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BGH, Urteil vom 6. Juli 2004 - 4 StR 85/03


Entscheidungstext  
 
BGH, Urt. v. 6.7.2004 - 4 StR 85/03
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
StPO §§ 353, 354
Zur Befugnis, über Teile einer Revision ausnahmsweise vorab zu entscheiden,
wenn dies wegen des Beschleunigungsgrundsatzes geboten ist.
BGH, Urteil vom 6. Juli 2004 - 4 StR 85/03 - LG Essen -

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 85/03
vom
6. Juli 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Betruges u.a.
- 2 -
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 6. Juli 2004,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Athing,
Richterin am Bundesgerichtshof
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des
Landgerichts Essen vom 10. Oktober 2002 wird verworfen,
soweit sie sich gegen den Schuldspruch und den
Strafausspruch richtet.
2. Die Entscheidung über die Revision des Angeklagten
gegen die in dem vorbezeichneten Urteil angeordnete
Maßregel sowie über die Kosten des Rechtsmittels bleibt
einer abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betruges in 75 Fällen, versuchten
Betruges und gewerbsmäßiger Hehlerei unter Einbeziehung der Einzelstrafen
aus einer rechtskräftigen Vorverurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von vier Jahren verurteilt, ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein
eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf
von zwei Jahren keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Gegen dieses Urteil
wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen
und materiellen Rechts rügt.
Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, soweit es sich gegen den Schuldspruch
und den Strafausspruch richtet; im übrigen bleibt die Entscheidung über
die Revision des Angeklagten einer abschließenden Entscheidung des Senats
vorbehalten.
- 4 -
1. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 26. März
2003 im einzelnen ausgeführt hat, ist die Revision des Angeklagten zum
Schuldspruch und Strafausspruch unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2
StPO; zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierauf Bezug genommen.
Die vom Verteidiger in der Revisionshauptverhandlung geltend gemachten Widersprüche
zwischen den Urteilsfeststellungen und den unter Beweis gestellten
Tatsachen (Verfahrensrügen II und III der Revisionsbegründung) bestehen
nicht.
2. Nach Auffassung des Senats kann die Maßregelanordnung jedoch
nicht bestehen bleiben, weil entgegen der Meinung des Landgerichts allein die
Benutzung eines Kraftfahrzeugs zur Begehung der Betrugstaten die charakterliche
Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen noch
nicht belegt. Der Senat ist vielmehr - anders als es in der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs zum Teil vertreten wird - der Ansicht, daß sich die (charakterliche)
Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur dann aus der Tat
ergibt (§ 69 Abs. 1 Satz 1 StGB), wenn aus dieser konkrete Anhaltspunkte dafür
zu erkennen sind, daß der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs
seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen. Zwischen Tat und
Verkehrssicherheit muß somit ein "spezifischer Zusammenhang" bestehen.
Dazu verhält sich das angefochtene Urteil jedoch nicht.
Mit Beschluß vom 16. September 2003 (= NStZ 2004, 86) hat der Senat
bei den anderen Strafsenaten des Bundesgerichtshofs gemäß § 132 GVG angefragt,
ob an entgegenstehender Rechtsprechung zu dem oben aufgestellten
Rechtssatz festgehalten wird. Das Anfrageverfahren hat sich bis zum Juni 2004
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hingezogen; die Stellungnahme des 1. Strafsenats vom 13. Mai 2004 ist erst
am 16. Juni 2004 beim Senat eingegangen.
Während der 3. und der 5. Strafsenat dem in dem Anfragebeschluß formulierten
Rechtssatz (NStZ 2004, 86) zugestimmt bzw. nicht widersprochen
haben, hält der 2. Strafsenat eine Befassung des Großen Senats für Strafsachen
des Bundesgerichtshofs mit den aufgeworfenen Rechtsfragen für "wünschenswert".
In seinem Urteil vom 26. September 2003 - 2 StR 161/03 -
(= NStZ 2004, 144) hat er allerdings die gleiche Rechtsauffassung wie der
erkennende Senat vertreten (vgl. hierzu Herzog StV 2004, 151, 152; Sowada
NStZ 2004, 169, 170). Da der 1. Strafsenat entgegenstehende Rechtsprechung
nicht aufgeben will, muß - unabhängig von der Stellungnahme des 2. Strafsenats
- eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen herbeigeführt
werden. Wann diese ergehen wird, ist nicht absehbar.
3. Im Hinblick darauf, daß deshalb über die Begründetheit der Revision,
soweit sie die Maßregelanordnung betrifft, voraussichtlich in absehbarer Zeit
nicht entschieden werden kann, hält der Senat eine Entscheidung über das
Rechtsmittel zum bereits "entscheidungsreifen" Teil, nämlich dem Schuldspruch
und dem Strafausspruch des angefochtenen Urteils, für zulässig und
geboten.
a) Allerdings kennt die Strafprozeßordnung - anders als andere Verfahrensordnungen
(vgl. etwa die §§ 301, 303, 304 ZPO) - grundsätzlich keine Teiloder
Zwischenurteile, durch die einzelne, denselben Prozeßgegenstand betreffende
Fragen vorab entschieden oder einzelne Rechtsfolgen gesondert abgeurteilt
werden (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 260 Rdn. 14
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ff.). Regelmäßig muß im Strafverfahren eine einheitliche, abschließende Entscheidung
ergehen, durch die der Prozeßstoff erschöpfend erledigt wird. Dem
strafprozessualen Rechtsmittelrecht ist allerdings eine Teilerledigung nicht völlig
fremd (vgl. Grünwald, Die Teilrechtskraft im Strafverfahren 1964 S. 9 ff.).
Eine Teilerledigung, die zur Herbeiführung von Teilrechtskraft führt, ist jedoch
nur zulässig, wenn der rechtskräftige ebenso wie der nichtrechtskräftige Urteilsteil
von dem übrigen Urteilsinhalt losgelöst, selbständig geprüft und rechtlich
beurteilt werden kann (vgl. Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl.
§ 353 Rdn. 5). Das ist im Hinblick auf das angefochtene Urteil der Fall; denn
der Schuldspruch und der Strafausspruch lassen sich unabhängig von der
Maßregelanordnung und diese läßt sich unabhängig vom Schuldspruch und
von der Strafzumessung beurteilen (vgl. hierzu BGHR StGB § 69 Abs. 1 Entziehung
6, 7). Wäre der Senat nicht gehalten gewesen, das Anfrageverfahren
gemäß § 132 GVG durchzuführen, so hätte er die Revision zum Schuldspruch
und zum Strafausspruch verworfen und hinsichtlich der Maßregelanordnung
das Urteil aufgehoben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung zurückverwiesen (vgl. den Anfragebeschluß Ziff. IV 2 a = NStZ
2004, 88 f. [weitere Aufklärung ist erforderlich]).
b) Der Senat verkennt nicht, daß eine Teilentscheidung, wie er sie hier
vornimmt, nur ausnahmsweise zulässig sein kann; denn auch wenn durch die
Revisionsentscheidung die Teilrechtskraft eines angefochtenen Urteils herbeigeführt
werden kann, so entscheidet doch das Revisionsgericht - wie der Tatrichter
- regelmäßig durch eine einheitliche Entscheidung (§§ 353, 354 StPO).
aa) Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat allerdings eine “vertikale“,
sich auf selbständige Taten eines vollumfänglich angefochtenen einheit-
7 -
lichen Urteils beziehende Teilentscheidung im Revisionsverfahren für zulässig
erachtet, um “eine erhebliche, unvorhersehbar lange Verzögerung“ bei Durchführung
des Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften (Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag) für den entscheidungsreifen
Teil des angefochtenen Urteils zu vermeiden (Beschluß vom 5. April 2000 -
5 StR 226/99 = wistra 2000, 219, 226 f.). Er hat dies damit begründet, daß zwar
die Aufspaltung des bisher einheitlichen Verfahrens zu einer erhöhten zeitlichen
Beanspruchung der Gerichte und der Beteiligten führen könne, verfahrensökonomische
Gesichtspunkte eine erhebliche, unvorhersehbar lange Verzögerung
des Prozesses hinsichtlich der übrigen Verfahrensteile aber nicht
rechtfertigen könnten. Dies gelte umso mehr, als das Schwergewicht der Taten,
wegen derer der Angeklagte verurteilt worden sei, von dem Vorabentscheidungsverfahren
nicht betroffen sei. Insbesondere gebiete die sich aus Art. 6
Abs. 1 Satz 1 MRK ergebende Pflicht zur Beschleunigung des Verfahrens die
vorgenommene Abtrennung der Verfahrensteile, die von der im Vorabentscheidungsverfahren
zu klärenden Rechtsfrage betroffen seien, von den Verfahrensteilen,
die bereits entscheidungsreif seien. Über den entscheidungsreifen
Teil hat der 5. Strafsenat dann gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO entschieden.
bb) Die vom 5. Strafsenat genannten Gründe lassen nach Auffassung
des Senats auch eine “horizontale“, d.h. denselben Prozeßgegenstand betreffende
Teilentscheidung des Revisionsgerichts jedenfalls dann zu, wenn - wie
hier - schwerwiegende Interessen des Revisionsführers ein Abweichen von der
gesetzlichen Regel gebieten: Der Angeklagte befindet sich in Haft. Das angefochtene
Urteil wurde am 10. Oktober 2002 - also vor einem Jahr und neun
Monaten - verkündet; das Verfahren ist seit dem 28. März 2003 beim Bundesgerichtshof
anhängig. Durch das Anfrageverfahren gemäß § 132 GVG - auf
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dessen zeitlichen Ablauf der Senat nur beschränkten Einfluß hat - hat sich die
Entscheidung über die Revision des Angeklagten schon jetzt um mehr als ein
Jahr verzögert. Diese Verzögerung kann - etwa bei der Frage von Vollzugserleichterungen
(§§ 10 ff. StVollzG) oder der Strafaussetzung (§ 57 StGB) - erhebliche
Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen. Zwar liegt keine prozeßordnungswidrige,
rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vor, wenn im
Rahmen des Revisionsverfahrens ein zeitaufwendiges Anfrage- und Vorlageverfahren
nach § 132 GVG durchgeführt werden muß (vgl. hierzu BGH NStZ
2001, 106 f.); im Hinblick auf das verfassungsrechtliche (Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 20 Abs. 3 GG) und in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK ausdrücklich normierte Gebot
angemessener Beschleunigung des Strafverfahrens (vgl. BVerfGE 63, 45,
69; BVerfG NStZ 2004, 335 ff. m. Anm. Foth; BVerfG, Beschluß vom 5. Februar
2003 - 2 BvR 29/03; BGHR StGB § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13, 17
m.w.N.) hält es der Senat jedoch für nicht vertretbar, das Verfahren, obwohl es
zum - für den Angeklagten im Vordergrund seines Rechtsmittels stehenden -
Schuldspruch und Strafausspruch entscheidungsreif ist, bis zum Abschluß des
Vorlageverfahrens insgesamt nicht weiter zu betreiben. Er entscheidet daher
über den Schuldspruch und den Strafausspruch vorab und wird eine Entscheidung
über die Maßregelanordnung treffen, sobald das Vorlageverfahren abgeschlossen
ist.
Tepperwien Maatz Kuckein
Athing Sost-Scheible


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