BGH,
Urt. v. 5.7.2000 - 5 StR 629/99
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
5 StR 629/99
URTEIL
vom 5. Juli 2000
in der Strafsache gegen
wegen Mordes
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 5. Juli
2000, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin Harms, Richter
Basdorf, Richterin Dr. Tepperwien, Richter Dr. Raum, Richter Dr. Brause
als beisitzende Richter, Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als
Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger,
Rechtsanwalt als Vertreter des Nebenklägers,
Justizobersekretärin Justizangestellte als Urkundsbeamtinnen
der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 22. April 1999 dahin abgeändert,
daß der Angeklagte des Mordes schuldig ist.
Die Revision des Angeklagten wird verworfen.
Der Angeklagte hat die Kosten des Revisionsverfahrens und die dem
Nebenkläger insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer
Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der
Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des
Nebenklägers hat mit der Sachrüge Erfolg; der
Schuldspruch ist dahin zu ändern, daß der Angeklagte
des Mordes schuldig ist. Die Schuldspruchänderung
läßt den Strafausspruch unberührt. Die
Revision des Angeklagten, der eine offensichtlich unbegründete
Verfahrensrüge und die Sachrüge erhebt, hat keinen
Erfolg.
Am 18. Juni 1962 erschoß der Angeklagte den Bruder des
Nebenklägers, der in Berlin (Ost) als Grenzposten an der
Berliner Mauer eingesetzt war. Der unmittelbar vor dem Mauerbau aus
Berlin (Ost) ohne seine Familie geflüchtete Angeklagte hatte
von Berlin (West) aus einen Tunnel zu einem unmittelbar hinter der
Mauer gelegenen Haus gegraben, um auf diesem Weg
Familienangehörige, insbesondere seine Ehefrau und seine
beiden Söhne, in den Westteil der Stadt zu schleusen. Am
Tattag begab sich der Angeklagte durch den fertiggestellten Tunnel in
den Ostteil Berlins. Als sich die Fluchtwilligen unter seiner
Führung anschickten, das Haus, zu dem der Tunnel
führte, zu betreten, forderte der in dem Grenzabschnitt
eingesetzte bewaffnete Grenzposten sie auf, stehenzubleiben und sich
auszuweisen. Er bestand auf die Kontrolle, obgleich der Angeklagte ihn
mit dem Vorwand, sie wollten einen Geburtstagsbesuch machen, davon
abzuhalten suchte. Da der Angeklagte ein Scheitern der Flucht und eine
Festnahme der Beteiligten verhindern wollte, erschoß er in
dieser Situation den ahnungslosen Grenzposten mit einer einsatzbereit
mitgeführten Schußwaffe. Anschließend
gelang ihm und seinen Begleitern die Flucht durch den Tunnel.
1. Auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen
zum Tathergang hat das Schwurgericht mit im Ergebnis zutreffenden
Erwägungen eine Rechtfertigung oder Entschuldigung des
Angeklagten verneint. Für jene Beurteilung ist insbesondere
die überragende Bedeutung des Rechtsgutes des menschlichen
Lebens (vgl. dazu in anderem Zusammenhang BGHSt 39, 1, 20 ff.) von
maßgeblicher Bedeutung.
a) Die Tötung des Grenzpostens war nicht durch Notwehr geboten
(§ 32 Abs. 1 StGB). Bei seinem konkreten Einsatz handelte der
getötete Grenzposten gemäß einer
für ihn verbindlichen Befehlslage. Diese beruhte auf der
Grenzregelung der DDR, die - ungeachtet ihrer Menschenrechtswidrigkeit
- nicht insgesamt als ungültig anzusehen ist (vgl. nur die
Rechtsprechungsnachweise bei Willnow JR 1997, 221, 223; 265, 267, 271).
Der Grenzposten hatte zudem nicht etwa bereits zur Anwendung seiner
Schußwaffe gegen die Fluchtwilligen angesetzt.
b) Auch die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes
(§ 35 Abs. 1 Satz 1 StGB) liegen nicht vor. Freilich bestand
in der Tatsituation gegenwärtige Gefahr für die
Freiheit des Angeklagten und für die seiner Familie. Es war
ihm aber trotz der schwer erträglichen Trennungssituation
für seine Familie und vor dem Hintergrund
menschenrechtswidriger Versagung von Ausreisefreiheit gleichwohl
zuzumuten, die Gefahr im Blick auf die Bedeutung des Lebensrechts des
betroffenen Grenzpostens insoweit hinzunehmen, als er sie nicht durch
dessen vorsätzliche Tötung abwenden durfte
(§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB). Von einer solchen Tötung
mußte er Abstand nehmen, nachdem er sich mit
schußbereiter Waffe in Kenntnis aller Risiken in die
vorhergesehene Konfliktsituation mit einem bewaffneten Grenzposten
begeben hatte.
2. Mit Recht hat das Schwurgericht in der konkreten Tatsituation der
von dem Grenzposten allein vorgenommenen Kontrolle die objektiven
Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke bejaht (vgl.
nur BGHSt 39, 353, 368; 41, 72, 78 f.; Jähnke in LK 10. Aufl.
§ 211 Rdn. 44). Angesichts der Feststellungen zur Vorbereitung
und Durchführung der komplizierten Fluchtaktion fehlt es
allerdings für die Annahme des Schwurgerichts, der
uneingeschränkt einsichts- und steuerungsfähige
Angeklagte habe in der Tatsituation aufgrund affektiver Anspannung die
das Mordmerkmal bestimmenden Merkmale nicht erfaßt, an einer
tragfähigen Tatsachengrundlage. Dies gilt insbesondere im
Blick auf die festgestellte verharmlosende Äußerung
des Angeklagten gegenüber seinem Opfer vor Abgabe der
tödlichen Schüsse. Weitere Mordmerkmale liegen
offensichtlich nicht vor (vgl. zur Ermöglichungs- oder
Verdeckungsabsicht nur Jähnke aaO § 211 Rdn. 10, 20).
Der Senat kann den Schuldspruch von sich aus ändern. Danach
stellt sich die Verjährungsfrage nicht (§ 78 Abs. 2
StGB; vgl. dazu Albrecht GA 2000, 123).
3. Der Strafausspruch bleibt von der Schuldspruchverschärfung
unberührt. Dem Angeklagten ist neben der
Strafrahmenverschiebung nach § 17 Satz 2, § 49 Abs. 1
StGB eine weitere Strafrahmenverschiebung nach § 35 Abs. 1
Satz 2 zweiter Halbsatz, § 49 Abs. 1 StGB zuzubilligen; denn
er hat zur Abwendung einer ihm und seiner Familie drohenden
Gefährdung der Freiheit, mithin in einer - freilich wegen
hinzunehmender Gefahr nicht entschuldigenden - Notstandslage gehandelt.
Danach ist die Mindeststrafe nicht wesentlich höher als vom
Tatrichter angenommen. Angesichts der
außergewöhnlichen Umstände dieses nach
seinem konkreten Unrechtsgehalt gänzlich untypischen
Heimtückemordes (vgl. BGHSt 30, 105) - namentlich bedingt
durch die tragische Tatsituation, zudem im Blick auf einen Zeitablauf
von fast 40 Jahren seit Tatbegehung (vgl. auch BGHSt 41, 72, 93 f.) -
mußte sich die Strafzumessung hier an der Mindeststrafe
orientieren. Aus den genannten Gründen ist die vom
Schwurgericht verhängte Bewährungsstrafe auch unter
Berücksichtigung des erschwerten Schuldspruchs im Ergebnis
nicht zu beanstanden (vgl. auch Willnow aaO S. 227 m.N.).
Harms Basdorf Tepperwien
Raum Brause |