BGH,
Urt. v. 4.7.2002 - 3 StR 64/02
3 StR 64/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
4. Juli 2002
in der Strafsache gegen
wegen Mißhandlung von Schutzbefohlenen
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 4.
Juli 2002, an der teilgenommen haben: Richter am Bundesgerichtshof
Winkler als Vorsitzender, die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Miebach,
Pfister, von Lienen, Becker als beisitzende Richter,
Staatsanwältin als Vertreterin der Bundesanwaltschaft,
Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts
Wuppertal vom 23. März 2001 mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagte verurteilt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine
andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen "Mißhandlung von
Schutzbefohlenen durch Unterlassen" zu einer Freiheitsstrafe von drei
Jahren verurteilt und sie von einem weiteren Fall der
Mißhandlung von Schutzbefohlenen freigesprochen. Gegen ihre
Verurteilung wendet sich die Angeklagte mit der allgemeinen
Sachrüge. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Nach den Feststellungen wohnte die Angeklagte vom 22. März
bis Ende Juni 2000 zusammen mit ihrer am 14. Februar 1999 geborenen
Tochter M. bei ihrer Halbschwester und deren wegen
Mißhandlung von Schutzbefohlenen vorbestraften
Lebensgefährten D. in einer Zweizimmerwohnung in S. . Sie
hielt sich während dieses Zeitraums, soweit das Kind nicht
stationär behandelt wurde, "immer in dessen Nähe auf;
insbesondere war M. mit D. nie allein (UA S. 14)".
a) Wahrscheinlich kurz nach ihrer Ankunft in S. , nicht
ausschließbar auch wenige Tage zuvor, wirkte wahrscheinlich
die Angeklagte, möglicherweise aber auch eine andere Person
unter im einzelnen nicht feststellbaren Umständen mit massiver
Gewalt auf den Kopf des Kleinkindes ein, so daß dieses eine
Kalottenfragmentfraktur rechts mit einem Hämatom und eine
Hirnschwellung erlitt. Während der anschließenden
stationären Behandlung informierte eine Klinikärztin
die Angeklagte ausdrücklich über den Verdacht einer
Kindesmißhandlung. Das Landgericht hat die Angeklagte
insoweit vom Vorwurf der Mißhandlung von Schutzbefohlenen
freigesprochen, weil nicht sicher habe festgestellt werden
können, daß sie selbst ihrer Tochter die
Verletzungen zugefügt habe; möglicherweise sei sie
von den Gewalttätigkeiten einer anderen Person gegen das Kind
überrascht worden, so daß sie diese nicht habe
abwenden können.
b) Im Zeitraum zwischen 28. April und 8. Mai 2000 erlitt M. auf im
einzelnen nicht mehr feststellbare Art und Weise sechs
Hämatome im Lendenwirbelbereich und ein Hämatom am
Kopf. Die Strafkammer hat nicht sicher ausschließen
können, daß diese Verletzungen durch Stürze
des Kindes verursacht wurden. Während des folgenden
Krankenhausaufenthaltes erhoben die behandelnden Ärzte
gegenüber der Angeklagten wiederum den Vorwurf der
Kindesmißhandlung. Diesen Tatvorwurf hat die Strafkammer
gemäß § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO
vorläufig eingestellt.
c) In der Zeit vom 20. bis zum 27. Juni 2000 wirkte eine Person
mindestens zweimal bewußt mit sehr massiver,
flächenhafter Gewalt auf den Kopf des Kleinkindes ein. Dieses
erlitt dadurch einen Bruch des Stirnbeins, ein Hämatom an der
Stirn und einen Schädelbruch im Bereich des rechten
Hinterkopfes. Wegen dieser Verletzungen wurde M. ca. vier Wochen lang
im Krankenhaus behandelt. Ihren Zustand schätzten die
Ärzte zeitweise als lebensbedrohlich ein. Das Landgericht
konnte nicht klären, auf welche Art und Weise im einzelnen
gegen das Kind Gewalt ausgeübt worden war, wobei es zu Gunsten
der Angeklagten davon ausging, daß beide
Schädelbrüche und das Hämatom nur durch eine
Gewalthandlung entstanden und weitere diagnostizierte Verletzungen
möglicherweise auf Stürze
zurückzuführen sind. Die Strafkammer ist der
Überzeugung, daß die Angeklagte im Juni 2000
entweder ihre Tochter selbst in einer deren Leiden bewußt
mißachtenden Gesinnung verletzte oder das Kind in derselben
Gesinnung wissentlich dem Zugriff einer anderen Person aussetzte, von
der sie wußte, daß durch diese die
Schädelbrüche herbeigeführt werden
könnten.
2. Bei der Beweiswürdigung ist das Landgericht davon
ausgegangen, daß die Angeklagte zumindest den
Schädelbruch vom März 2000 und die
Schädelbrüche vom Juni 2000 sowie die damit
zusammenhängenden Kopfverletzungen ihrer Tochter mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit jeweils eigenhändig und mit direktem
Vorsatz zugefügt habe. Es verblieben jedoch Zweifel, weil eine
andere Person, insbesondere die Halbschwester der Angeklagten und vor
allem deren einschlägig vorbestrafter Lebensgefährte
als Täter nicht sicher ausgeschlossen werden konnten. Da die
Angeklagte das Kind nie längere Zeit allein gelassen habe,
habe sie nach den schweren Kopfverletzungen vom März 2000
gewußt, von wem und in welcher Situation diese verursacht
worden seien.
Hinsichtlich der im Juni 2000 zugefügten Verletzungen hat die
Angeklagte nach Ansicht des Landgerichts ihre Tochter zumindest durch
Unterlassen roh mißhandelt und dabei das Kind in die Gefahr
einer schweren Gesundheitsbeschädigung durch
Hirnschäden und einer erheblichen Schädigung der
körperlichen und seelischen Entwicklung gebracht (§
225 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 2. Alt., Nr. 2, § 13 StGB). Sie
habe auf Grund der elterlichen Sorge die Pflicht und auch die
Möglichkeit gehabt, das Kind von der gefährlichen
Person, die ihr durch die Zufügung des ersten
Schädelbruchs im März 2000 bekannt gewesen sei,
fernzuhalen und dadurch weitere Mißhandlungen zu verhindern.
Das Unterlassen sei mit direktem Vorsatz erfolgt.
3. Der Schuldspruch hält rechtlicher
Überprüfung nicht stand. Dabei geht die Strafkammer
zwar zutreffend davon aus, daß die Tatmodalität des
"rohen Mißhandelns" in § 225 Abs. 1 StGB auch durch
Unterlassen begangen werden kann (vgl. BGH NStZ 1991, 234; Stree in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 225 Rdn.
11). Sie hat aber bei der von ihr als möglich angesehenen
Alternative, die Angeklagte habe die Mißhandlung ihrer
Tochter durch eine andere Person lediglich nicht verhindert, deren
Handlungspflicht auf eine nicht tragfähige
Schlußfolgerung gestützt.
Das Landgericht hat nicht feststellen können, ob die
Schädelbrüche vom Juni 2000 durch
Verletzungshandlungen der Angeklagten oder einer anderen Person
herbeigeführt wurden. Für die letztgenannte
Alternative begründet es eine Täterschaft der
Angeklagten durch Unterlassen damit, diese habe auf Grund der
Mißhandlung vom März 2000 gewußt,
daß dem Kind durch die andere Person Gefahr drohe. Diese
Schlußfolgerung wäre jedoch nur dann
tragfähig, wenn die Verletzungshandlungen vom März
und Juni 2000 jeweils durch dieselbe Person begangen worden
wären. Dies ist indes nicht festgestellt. Vielmehr kommt nach
den getroffenen Feststellungen in Betracht, daß für
beide Vorfälle unterschiedliche Täter verantwortlich
sind. Für die erste Tat vom März 2000 hat das
Tatgericht eine Mißhandlung durch die Angeklagte für
wahrscheinlich gehalten und nicht einmal ausschließen
können, daß diese zeitlich bereits vor dem Einzug
der Angeklagten in die Wohnung ihrer Halbschwester in S. erfolgt war.
Bei diesen Fallgestaltungen kann das Geschehen vom März 2000
weder der Halbschwester noch deren Lebensgefährten angelastet
werden. Hatte die Angeklagte oder eine weitere, bislang unbekannte
Person die erste Mißhandlung begangen, bestand keine
Verpflichtung der Angeklagten, ihre Tochter vor ihrer Halbschwester
oder deren Lebensgefährten zu schützen, weil nach
ihrem Kenntnisstand dem Kind von diesen Personen keine Gefahr drohte.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes
hin:
a) Bei der Beweiswürdigung zu der Tat vom Juni 2000 ist die
zur Entscheidung berufene Strafkammer an die dem
rechtskräftigen Freispruch zu Grunde liegenden Feststellungen
nicht gebunden (vgl. BGHSt 43, 106, 107; Rieß in
Löwe-Rosenberg, StPO 25. Aufl. Einl. J Rdn. 103 f. m. w. N.).
Sie wird sich in ihr aber mit den Gründen des Freispruchs
auseinandersetzen müssen.
b) Sollte sie zu dem Ergebnis kommen, die Angeklagte habe gebotene
Handlungspflichten zum Schutze ihrer Tochter vor einer drohenden
Mißhandlung durch einen Dritten bewußt unterlassen,
wird sie sich bei der Prüfung des subjektiven Tatbestandes
(vgl. dazu Cramer/Sternberg-Lieben in
Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 15 Rdn.
98) mit deren Vorstellung über die Folgen der
Untätigkeit befassen müssen. Wenn die Angeklagte
weitere Mißhandlungen ihrer Tochter durch einen Dritten
lediglich für möglich gehalten haben sollte, ist eine
Abwägung auf Grund aller objektiven und subjektiven
Tatumstände erforderlich, ob sie diese billigend in Kauf nahm
und deshalb bedingter Vorsatz zu bejahen ist oder ob sie auf ihr
Ausbleiben ernsthaft vertraute und ihr deshalb nur
Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann (vgl. BGHSt 36, 1, 10;
Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 15 Rdn. 9 ff.).
c) Bei der Frage, ob das durch Unterlassen begangene
Mißhandeln roh im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB war,
sind vor allem die Schwere des drohenden körperlichen
Angriffes auf das hilflose Kleinkind, in der sich die
gefühllose, fremde Leiden mißachtende Gesinnung
widerspiegelt, aber auch die Persönlichkeit der Angeklagten
und deren Motivation von Bedeutung (vgl. BGHSt 25, 277, 278, 280;
Hirsch in LK 11. Aufl. § 225 Rdn. 14).
Winkler Miebach Pfister von Lienen Becker
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