BGH,
Urt. v. 5.6.2003 - 3 StR 55/03
3 StR 55/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 5. Juni 2003
in der Strafsache gegen
wegen Totschlags
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 5.
Juni 2003, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Tolksdorf, die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Miebach, Winkler, Becker, Hubert als beisitzende Richter,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwältin als Verteidigerin,
Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Lüneburg vom 16. August 2002 mit den
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die Revision der Angeklagten gegen das vorbezeichnete Urteil wird
verworfen.
Die Angeklagte hat die Kosten ihres Rechtsmittels zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Totschlags zu einer
Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur
Bewährung ausgesetzt. Mit ihrer - zuungunsten der Angeklagten
eingelegten - Revision rügt die Staatsanwaltschaft die
Verletzung sachlichen Rechts. Sie macht namentlich geltend, das
Landgericht habe rechtsfehlerhaft zum einen das Vorliegen des
Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe verneint und zum
anderen erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit der
Angeklagten bei Tatbegehung angenommen. Die Revision der Angeklagten
rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie
beanstandet die Beweiswürdigung des Landgerichts sowie dessen
Annahme, die Schuldfähigkeit der Angeklagten sei zur Tatzeit
nicht aufgehoben gewesen. Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft
greift durch, während die Revision der Angeklagten ohne Erfolg
bleibt.
I. Das Landgericht hat festgestellt: Die Angeklagte - eine zur Tatzeit
achtzehnjährige Gymnasiastin - hatte im Juli 2000
während eines Ferienaufenthalts auf Amrum nach erheblichem
Alkoholgenuß mit einem flüchtigen Urlaubsbekannten
ihren ersten Geschlechtsverkehr, von dem sie schwanger wurde. Dem
Ausbleiben ihrer Regelblutung Ende Juli 2000 maß sie zwar
noch keine Bedeutung bei, aufgrund entsprechender Symptome keimte bei
ihr jedoch im Oktober 2000 der Verdacht, sie könnte schwanger
sein. Sie ließ diese Überlegung jedoch nicht an sich
heran und verdrängte in der Folgezeit trotz der
Veränderungen an ihrem Körper - insbesondere ihrer
Gewichtszunahme - jeden Gedanken an eine Schwangerschaft.
Gegenüber ihrer Mutter, im Freundeskreis und in der Schule
stritt sie - letztlich überzeugend - ab, schwanger zu sein,
nachdem sie hierauf wegen ihrer zunehmenden
Körperfülle angesprochen worden war.
Am Tattag, dem 11. April 2001, gegen 12.00 Uhr mittags, kam es bei der
Angeklagten zum Abgang des Fruchtwassers. Nunmehr wurde ihr klar,
daß sie schwanger war und ihr Kind jetzt geboren werde. Die
Angeklagte, die sich in diesem Moment im Badezimmer im ersten
Obergeschoß des Elternhauses aufgehalten hatte, ergriff dort
gestapelte Handtücher und begab sich in ihr Zimmer, dessen
Tür sie abschloß. Unbemerkt von den anderen im Haus
befindlichen Familienmitgliedern brachte sie dort ein voll
ausgetragenes und lebendes Mädchen zur Welt. Nicht
ausschließbar im Zustand erheblich verminderter
Steuerungsfähigkeit steckte sie den Säugling und die
Nachgeburt in einen Plastiksack für Wertstoffmüll,
den sie, ohne ihn zuzubinden oder zu verknoten, in einen Pappkarton
legte, wo sie den Sack lose über dem Körper des
Kindes zusammenfallen ließ. Plastiksack und Karton hatten
sich aufgrund einer Renovierung noch im Zimmer der Angeklagten
befunden. Die Laschen des Kartons befestigte sie mit Kreppklebeband, so
daß sie sich nicht von alleine wieder öffnen
konnten. Das Kind erstickte in dem Karton, nachdem es mindestens
fünf Stunden gelebt hatte. Der Angeklagten war klar,
daß der Säugling unversorgt sterben würde.
Sie wollte jedoch durch die Existenz des Kindes nicht in ihrer
Lebensführung beeinflußt werden und sich um ihre
Tochter kümmern müssen.
Die Angeklagte beseitigte in der Folge die Spuren der Geburt, zog die
Bettwäsche ab, wusch sie zusammen mit den verschmutzten
Handtüchern in einer Waschmaschine im Erdgeschoß und
hängte alles zum Trocknen auf. Den Karton mit dem Kind brachte
sie zu einem nicht festgestellten Zeitpunkt nach draußen und
stellte ihn in einem Schuppen auf dem elterlichen Grundstück
ab. Gegen 18.00 Uhr traf sie in dem im ersten Obergeschoß des
Hauses gelegenen Wohnzimmer wieder mit ihren Eltern zusammen, die an
ihrer Tochter keine Auffälligkeiten bemerkten. Am
nächsten Tag nahm sie ihr gewohntes Leben wieder auf. Der
Karton mit der Leiche des Säuglings wurde am 14. April 2001
vom Vater der Angeklagten in dem Schuppen entdeckt.
II. Die Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung
des angefochtenen Urteils. Die Beweiswürdigung des
Landgerichts zum subjektiven Vorgeschehen der Tat und damit verbunden
zur Frage möglicher geistig-seelischer
Beeinträchtigungen der Angeklagten zur Tatzeit
enthält Rechtsfehler, die dem Urteil insgesamt die Grundlage
entziehen.
Mit Recht macht die Beschwerdeführerin geltend, daß
sich das Landgericht mit der Frage, ob die Tat von der Angeklagten
vorausgeplant war, nur lückenhaft und widersprüchlich
auseinandergesetzt hat. Das Landgericht hat seine Überzeugung
zur psychischen Befindlichkeit der Angeklagten vor und während
der Tat und zu deren Tatentschluß maßgeblich auf
die Ausführungen des Sachverständigen H.
gestützt. Nach dessen Beurteilung hatte die Angeklagte ihre
Schwangerschaft zunächst verdrängt, war in deren
Endstadium dann aber nach einer Phase des Ahnens und des Sich-Wehrens
zu einem Verheimlichen der Schwangerschaft gegenüber ihrer
Umwelt übergegangen. Dies verdeutliche auch die
Ankündigung der Angeklagten an ihren Freund M. , sie werde
eine Abmagerungskur machen. Hierin liege ein strategisches Verhalten,
das zugleich raffiniert und plaziert sei, um spätere Fragen
wegen der Veränderung ihres Körpers beantworten zu
können. Vor diesem Hintergrund erörtert der
Sachverständige drei Möglichkeiten der Tatgenese: die
geplante Tötung, die spontane Tötung unter akuter
emotionaler Belastungsreaktion und Streß sowie die spontane
Tötung als völlige Schockreaktion mit Dissoziation.
Der Sachverständige hält die zweite
Möglichkeit für "sehr plausibel", die beiden anderen
Möglichkeiten dagegen für "sehr unwahrscheinlich",
wobei den Urteilsgründen jedoch nur für die Ablehnung
der Schockreaktion eine nähere Begründung zu
entnehmen ist. Dagegen bleibt offen, warum der Sachverständige
eine vorausgeplante Tötung für unwahrscheinlich hielt
und das Landgericht eine entsprechende Überzeugung nicht zu
gewinnen vermochte.
Dies hätte jedoch näherer Darlegung bedurft. Denn in
der Nachricht der Angeklagten an ihren Freund, sie werde eine
Abmagerungskur machen, liegt nicht nur ein deutliches Indiz
dafür, daß die Angeklagte um die kurz bevorstehende
Niederkunft wußte, sondern auch, daß selbst danach
die Schwangerschaft und die Geburt weiter verheimlicht und die
Gewichtsabnahme auf die Abmagerungskur geschoben werden sollte. Dem
entspricht, daß die Angeklagte noch am Tattag um 18.35 Uhr
ihrem Freund eine SMS-Nachricht des Inhalts zusandte, ihre Fastenkur
zeige bereits Erfolg (UA S. 12). All dies kann den Schluß
rechtfertigen, die Angeklagte habe von vornherein die Absicht gehabt,
ihr Kind nach der Geburt zu töten, und somit die Tat geplant.
Diese Möglichkeit durfte daher nicht ohne nähere
Erörterung ausgeschlossen werden.
Die Lücke in der Beweiswürdigung wird auch nicht
durch die Feststellung des Landgerichts geschlossen, in der Nachricht
der Angeklagten an ihren Freund, sie werde wegen ihrer
Körperfülle eine Fastenkur machen, habe sich ihre
"unbewußte Kenntnis" von der bevorstehenden Geburt im Sinne
eines Ahnens und Sich-Wehrens niedergeschlagen, die die Angeklagte
selbst zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu akzeptieren vermochte (UA S.
10). Diese Bewertung steht in Widerspruch zu den Darlegungen des
Sachverständigen, wonach es der Angeklagten in der letzten
Phase der Schwangerschaft nur noch um das Verheimlichen ging, das sie
mit der Mitteilung an ihren Freund raffiniert und plaziert umsetzte.
Sie läßt auch die daran anschließende
SMS-Nachricht nach der Tat außer Betracht. Eine
Begründung für seine abweichende Beurteilung gibt das
Landgericht nicht.
Dieser Mangel der Beweiswürdigung führt nicht nur zur
Aufhebung der Jugendstrafe, für deren Bemessung das
Landgericht neben dem Erziehungszweck maßgeblich darauf
abgehoben hat, daß sich die Tat bei Bewertung nach
Erwachsenenstrafrecht wegen der erheblich verminderten
Schuldfähigkeit der Angeklagten als sonstiger minder schwerer
Fall im Sinne des § 213 StGB dargestellt hätte.
Vielmehr kann auch der Schuldspruch keinen Bestand haben; denn war die
Tat vorausgeplant, ist nicht nur die Schuldfähigkeit der
Angeklagten auf einer anderen Tatsachengrundlage zu beurteilen, sondern
auch die Frage des Vorliegens von Mordmerkmalen (§ 211 Abs. 2
StGB) neu zu beantworten.
III. Die Revision der Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
1. Die verfahrensrechtlichen Beanstandungen dringen nicht durch. Sie
sind jedenfalls unbegründet. Der Senat nimmt insoweit Bezug
auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Zuschrift
vom 11. März 2003.
2. Soweit sich die Revision mit der Sachrüge gegen die
Beweiswürdigung des Landgerichts wendet, vermag sie ebenfalls
keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten aufzudecken. Die
Überzeugungsbildung des Landgerichts zum Kerngeschehen der Tat
beruht auf möglichen Schlüssen aus dem
Beweisergebnis. Zwingend müssen diese Schlüsse -
entgegen der Ansicht der Revision - nicht sein. Ebenso hat das
Landgericht nachvollziehbar dargelegt, warum es dem
Sachverständigen H. bei der Beurteilung der
Schuldfähigkeit der Angeklagten folgt und die
diesbezüglichen Ausführungen der Psychologin G.
für unzutreffend erachtet. Bei alledem werden Rechtsfehler in
der Beweiswürdigung - etwa Lücken,
Widersprüche, Verstöße gegen Denkgesetze
oder gesichertes Erfahrungswissen -, die sich zum Nachteil der
Angeklagten ausgewirkt haben könnten, nicht erkennbar. Durch
die rechtsfehlerhafte Behandlung der Frage, ob die Tat
möglicherweise vorausgeplant war, ist die Angeklagte nicht
beschwert. Sie kann ihrer Revision daher nicht zum Erfolg verhelfen.
IV. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes
hin:
1. Die nunmehr zur Entscheidung berufene Strafkammer wird sich bei
Klärung des Tatablaufs näher mit der Frage
auseinanderzusetzen haben, über welchen Zeitraum aus
rechtsmedizinischer Sicht ein Überleben des Kindes in dem
Plastiksack möglich war, insbesondere ob eine
Überlebenszeit von mehreren Stunden in Betracht kommt, wie
dies in dem angefochtenen Urteil angenommen wurde.
2. Trotz Aufhebung des § 217 StGB aF darf auch nach neuer
Rechtslage nicht darauf verzichtet werden zu prüfen, ob und
gegebenenfalls in welcher Weise sich die körperliche und
seelische Belastung der Gebärenden, die Grund für die
Privilegierung der Kindstötung in dieser Vorschrift war, bei
der Begehung eines einschlägigen Tötungsdelikts
ausgewirkt hat (vgl. die Begründung des Gesetzentwurfs der
Bundesregierung zum 6. StrRG BTDrucks. 13/8587 S. 34). Dies gilt auch
für die Frage, ob die Tatmotivation das Mordmerkmal der
niedrigen Beweggründe erfüllt und - falls dies
objektiv einmal der Fall sein sollte - ob die Täterin die
Umstände, die die Niedrigkeit ihrer Beweggründe
ausmachen, trotz der Belastung durch die Geburt subjektiv in ihrer
Bedeutung für die Tatausführung in ihr
Bewußtsein aufgenommen und erkannt hat.
Andererseits wird zu beachten sein, daß bei
Kindstötungen im Sinne des aufgehobenen § 217 StGB aF
eine erhebliche Verminderung oder gar Aufhebung der
Schuldfähigkeit kaum in Betracht kommen wird, wenn bei der
Täterin außer der Belastung durch die Geburt keine
schon unabhängig hiervon bestehenden geistig-seelischen
Beeinträchtigungen festzustellen sind (vgl. Vossen in
Göppinger/Bresser, Tötungsdelikte 1980 S. 81, 88 ff.,
90; Langelüddeke/ Bresser, Gerichtliche Psychiatrie 4. Aufl.
S. 174; Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 54). Auch
dem angefochtenen Urteil läßt sich im
übrigen nicht entnehmen, daß bei der Angeklagten zur
Tatzeit eine der geistig-seelischen Beeinträchtigungen
vorgelegen hätte, die gemäß
§§ 20, 21 StGB geeignet sind, die
Schuldfähigkeit aufzuheben oder erheblich zu mindern. Nach den
Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen H.
, denen das Landgericht folgt, bestand bei der Angeklagten weder eine
psychische Krankheit noch eine
Persönlichkeitsstörung. Eine krankhafte seelische
Störung sowie eine schwere andere seelische Abartigkeit im
Sinne des § 20 StGB schieden damit aus. Die von ihm als "sehr
plausibel" angesehene akute emotionale Belastungsreaktion mit
emotionalem Streß und Geburtsstreß (UA S. 36), auf
deren Grundlage er eine erhebliche Verminderung der
Steuerungsfähigkeit der Angeklagten nicht meinte
ausschließen zu können, erfüllt hier auch
nicht die Voraussetzungen einer tiefgreifenden
Bewußtseinsstörung. Denn das Landgericht hat
ausdrücklich festgestellt, daß die Angeklagte im
Tatzeitraum bewußtseinsklar war und sich bei ihr keine
tiefgreifende Bewußtseinsstörung eingestellt hatte
(UA S. 12). Damit ist aber keines der biologischen Eingangsmerkmale des
§ 20 StGB belegt. Die Annahme erheblich verminderter
Steuerungsfähigkeit war daher schon aus diesem Grunde
rechtsfehlerhaft (zur Notwendigkeit der Zuordnung geistig-seelischer
Beeinträchtigungen des Täters zu den biologischen
Merkmalen des § 20 StGB vgl. BGH NStZ 1998, 296, 297; 1999,
128, 129; Senat, Urt. vom 13. März 2003 - 3 StR 434/02).
Tolksdorf Miebach Winkler Becker Richter am Bundesgerichtshof
Hubert ist im Urlaub und an der Unterzeichnung gehindert.
Tolksdorf |