BGH,
Urt. v. 6.12.2007 - 5 StR 392/07
5 StR 392/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
6.12.2007
in der Strafsache
gegen
wegen versuchten Totschlags u. a.
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6.
Dezember 2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter Basdorf,
Richter Dr. Raum,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal,
Richter Prof. Dr. Jäger
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt J.
als Verteidiger,
Rechtsanwalt D.
als Vertreter des Nebenklägers,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des
Landgerichts Berlin vom 27. Februar 2007 mit den zugehörigen
Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
G r ü n d e
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Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen, den
Nebenkläger A. durch Messerstiche lebensgefährlich
verletzt und zu töten versucht zu haben. Die dagegen
gerichtete Revision des Nebenklägers hat mit der
Sachrüge Erfolg.
1. Unter Heranziehung des Grundsatzes in dubio pro reo hat das
Landgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
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Der Nebenkläger fühlte sich - ob zu Recht konnte
nicht geklärt werden - durch Äußerungen der
Töchter des Angeklagten beleidigt. Hierüber kam es zu
Vorhaltungen des Nebenklägers, die in Beleidigungen und
Drohungen gegenüber dem Angeklagten ausarteten.
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Am 8. Juli 2006 traf der Angeklagte beim Einkauf auf den
Nebenkläger. Dieser äußerte sich erneut
verleumderisch gegenüber der Ehefrau und
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den Töchtern des Angeklagten, zog ein Messer mit einer
Klingenlänge von neun Zentimetern und führte gegen
den Hals des Angeklagten eine Stichbewegung aus. Der Angeklagte konnte
sich aber wegdrehen und seine linke Hand hochreißen. Dabei
zog er sich an der linken Handkante eine oberflächliche drei
bis vier Zentimeter lange Schnittwunde zu.
Der Angeklagte ging nach Hause und wusch die Wunde aus. Er erhielt von
seiner Ehefrau den Auftrag, im nahe gelegenen Gemüsegarten
Minze zu schneiden. Auf den Weg dorthin traf der Angeklagte erneut auf
den Nebenkläger, der ihn mit dem Tode bedrohte. Der Angeklagte
forderte den Nebenkläger auf, ihn in Ruhe zu lassen. Er
äußerte, er würde die Polizei holen, und
wies darauf hin, dass er jetzt auch bewaffnet sei. Der Angeklagte zog
ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 20 cm.
Der Nebenkläger kam gleichwohl aggressiv schreiend auf den
Angeklagten zu und führte zunehmend gezielte Stichbewegungen
in Richtung des jetzt zurückweichenden Angeklagten aus. Dieser
versuchte, Stiche des Nebenklägers abzuwehren und traf mit
seinem Messer möglicherweise zweimal in den Oberbauch des
Nebenklägers. Diese Stiche eröffneten zwar die
Bauchhöhle. Der Nebenkläger war hierdurch aber nicht
in seiner Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt.
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Die beiden Männer kreisten - die Messer wie beim Degenkampf
führend - um eine Bank. Möglicherweise
führte der Angeklagte auch erst jetzt die von seinem
Abwehrwillen getragenen Stiche in den Oberbauch des
Nebenklägers.
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Nunmehr griff der Zeuge M. , ein Schulfreund des Sohnes T. des
Angeklagten, der Hunde spazieren führte, ein; er zog den
Angeklagten an dessen Arm aus dem Zweikampf. Der Nebenkläger
setzte dem Angeklagten und M. nach und schrie weiter auf den
Angeklagten ein. T. S. eilte aus der Wohnung herbei und schlug dem
Nebenkläger mit einem Gürtel zunächst von
hinten und danach von vorn gegen dessen Kopf. Der darüber
erboste Nebenkläger wandte sich T. zu, der indes
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flüchtete. Dabei fiel er rücklings auf den Boden. Der
Nebenkläger beugte sich über T. , stach mit seinem
Messer zweimal auf den jungen Mann ein, der dadurch eine
geringfügige Verletzung am Brustkorb und eine blutende
Schnittverletzung am linken Oberarm erlitt.
Der Angeklagte und M. rannten herbei, um T. zu helfen. „M.
und dem Angeklagten gelang es, A. von T. S. wegzudrücken,
wobei der Angeklagte A. einen Stich in das Gesäß
versetzte, um seinen Sohn vor weiteren Stichen zu
schützen.“ Der Nebenkläger,
„nunmehr rasend vor Wut, stach erneut mit seinem Messer in
Richtung des Angeklagten, der sich durch Stichbewegungen mit seinem
eigenen Messer zur Wehr setzte. Hierbei traf er A. ein letztes Mal in
die linke Brusthöhle, wodurch der linke Herzbeutel
eröffnet, das linke Herzrohr und die Lunge verletzt wurden.
Diese lebensbedrohliche Verletzung begann kurz darauf stark, sowohl
nach innen als auch nach außen zu bluten“ (UA S.
8). Der Nebenkläger setzte dem Angeklagten weiter nach.
Schließlich ließ sich der Verletzte auf dem Rasen
nieder, sackte zusammen und verlor das Bewusstsein.
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2. Das Landgericht hat die vom Angeklagten ausgeführten
Messerstiche durchgängig wegen Notwehr, den Messerstich in das
Gesäß durch Nothilfe als gerechtfertigt angesehen.
Dazu hat das Landgericht ausgeführt (UA S. 32 f.):
„Auch unter Berücksichtigung dessen, dass nicht nur
I. S. , sondern auch der Zeuge M. T. S. in dieser Situation zu Hilfe
eilte, blieb dennoch der Stich auf A. erforderlich im Sinne des
§ 32 Abs. 2 StGB, da der Zeuge M. nicht bewaffnet war und es
galt, die unmittelbar bevorstehende Gefahr eines
lebensgefährlichen Angriffs auf T. S. wirksam
auszuschalten.“
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3. Diese Wertung beruht auf einer nicht eindeutigen Tatsachengrundlage,
weil die dahingehende Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft
lückenhaft ist
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(vgl. BGH NJW 2006, 925, 928 m.w.N., insoweit in BGHSt 50, 299 ff.
nicht abgedruckt).
Die Schwurgerichtskammer betrachtet es auf UA S. 7 als festgestellt,
dass es dem Zeugen M. und dem Angeklagten gelungen ist, den
Nebenkläger von T. wegzudrücken, wobei der Angeklagte
dem Nebenkläger einen Stich ins Gesäß
versetzte. Bei dieser Darlegung bleibt offen, ob die Unterbindung eines
weiteren Angriffs des Nebenklägers durch den Einsatz
bloßer Körperkräfte (Wegdrücken)
ermöglicht wurde und inwieweit der Messerstich
hierfür - beim gegebenen Einsatz der
Körperkräfte von zwei Männern -
überhaupt erforderlich gewesen war.
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Hinzu kommt, dass die getroffene Feststellung mit den dargestellten
Beweisgrundlagen nicht in Einklang steht. Der Angeklagte hat sich
dahingehend eingelassen, dass er den Nebenkläger von T.
herunter gedrückt hätte und dass er inzwischen wisse,
dass hieran M. beteiligt gewesen sei. Ob er ein Messer in der Hand
gehabt habe, wisse er nicht mehr. Im Widerspruch hierzu hat der Zeuge
M. den Vorgang wie folgt beschrieben (UA S. 20): „I. S. sei
ihm nachgekommen und er habe den anderen Mann von T.
weggedrückt. Es sei möglich, dass ihm hierbei I. S.
geholfen habe.“ Gerade diese Aussage, die eine alleinige
Beendigung des Angriffs des Nebenklägers durch den Zeugen
nahelegt, hätte näherer Würdigung bedurft,
weil das Landgericht - anders als der Einlassung des Angeklagten - den
Angaben dieses Zeugen insgesamt ohne Einschränkung Glauben
geschenkt hat (UA S. 21).
4. Ein anderes Beweisergebnis hinsichtlich der Voraussetzungen der
Nothilfe hätte weitgehende Auswirkungen auf die rechtliche
Wertung gezeitigt:
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a) Hätte für den Angeklagten objektiv keine
Nothilfelage bestanden, wäre die Rechtfertigung für
den Stich ins Gesäß und ferner
möglicherweise
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auch für den nachfolgenden Herzstich - hier unter dem
Gesichtspunkt einer Vorsatzprovokation (vgl. BGH StraFo 2006, 79, 80
m.w.N.) - entfallen.
b) Bei irriger Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts durch den
Angeklagten wäre der Vorsatz wegen eines Irrtums nach
§ 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog entfallen (vgl. BGHSt 45, 378,
384), indes eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger
Körperverletzung in den Blick zu nehmen gewesen (vgl. BGH
aaO). Hinsichtlich des Herzstichs hätte eine
Einschränkung eines dem Angeklagten zustehenden Notwehrrechts
nach einer Abwägung der Umstände des konkreten
Einzelfalles nach den von BGH NStZ 2002, 425, 426 f.; BGH StraFo 2006
aaO S. 81 (jeweils m.w.N.) dargelegten Maßstäben
erwogen werden müssen.
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c) Bei der Annahme einer (objektiven) Nothilfelage für den
bloßen Einsatz von Körperkräften
hätte der Messereinsatz auch unter den Voraussetzungen des
§ 33 StGB schuldlos bleiben können (vgl. BGHR StGB
§ 33 Furcht 4 und 5), was wiederum die Annahme von Notwehr
hinsichtlich des Herzstichs grundsätzlich nicht gehindert
hätte (vgl. Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl.
§ 32 Rdn. 25 m.w.N.).
5. Die Sache bedarf demnach insgesamt neuer Aufklärung und
Bewertung. Für die neu vorzunehmende Beweiswürdigung
weist der Senat auf Folgendes hin:
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In Erfüllung der Aufklärungspflicht wird es - wie von
der Revision mit der Aufklärungsrüge in der Sache
zutreffend geltend gemacht - naheliegen, sämtliche neutralen
Tatzeugen zu hören und deren Bekundungen zu bewerten.
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Das im Blick auf die Aussage des nicht vorvernommenen Zeugen H. vom
Landgericht bisher angenommene Glaubhaftigkeitsdefizit wegen der
fehlenden Möglichkeit, eine glaubhaftigkeitssteigernde
Konstanz-
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prüfung vornehmen zu können (vgl. BGHSt 45, 164,
172), erscheint bedenklich, weil das Landgericht bei den
übrigen Zeugen eine solche Prüfung nicht erkennbar
vorgenommen hat.
Die bisherige Annahme des Landgerichts, die Glaubhaftigkeit der Aussage
des Nebenklägers begegne Bedenken, weil er die Anzahl und die
Art der Angriffe gegen sich teilweise objektiv
nachgewiesenermaßen unrichtig geschildert habe,
lässt außer Acht, dass der lange Zeit bewusstlos
gewesene schwerstverletzte Nebenkläger auch in seiner
Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen sein kann.
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Schließlich werden die einzelnen Tathandlungen aus einer
Gesamtschau der hierfür maßgeblichen Beweismittel zu
bewerten sein. Die Revision hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen,
dass bisher die T. S. zugefügte Armverletzung in der konkreten
Tatsituation allein von diesem Zeugen bekundet worden und es nicht in
die Betrachtung miteinbezogen worden ist, dass der Tatzeuge M. solches
gerade nicht wahrgenommen hat.
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Die nach dem angefochtenen Urteil plausible tatrichterliche Sichtweise,
rechtswidriges massives Provokationsverhalten des Nebenklägers
in der
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Anfangsphase sei maßgebliche Ursache für die
Eskalation des Geschehens gewesen, ist für sich noch nicht
tragfähig, die Rechtswidrigkeit jeglicher
Verletzungshandlungen des Angeklagten auszuschließen.
Basdorf Raum Brause
Schaal Jäger |