre. Ein umfassender Vertrauensschutz
in die ordnungsgemäße Erfüllung der von einem anderen arbeitsteilig
übernommenen Aufgabe, wie er insbesondere im Bereich der ärztlichen
Heilbehandlung für Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen und damit klar
abgegrenzter Aufgaben anerkannt ist (vgl. dazu BGH NJW 1980, 650;
Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder aaO § 15 Rdn. 151; Schroeder
in LK 11. Aufl. § 16 Rdn. 176), kam hier von vornherein nicht in Betracht.
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Ob besondere Umstände vorlagen, aus denen sich ergeben könnte, daß
die Angeklagten Wi. und W. sich trotz der erkennbaren Gefahrenlage auf
die ordnungsgemäße Erledigung des Abbaus der vierten Kralle durch die Angeklagten
L. und S. verlassen durften, wird der neue Tatrichter zu klären
haben.
b) Auch für die Angeklagten L. und S. kann eine Garantenstellung
mit der sich daraus ergebenden Pflicht zur Beseitigung der Kralle als Gefahrenquelle
im Schienenverkehr entstanden sein, insbesondere dann, wenn sie
es auf Weisung des Angeklagten F. übernommen hätten, die bei ihrem Eintreffen
an der Stütze 206 noch nicht erledigten Arbeiten gemeinsam mit den
Angeklagten W. und Wi. auszuführen. Eindeutige Feststellungen enthält
das Urteil insoweit nicht. In Betracht kommt aber auch eine freiwillige Beteiligung
an den noch ausstehenden Arbeiten. Erfolgt die - auch konkludent mögliche
- Mitübernahme einer Pflicht gegenüber Personen, die, wie die Angeklagten
W. und Wi. , ihrerseits Garanten sind, so rückt der Übernehmende in
vollem Umfang in die Garantenstellung ein (Stree aaO Rdn. 26, 30). Allerdings
reicht hierfür nicht jedes allgemein gehaltene, ersichtlich unverbindliche Hilfsangebot
aus. Erforderlich ist vielmehr, daß durch die Wahrnehmung bestimmter
Aufgaben in zurechenbarer Weise das Vertrauen der übrigen Garanten in
die verantwortliche Mitwirkung des Hilfswilligen bei der Gefahrabwendung begründet
wird (vgl. BGH NJW 1993, 2628, 2629; Stree in FS für Hellmuth Mayer,
1966, S. 145, 155 f., 158). Sofern die Angeklagten L. und S. nach diesen
Grundsätzen eine Garantenstellung hatten, steht einer Verurteilung der Angeklagten
nicht entgegen, daß nicht geklärt werden kann, wer als letzter die Arbeitsbühne
verließ.
- 18 -
Hatte derjenige Angeklagte, der die Arbeitsbühne als vorletzter verließ,
ohne weiteres auf einen ordnungsgemäßen Abbau der Kralle durch den auf der
Arbeitsbühne verbliebenen Angeklagten vertraut, so gelten für ihn die gleichen
Erwägungen wie für die Angeklagten W. und Wi. .
Ausgehend von dem unrichtigen Ansatz eines umfassenden Vertrauensschutzes
für alle an der Stütze 206 arbeitenden Angeklagten sind die vom
Landgericht insoweit getroffenen Feststellungen lückenhaft oder entbehren
einer tragfähigen Beweisgrundlage. Soweit in den Urteilsgründen (UA 55, 56)
von einer paarweisen Aufteilung der vier Arbeiter für den Abbau jeweils einer
"zugeteilten" Kralle ausgegangen wird, beruhen diese Feststellungen auf Aussagen
der Angeklagten W. und Wi. , die das Landgericht in Anwendung
des Zweifelssatzes zu Gunsten dieser Angeklagten für unwiderlegt erachtet
hat. Angesichts des naheliegenden Motivs, sich auf diese Weise auf Kosten
der Angeklagten S. und L. zu entlasten, können die Angaben der Angeklagten
W. und Wi. jedoch nicht ungeprüft zur Grundlage einer Verurteilung
der Angeklagten S. und L. gemacht werden, die zu dem Anklagevorwurf
geschwiegen haben.
Der Senat hebt deshalb die Feststellungen zum Abbau der Dilatationsüberbrückungen
im Bereich der Stütze 206, einschließlich der Feststellungen
zu den hierfür von Vorgesetzten den Angeklagten W. , Wi. , S. und L.
erteilten Aufträgen und einer Arbeitsteilung dieser Angeklagten untereinander
auf (S. 53 dritter Absatz bis S. 57 [einschließlich] der Urteilsabschrift). Die übri-
19 -
gen Feststellungen bleiben aufrechterhalten, weil sie von dem aufgezeigten
Rechtsfehler nicht betroffen sind.
Tepperwien Maatz RiBGH Athing ist infolge
Krankheit gehindert, seine
Unterschrift beizufügen
Tepperwien
Ernemann Sost-Scheible
BGHSt: ja
BGHR: ja
Veröffentlichung: ja
StGB § 13
Zur Garantenstellung und Garantenpflicht bei arbeitsteiliger Beseitigung einer
Gefahrenquelle im schienengebundenen Verkehr (Wuppertaler Schwebebahn).
BGH, Urteil vom 31. Januar 2002 - 4 StR 289/01 - Landgericht Wuppertal



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