BGH,
Urt. v. 6.4.2006 - 1 StR 78/06
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 78/06
vom 6.4.2006
in der Strafsache
gegen
BGHSt: ja
BGHR: ja Nr. 1 bis 4
Veröffentlichung: ja
_____________________________
StGB § 66b Abs. 1
Ein Verbrechen gegen die körperliche Unversehrtheit i.S.d.
§ 66b Abs. 1 StGB liegt nur vor, wenn der Tatbestand im
Abschnitt "Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit"
des Besonderen Teils des StGB enthalten ist. Für die weiter in
§ 66b Abs. 1 StGB genannten Verbrechen gegen - das Leben - die
persönliche Freiheit - die sexuelle Selbstbestimmung gilt dies
entsprechend.
BGH, Urteil vom 6.04.2006 - 1 StR 78/06 - LG München II
- 2 -
wegen schwerer Brandstiftung u.a. hier: nachträgliche
Anordnung der Sicherungsverwahrung
- 3 -
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
6.04.2006, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Nack und die Richter am Bundesgerichtshof Dr. Wahl,
Dr. Kolz, die Richterin am Bundesgerichtshof Elf, der Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Graf, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwältin als Verteidigerin,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 4 -
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts
München II vom 20.12.2005 wird verworfen. Die Kosten des
Rechtsmittels und die dem Betroffenen dadurch entstandenen notwendigen
Auslagen trägt die Staatskasse. Von Rechts wegen
Gründe: 1. Der Betroffene hatte im Jahre 2001 das von ihm in
einem Mehrfamilienhaus gemietete Apartment in Brand gesteckt; der Rauch
hatte bei einem Hausbewohner zu einer Rauchvergiftung, bei einem
anderen zu einer Augenentzündung geführt. 1 Der
Betroffene war deshalb wegen schwerer Brandstiftung in Tateinheit mit
vorsätzlicher Körperverletzung in zwei
Fällen (§§ 306a Abs. 2, 223, 52 StGB)
rechtskräftig zu Freiheitsstrafe verurteilt worden. 2 Nunmehr
hat die Strafkammer den Antrag abgelehnt, gegen den Betroffenen
gemäß § 66b StGB nachträglich
Sicherungsverwahrung anzuordnen. Gestützt ist dies (unter
anderem) darauf, dass keine Verurteilung wegen einer in § 66b
Abs. 1 StGB genannten Straftat vorliege. 3
- 5 -
2. Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft. Sie
trägt vor, § 306a Abs. 2 StGB sei ein Verbrechen, das
sich gegen Leib und Leben richte (so auch Tröndle/Fischer StGB
53. Aufl. § 306a Rdn. 1) und somit ein Verbrechen gegen die
körperliche Unversehrtheit im Sinne von § 66b Abs. 1
StGB. 4 3. Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Zwar ist §
306a Abs. 2 StGB ein (auch) gegen Leib und Leben gerichtetes
Verbrechen. Gegen die körperliche Unversehrtheit gerichtete
Verbrechen i. S. d. § 66b Abs. 1 StGB sind jedoch nur solche,
die im 17. Abschnitt des Besonderen Teils des StGB -
„Straftaten gegen die körperliche
Unversehrtheit“ - aufgeführt sind (so im Ergebnis
auch Tröndle/Fischer aaO § 66b Rdn. 9). §
306a StGB ist demgegenüber Teil des 28. Abschnitts des
Besonderen Teils des StGB - „Gemeingefährliche
Straftaten“ -. § 223 StGB, der hier zugleich
erfüllt ist, ist zwar ein Delikt gegen die
körperliche Unversehrtheit, aber kein Verbrechen. 5 a) Die
Gesetzesmaterialien zu § 66b StGB ergeben allerdings nicht
deutlich, ob mit der dort erfolgten Nennung von Verbrechen gegen das
Leben, die körperliche Unversehrtheit, die
persönliche Freiheit sowie die sexuelle Selbstbestimmung nur
auf die entsprechenden Abschnitte des Besonderen Teils des StGB (Nrn.
16, 17, 18 und 13) Bezug genommen ist, oder ob das Vorliegen der
genannten formalen Voraussetzungen des § 66b StGB nach anderen
Regeln zu prüfen ist. 6 Der Generalbundesanwalt hat in seinem
Terminsantrag vom 27.02.2006 in diesem Zusammenhang zutreffend
ausgeführt: 7 „Die Materialien des Gesetzgebers sind
hierzu nicht eindeutig. 8
- 6 -
Während der Regierungsentwurf durch eine Verweisung auf alle
in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Straftaten auch noch alle
Verbrechen erfassen wollte, wurde nach einer Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses der Anwendungsbereich auf die vorliegende
Gesetzesfassung beschränkt (Bundestagsdrucksache 15/3346 S. 7)
…. in § 66b Abs. 1 StGB (sollten) die Anlasstaten
präzisiert beziehungsweise enger gefasst werden
(Bundestagsdrucksache 15/3346 S. 15 bzw. S. 16), ohne dass dies
allerdings näher erläutert wird.“ 9 Auch
wenn diese „in letzter Sekunde“ (so Ullenbruch in
MüKomm StGB § 66b Rdn. 60) vorgenommene
Änderung der ursprünglich vorgesehenen
Gesetzesfassung und die hierbei entstandenen Gesetzesmaterialien auf
die aufgezeigte hier entscheidungserhebliche Frage keine eindeutige
Antwort geben, deutet doch die offensichtlich gewollte
Einschränkung der formalen Voraussetzungen einer
nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung darauf hin,
dass nach dem Willen des Gesetzgebers eher wenige Delikte und nicht
möglichst viele Delikte als Grundlage für eine solche
Anordnung in Betracht kommen sollen. Dem entspricht im Übrigen
auch, dass nach dem Willen des Gesetzgebers die Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung auf seltene
Einzelfälle beschränkt sein soll (vgl. BTDrucks.
15/2887 S. 10, 12, 13; BVerfGE 109,190, 236; BGH NStZ 2005, 561, 562).
10 b) Entscheidend für die Annahme, dass die in Rede stehende
Frage nicht rechtsgutbezogen sondern formal nach dem Standort der
Strafbestimmung innerhalb des StGB zu beantworten ist, ist aber
Folgendes: 11 § 66b Abs. 1 StGB nennt neben den Verbrechen
gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die
persönliche Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung als
mögliche Grundlage für die Anordnung
nachträglicher Siche-12
- 7 -
rungsverwahrung auch noch „Verbrechen nach den
§§ 250, 251, auch in Verbindung mit den
§§ 252, 255“. Raub ist in jeder
Erscheinungsform ein Verbrechen, das eine Nötigung
enthält (vgl. nur Tröndle/Fischer aaO § 249
Rdn. 1a) und sich daher - auch - gegen die persönliche
Freiheit richtet (vgl. BGH NJW 1968, 1292, 1293; w. N. b.
Tröndle/Fischer aaO). Bei rechtsgutbezogener Betrachtungsweise
wäre daher Raub in allen Formen, also auch in der Grundform
des § 249 StGB, von den in § 66b StGB genannten
Verbrechen gegen die persönliche Freiheit umfasst. Auf der
Grundlage dieser Annahme wäre es unklar und verwirrend, dass
in § 66b Abs. 1 StGB zusätzlich noch einige, aber
nicht alle Formen des Raubes aufgeführt sind. Diese
Unklarheiten bestehen dagegen bei der aufgezeigten formalen
Betrachtungsweise nicht. Raubdelikte sind in den bisher aufgezeigten
Abschnitten des Besonderen Teils nicht enthalten, sondern im 20.
Abschnitt „Raub und Erpressung“. Die
Überschrift dieses Abschnitts nennt der Gesetzgeber in
§ 66b Abs. 1 StGB nicht, sondern zählt stattdessen
diejenigen der darin enthaltenen Verbrechen auf, die nach seinem Willen
Grundlage für nachträgliche Sicherungsverwahrung sein
können. Bei dieser Betrachtungsweise können
jedenfalls hinsichtlich des Gegenstandes der Anlassverurteilung
Unklarheiten und Zweifel nicht entstehen. 13 c) Erhärtet wird
dieses Ergebnis im Übrigen auch dadurch, dass die Verwendung
von Abschnittsüberschriften im Gesetz dem Gesetzgeber auch
sonst nicht fremd ist. Lediglich beispielhaft verweist der Senat
insoweit auf § 98a Abs.1 Satz 1 Nr. 3 und 4 StPO. Die in
§ 98a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO genannten
gemeingefährlichen Straftaten sind solche des mit der
entsprechenden Ü-berschrift versehenen 28. Abschnitts
(früher: 27. Abschnitt, vgl. hierzu Tröndle/Fischer
aaO vor § 298 Rdn.1) des Besonderen Teils des StGB. Soweit in
§ 14
- 8 -
98a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StPO auf Straftaten „gegen Leib oder
Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die persönliche
Freiheit“ Bezug genommen ist, handelt es sich um einen
Verweis auf die entsprechenden Abschnitte 13 sowie 16 bis 18 des
Besonderen Teils des StGB. Dies ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien
(vgl. BTDrucks. 12/2720, S. 38, 40, wo der 27. Abschnitt jeweils
ausdrücklich erwähnt ist) und wird auch in der
Fachliteratur so verstanden (vgl. etwa Hilger, NStZ 1992, 457, 459 f.
<dort Fußn. 51>; Nack in KK 5. Aufl. §
98a Rdn. 13; G. Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO 25.
Aufl. § 98a Rdn. 19, 20; Lemke in HK StPO 3. Aufl. §
98a Rdn. 5; Jäger in KMR StPO 41. Lfg. § 98a Rdn. 14;
Bäumler in Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des
Polizeirechts 3. Aufl. Kap. J Rdn. 271). Sinn dieses Straftatenkatalogs
ist es nicht, die Zahl der betroffenen Delikte willkürlich zu
begrenzen, sondern die mit der Anwendung von § 98a StPO
verbundenen schwerwiegenden Eingriffe nur bei gewichtigen und klar
abgrenzbaren Straftaten zuzulassen (G. Schäfer aaO Rdn. 20).
Diese Gesichtspunkte gelten hier, wo es um die sehr schwer wiegende
nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung geht, in
gleicher Weise. 15 Nach alledem ist die Strafkammer hier zu Recht davon
ausgegangen, dass es schon an der entsprechenden Anlassverurteilung
für eine nachträgliche Anordnung von
Sicherungsverwahrung fehlt. 16 4. Da es sich hierbei um eine
Rechtsfrage handelt, die ohne wertende Würdigung der
Persönlichkeit des Betroffenen, seiner kriminellen Karriere
und seines Vollzugsverhaltens zu entscheiden war, ist es im Ergebnis
unschädlich, dass die Strafkammer in der Hauptverhandlung
entgegen § 275a Abs. 4 Satz 2 StPO keine
Sachverständigen gehört hat. Die hierauf bezogene
Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft geht - wie der Senat im
Urteil vom 6.12.2005 - 1 17
- 9 -
StR 441/05 (NStZ-RR 2006, 74, 75) bereits angedeutet hatte, dort aber
noch offen lassen konnte - daher ins Leere (vgl. auch BGH NJW 2006,
852, 853). 5. Auch wenn dies hier nicht gerügt ist, weist der
Senat darauf hin, dass die Strafkammer in der Hauptverhandlung nicht
lediglich mit zwei Berufsrichtern hätte besetzt sein
dürfen. § 76 Abs. 2 GVG, der eine entsprechende
Entscheidung ermöglicht, ist gemäß
§ 74f Abs. 3 GVG in den Fällen des § 66b
StGB nicht anwendbar. 18
Nack Wahl Kolz Elf Graf |